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Kommission für bayerische Landesgeschichte

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Roger Marcel Mayou (Hg.)

Im Gefängnis. Eine gemeinsame Ausstellung von Musée Genève, Musée des Confluences, Deutsches Hygiene-Museum Dresden

Dresden 2019, DHMD, 136 S. m. Abb., ISBN 978-3-86043-063-7


Rezensiert von Hubert Kolling
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 29.09.2022

Das Interesse am Strafvollzug, genauer gesagt am Gefängnis, „dieser düsteren Region im Justizapparat“, wie es der französische Philosoph, Historiker und Soziologe Michel Foucault (1926–1984) in seiner bedeutenden Schrift „Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses“ (französisch: Surveiller et punir. La naissance de la prison. Paris 1975. Übersetzt von Walter Seitter ins Deutsche, Frankfurt am Main 1977) formulierte, hält sich in weiten Bevölkerungskreisen stark in Grenzen. Umso erstaunlicher ist es daher, dass sich dennoch jüngst gleich drei bedeutende Museen – das Internationale Rotkreuz- und Rothalbmondmuseum (MICR) in Genf (www.redcrossmuseum.ch/de), das Musée des Confluences (MDC) in Lyon (www.museedesconfluences.fr) und das Deutsche Hygiene-Museum (DHMD) in Dresden (https://www.dhmd.de) – gemeinsam des Themas annahmen. Die so in einem trinationalen Kooperationsprojekt entstandene und von den genannten Einrichtungen nacheinander im Zeitraum vom 5. Februar 2019 bis 2. Januar 2022 gezeigte Ausstellung „Im Gefängnis“ (https://www.dhmd.de/ausstellungen/rueckblick/im-gefaengnis) eröffnete den Besucher*innen an Hand von Alltagsgegenständen, historischen Zeugnissen, Fotografien, audiovisuellen Medien und Kunst, die der Gefängniswelt selbst entstammten, einen aussagekräftigen und unkonventionellen Blick in Haftanstalten und den Gefängnisalltag in verschiedenen europäischen Ländern und den USA. Neben einem geschichtlichen Blick auf die Institution Gefängnis stand dabei vor allem der Haftalltag der Strafgefangenen mit seinen Entbehrungen im Mittelpunkt: Einsperrung, Haftbedingungen, Ausgrenzung, aber auch Wiedereingliederung und restaurative Justiz.

Bereits der Titel der Ausstellung ist bemerkenswert, weist die gewählte Präposition „im“ (Gefängnis) doch bereits darauf hin, dass es hier weniger um Gebäude und deren geschichtliche Entwicklung geht, als vielmehr um Menschen und deren Haftbedingungen. Dementsprechend präsentierte sich die Ausstellung, deren Gestaltung in Händen des renommierten Büros Holzer Kobler Architekturen in Zürich/Berlin (https://holzerkobler.com/de) lag, innerhalb der einzelnen Museen in übergroßen, aus orangenen Gitterstäben gebauten Gefängniszellen, die zum genauen Betrachten der gezeigten Exponate betreten werden mussten. Der bei den Besucher*innen der Ausstellungsräume hervorgerufene Eindruck, ein Gefängnis zu betreten, wurde jedoch durch die ungewöhnliche Farbgestaltung sogleich wieder aufgehoben. Das leuchtende Orange der Gitter und die hellgrüne Wandfarbe verdeutlichten, dass es sich nicht um eine reale Gefängnissituation handelt, als vielmehr um eine künstlich geschaffene, museale Welt.

Die szenografische Gestaltung der ungewöhnlichen Ausstellung findet sich – mit den ins Auge fallenden hellgrünen Vorder- und Hinterdeckeln, der orangefarbenen Titel-Inschrift („IM GEFÄNGNIS“), den drei orangefarbenen Seiten am Anfang und Ende sowie der sichtbaren Fadenheftung am Buchrücken, die ebenfalls an Gefängniszellen erinnert – auch in der Gestaltung des dazugehörigen Begleitbandes wieder. Hélène Lafont-Couturier, Direktorin des MDC, Roger Mayou, Direktor des MICR, und Klaus Vogel, Direktor des DHMD, haben zu der Veröffentlichung ein gemeinsames Vorwort verfasst. Darin weisen sie darauf hin, dass die Fragen und Debatten der letzten Jahrhunderte zum Thema Strafen auch heute noch aktuell sind. Da sich die Diskussion über das Bestrafen nach wie vor nicht auf die Institution Gefängnis beschränken könne, würden sie das Publikum am Beginn der Ausstellung mit der Aussage konfrontieren: „Wir sind es, die strafen“. Zur Bedeutung und Intention der Ausstellung halten sie sodann wörtlich fest: „Uns erschien es wesentlich, das Thema Gefängnis in unseren Museen zugleich als Gegenstand einer langen Geschichte und als zeitgenössische Fragestellung zu begreifen. Es handelt sich um ein vielschichtiges Gebiet, das traditionelle Vorstellungen und Methoden von Inhaftierung, Haftbedingungen und Ausgrenzung ebenso umfasst wie ganz aktuelle Überlegungen zur Resozialisierung oder zu alternativen Formen des Strafens, wie etwa die ‚Restorative Justice‘ mit ihrer Politik der Widergutmachung darstellt. Um dem gerecht zu werden, musste die Problematik unter historischen, philosophischen, anthropologischen und soziologischen Gesichtspunkten betrachtet werden. Darüber hinaus wollten wir aber auch eine künstlerische Dimension einbeziehen: Denn Literatur und Kunst vermitteln besonders eindringlich Gefühle wie Leiden und Hoffen, die untrennbar mit der Haft verknüpft sind.“ (5)

