Aktuelle Rezensionen
Mirko Breitenstein/Gert Melville (Hg.)
Die Wirkmacht klösterlichen Lebens. Modelle – Ordnungen – Kompetenzen – Konzepte
(Klöster als Innovationslabore 6), Regensburg 2020, Schnell & Steiner, 312 S. m. Abb., ISNB 978-3-7954-3422-9
Rezensiert von Wolfgang Brückner
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 29.09.2022
Der vorliegende Sammelband gehört in die wissenschaftliche Publikationsreihe eines gemeinsamen Forschungsprogramms mehrerer deutscher Akademien, getragen von Historikern, die einen „monastic turn“ der Gesellschaftsgeschichte erörtern. Es handelt sich zumeist um Mediaevisten, die für ihre Epoche Klöster „Innovationslabore“ geschichtlichen Wandels nennen. Der Rezensent darf als frühneuzeitlich orientierter historischer Kulturwissenschaftler vorab davon berichten, dass wir in Würzburg in Zusammenarbeit mit den Kulturgeografen und Kirchenhistorikern schon vor Jahrzehnten für Franken auf diesem Felde aktiv waren mit Fragen nach dem Fortgang derartiger Entwicklungen bis zum heutigen Tage. Am Ende stand, in der einstigen Damenzisterze, das immer noch existierende „Museum Vom Kloster zum Dorf in der Kirche Frauental“ (beim ebenfalls evangelischen Creglingen). Die Creglinger Entwicklung von einem Kultort zur Kunstwallfahrt gehört zu den die „hohe“ Kultur- und Geistesgeschichte interessierenden Phänomenen wie Schulpforta oder Maulbronn.
Was also interessiert die Mittelalterforscher des „monastic turns“? Es geht ihnen diesmal um das Hochmittelalter als Zeitenwende auf unser modernes Europa hin. Die Kapitel sind überschrieben: 1. Modelle der Klöster (das schlechte Gewissen als Auslöser für Reformen, Frauen im „Wissens- und Bildungsraum“, urkirchliche Ideale); 2. Institutionelle Ordnungen (Autorität der Regeln, formale Verfahren, neue Wirtschaftsformen); 3. Mediale Kompetenzen („Theorie für die Praxis“ auch der säkularen Gesellschaft, Aufstieg der Universitäten, deutschsprachige Laienseelsorge, exemplarisches Erzählen); 4. Konzepte (mönchische Existenz außerhalb oder innerhalb von Gesellschaft, Individuum in klösterlicher Gemeinschaft, Reformmönchtum und Islam).
Am Ende fasst der leider inzwischen verstorbene Stefan Weinfurter (Universität Mainz und Heidelberger Akademie) die Ergebnisse in einem glänzenden Essay zusammen (299 ff.). Seine These: Klöster wirken in die Welt. Sie werden Wegbereiter gesellschaftlichen Wandels. Sie schaffen für Teilbezirke der säkularen Welt vorbildhafte Veränderungen, weil sie einem „immerwährenden Optimierungsimpuls“ verhaftet sind durch ihr Streben nach Perfektion der vita apostolica als vita communis. „Heilswert [für die eigene Seele] und Funktionswert [für die Mitmenschen] formen die Lebensweise“ in der geistlichen Gemeinschaft. Seit dem 11. Jahrhundert setzte sich unter dem Mönchspapst (Hildebrand) Gregor VII. das Programm einer Urchristengemeinschaft durch. Für die damals forcierte Gründung religiöser Gemeinschaften galt die dann auch in der Gesamtgesellschaft wirksam werdende soziale Struktur aus drei Gruppen zu monastischen Ständen: Männern, Frauen und Konversen, als die „Kämpfenden, die Arbeitenden und die Betenden“. Wir sind heute an die bis in die Barockzeit übliche Menschheitsunterteilung gewöhnt, zu denken in Bellatores (Adel), Oratores (Geistlichkeit und Wissenschaft), Laboratores (Bauern und Handwerker). Man könnte an diesem Punkt auch daran denken, dass die sogenannten Konversen, also die mit Gelübde gebundenen bäuerlichen Mitglieder der Orden, die Funktion der einstigen Sklaven oder einfachen Soldaten in der Antike als dienende Klasse übertragen bekamen, nämlich das zu leisten, was wir heute Logistik nennen, während alphabetisierte Vollmönche und Chornonnen gottgefällige Lebensführung einüben sollten.