In ihrer Einführung „Drei Orte – drei Museen – drei Sichtweisen auf ein gemeinsames Thema“ machen die Kuratorinnen der Ausstellung – Isabel Dzierson vom DHMD, Marianne Rigaud-Roy vom MDC und Sandra Sunier vom MICR – zunächst auf ihr gemeinsames Ziel aufmerksam, „die aktuellen Problemlagen von Haft mithilfe der Geschichte des Gefängnisses und seiner gegenwärtigen Realität darzustellen“ (7). Da gegenwärtig vor allem durch Freiheitsentzug gestraft wird, habe sich die Frage gestellt, welche sozialen Folgen die Haft heute haben kann, wie sie sich zwischenmenschlich auswirkt auf Gefangene wie auf das Gefängnispersonal. Vor diesem Hintergrund möchten sie die Besucher*innen der Ausstellung insbesondere „dazu motivieren, sich mit ihrer Rolle als Bürger*innen bei der Festlegung und Anwendung von Strafjustiz auseinanderzusetzen“ (8). Von daher werde der heutige Alltag von Inhaftierung und dessen Folgen für die Menschen analysierend veranschaulicht. Das Publikum solle also nicht in eine realitätsferne, sprich nachempfundene Gefängniswelt eintauchen, als vielmehr zur Auseinandersetzung mit dem Thema eingeladen werden.

Angesichts der großen Diversität der Strafrechtspraxis entschlossen sich die Kuratorinnen dazu, auf einen Vergleich zwischen ihren drei Ländern zu verzichten. Wichtiger war ihnen, „das Gefängnis als gesellschaftliches Phänomen in den Blick“ (8) zu nehmen. Dabei analysiere die Ausstellung kritisch die gesellschaftlichen und individuellen Funktionsweisen der Institution Gefängnis und ordne den Freiheitsentzug als heute gängige Strafform in einen größeren gesellschaftlichen Zusammenhang ein. Zugleich hinterfrage sie pointiert die Alternativlosigkeit der Gefängnisstrafe und blicke dabei auf abweichende Formen des Strafens, wie andere Gemeinschaften sie praktizieren. Zum Ziel der Ausstellung halten die Autorinnen sodann wörtlich fest: „Das Thema Gefängnis ist in der öffentlichen Wahrnehmung stark emotional besetzt und ruft bei vielen Menschen Faszination, aber auch Irritationen hervor. Deshalb hat es sich die Ausstellung zur Aufgabe gemacht, allgemein in der Öffentlichkeit verbreitete Vorstellungen zu entmystifizieren. Anhand prägnanter Fallbeispiele nähert sie sich dem Alltag im Gefängnis und richtet den Blick dabei auf eine Vielfalt an Perspektiven: die der Gefangenen oder ehemals Inhaftierten, die der Mitarbeiter*innen oder auch außenstehender Expert*innen.“ (9)

Entsprechend der Ausstellung gliedert sich der ansprechend gestaltete Begleitband in die folgenden sechs Kapitel: „Warum strafen?“ (13–19), „Geburt des Gefängnisses“ (21–25), „Freiheitsentzug“ (27–49), „Gefängnisalltag“ (51–105), „Regelverletzungen“ (107–129) und „Anders strafen?“ (131–134). Im Unterschied zu vielen anderen „Ausstellungskatalogen“ wurde im vorliegenden Fall auf die Aufnahme wissenschaftlicher Abhandlungen zu einzelnen Themen verzichtet. Stattdessen finden sich einleitend zu jedem Kapitel ein paar knapp gehaltene Informationen, an die sich auf den danach folgenden Seiten die jeweiligen Ausstellungsobjekte – zumeist in ganzseitigen Farbabbildungen – mit kurzen Beschreibungen anschließen. Diese Art der Kataloggestaltung dürfte ein breites, vor allem auch jüngeres Publikum ansprechen. Und das ist gut so, geht es der Ausstellung doch nicht um den Anstoß zum wissenschaftlichen Diskurs bei einer akademischen Minderheit, als vielmehr darum, dass sich möglichst viele Menschen mit dem Thema auseinandersetzen. In jedem Fall wird die Lektüre ihre Leserschaft dazu anregen, über wichtige Fragen im Kontext von Verbrechen und Strafen nachzudenken, mit denen unsere heutigen Gesellschaften konfrontiert sind. Von daher ist dem Begleitband auch und gerade über die Ausstellung hinaus eine weite Verbreitung zu wünschen. In demokratischen Gesellschaften liegt es schließlich in der Verantwortung ihrer Bürger*innen darüber zu entscheiden, welche Gesetze erlassen werden, welche Emotionen in der Diskussion über das Verhältnis von Recht und Gewalt ins Spiel gebracht werden und welche (alternativen) Formen des Strafens angewandt werden. Wie andere Bereiche unseres gesellschaftlichen Lebens wird sich auch die Strafvollzugspraxis beziehungsweise die Situation „im Gefängnis“ im Laufe der Zeit weiterentwickeln. Unterdessen trifft nach wie vor noch zu, was einst – etwa sinngemäß – der russische Erzähler und Romanautor Leo Tolstoi (1828–1910) sagte: „Zeige mir deine Gefängnisse, und ich kenne die Kultur deines Landes.“