Weinfurter handelt insbesondere über die Reformen und entsprechenden consuetudines der Regularkanoniker, d.h. der Stiftsherren an Kathedralen und Eigenkirchen, die sich meist auf den hl. Augustinus beriefen, nun aber durch Norbert von Xanten ordensähnlich als Prämonstratenser in Doppelklöstern für beide Geschlechter organisiert wurden. Das Modell war mit der Vermischung von Mönchtum und Säkularklerus religiös wie politisch eine Erfolgsidee. Weinfurter formuliert als Fazit auf Dauer: „Monachisierung des Klerus“ und „Klerikalisierung der Mönche“ (Priesterpatres). Man sollte meinen, dass solche Erkenntnis erhellend sei für gegenwärtige Problematisierungen der Hierarchie in der katholischen Kirche. Mir fällt dabei sogleich der hl. Franziskus ein, der sich nie weihen ließ und nur „Brüder“ kannte, weil er einen „Orden ohne Haus“ wollte. Damit sind wir schon beim Abstieg jenes älteren Modells in neuerlichen Reformen, nämlich der Mendikanten, der Armutsbewegung der Bettelorden im Spätmittelalter. Weinfurter spricht zuvor einerseits vom „Musterorden der Zisterzienser“ und dessen Landausbau im 12. Jahrhundert (mit denen „wir“ uns ‒ siehe oben ‒ befasst haben), aber er sieht auch den Niedergang im „Übertrumpfungs“-phänomen der „Leistungsansprüche für kirchlich-religiöse Lebensordnungen“.
Im 13. Jahrhundert entstand ein geistlicher und juristischer Verteilungskampf zur Wahrung von Rechten und Gütern, der aus den „dynamischen Größen“ der einzelnen Institutionen resultierte und schließlich zur Existenz der sogenannten Prälatenklöster und deren Territorialbildung führte, die mit Reformation, Aufklärung und Säkularisation meist ein unrühmliches Ende fanden. Die erforschte „Wirkmacht“ reicht nur vom 11. bis ins 13. Jahrhundert. Dafür nennt Weinfurter zwei wichtige Organisationsentwicklungen, die auf Regeln für Verfahrensabläufe zurückgehen. „Die erstmals im späten 11. Jahrhundert durch die Brüder im Kloster vollzogene freie Abtswahl ging der freien Wahl des Stadtregiments oder Bürgermeisters voran. Im Laufe des 12. Jahrhunderts benötigte ein Abt für seine Entscheidungen immer häufiger die Zustimmung seiner Mitbrüder. Das konsensuale Prinzip erfuhr also durch die Gemeinschaftsidee eine kräftige Aufwertung in der gesamten Gesellschaft“. Die „Regelungsmaßnahmen durch Statuten“ können als „Vorboten und Vorbilder öffentlicher Gesetzgebung angesehen werden“. Und noch ein wichtiges Moment brachte die Diskussion um Frauen mit sich. Deren generelle Aufwertung leitete sich einerseits aus der Bibel ab und andererseits aus der Hochachtung adeliger Töchter und deren spirituell-literarischer Produktion in Frauenkonventen des 12. Jahrhunderts. Ich füge hinzu, was uns andere Historikerkreise (Schreiner) gezeigt haben: Maria konnte im Verständnis der Theologen lesen, weil Mutter Anna sie es lehrte, um die Heilige Schrift zu verstehen.
Kulturwissenschaften, welcher Art auch immer, können stets von „den“ akademischen Historikern neue Diskurse lernen und sei es nur den ständigen Wandel allen Geschehens, vor allem aber die angestrengte Mühsal von historischer Forschung, fern des bloß geschwätzigen Beieinanderseins in Seminaren. Der Bielefelder Systemtheoretiker Niklas Luhmann hat 1991 (in einem Gespräch mit Detlef Pollack in der Deutschen Zeitschrift für Philosophie) formuliert: „Ich denke primär historisch, das heißt, ich muß immer zugeben können, daß in älteren Gesellschaften bestimmte Aussagen nicht gelten“. Wir dürfen nun hinzufügen: Auch wenn unsere heutige Begriffswelt eine andere ist, so lassen sich dennoch Entwicklungen in Richtung auf unsere Epochen hin entdecken und es lässt sich verstehen lernen, warum Vieles so ist, wie es ist. Rückprojektionen von uns aus in die Vergangenheit gelten aus methodischen Gründen bekanntlich nicht, auch wenn sie noch so nahe liegen sollten. Wer von Kultur spricht, befindet sich in historischem Geschehen.