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Lisa Schöne

„Geburt und Taufe“. Neue Fragen an alte Antworten. Eine Neuperspektivierung der Gewährsleuteberichte aus dem Archiv für westfälische Volkskunde (1957–1980)

(Münsteraner Schriften zur Volkskunde/Europäischen Ethnologie 23), Münster 2021, Waxmann, 156 S., ISBN 978-3-8309-4383-9


Rezensiert von Judith Gloria Pörschke
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 29.09.2022

Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges war die Volkskunde in der Bundesrepublik Deutschland vor allem durch Regionalismus geprägt. Das Sammeln von Informationen über ländliche Lebensweisen, Bräuche und Rituale lag im Fokus. So begann auch die 1928 gegründete „Volkskundliche Kommission für Westfalen“ (heute „Kommission Alltagskulturforschung für Westfalen – Landschaftsverband Westfalen-Lippe“) 1951 mit dem Aufbau des „Archivs für westfälische Volkskunde“ (heute „Archiv für Alltagskultur“). Das neugegründete Archiv hatte das Ziel, Auskünfte vor allem über das ländliche Leben um 1900 zu erhalten und zu archivieren. Es wurden 46 Fragelisten zu unterschiedlichen, fest eingegrenzten Lebensbereichen erstellt. Die Kommission sendete diese Fragelisten an ausgewählte Gewährsleute, die in der Regel zwischen 60 und 80 Jahren alt waren. Bis circa 1980 erhielt sie insgesamt etwa 6 600 Antwortmanuskripte zurück.

Lisa Schöne fokussiert in ihrem Buch die Frageliste 29 „Geburt und Taufe“. Im Zentrum der Untersuchung stehen 86 Antwortmanuskripte, die das Archiv zwischen 1957 und 1980 erreichten. Ziel von Schönes Publikation ist es, „zu überprüfen, inwiefern die Aussagen der Gewährspersonen als Quellen der Alltagsgeschichte von Geburt und Taufe in der Bundesrepublik Deutschland dienen können“ (9). Sie analysiert die Antwortbögen als zeitgenössische Quellen und stellt darin enthaltene Vergleiche zwischen dem „Heute“ der Bundesrepublik und dem „Früher“ um 1900 heraus. Die Antwortbögen zu Geburt und Taufe werden konsequent als „Dokumente der Wahrnehmung des historischen Wandels der dörflichen Lebenswelt“ (21) gelesen. Denn sie geben Auskünfte über geäußerte soziale und ökonomische Entwicklungen zwischen 1900 und circa 1980. Bisherige wissenschaftliche Auseinandersetzungen mit Gewährsleuteberichten zu den Themen Geburt und Taufe nahmen deren Entstehungszeit kaum in den Blick.

Die Frageliste 29 „Geburt und Taufe“ gliedert sich in insgesamt 13 Sinnabschnitte. Die Fragen umfassen die Zeitspanne vor der Geburt, übliche Umstände der Geburt selbst, den Umgang mit der Wöchnerin und schließlich auch Rituale und Bräuche rund um die Taufe des Säuglings. Auffallend ist dabei die Fokussierung auf die Mutter als verheiratete, christlich geprägte Frau. Als solche war sie um die Jahrhundertwende Teil der „weibliche[n] Solidargemeinschaft“ (29) eines Dorfes. Das Neugeborene als Mitglied der dörflichen Gemeinschaft bot Anlass für Zusammenkünfte, die soziale Beziehungen hervorhoben und verstärkten. Mittels Frageliste erkundigte man sich unter anderem spezifisch über anlassbezogene Nahrung, Kleidung oder gar Geschenke. Selten implizierten die Fragestellungen direkte Vergleiche zwischen „damals“ und der Gegenwart der Bundesrepublik. Vielmehr erhoffte man sich die Herausstellung typischer Ritualabläufe, die es angesichts der sich konstant wandelnden Welt zu konservieren galt. Die Signalwörter „heute“ oder im Präteritum formulierte Fragen begünstigten jedoch diachron vergleichende Antworten der Gewährsleute.

Den ersten umfassenden Analyseschwerpunkt der Gewährsleuteberichte bildet der Themenkomplex der Geburt. Sie geriet bereits im Laufe des 18. Jahrhunderts unter den Einfluss der „Medikalisierung“ (36) im Sinne Michel Foucaults. Damit verbanden sich spezifische Vorstellungen eines gesundheitsfördernden Verhaltens der Schwangeren, professionelle Geburtenbetreuung und Institutionen der gesundheitlichen Fürsorge. Der weibliche Körper geriet zunehmend in den Blick der Medizin, insbesondere der sich um 1850 etablierenden Gynäkologie.

In den ländlichen Regionen Westfalens fanden Geburten bis circa 1950 größtenteils zu Hause statt. Eine integrale Rolle nahmen dabei geburtsunterstützende Hebammen ein, welche die Schwangeren daheim besuchten und regelmäßig untersuchten. Mit der bildgebenden Diagnostik wandelte sich die Schwangerschaftsbetreuung in den weiteren Dekaden schrittweise. Während die Klinik zunächst nur für schwierige Geburten in Betracht kam, wurde es bis in die 1970er Jahre immer üblicher im Krankenhaus zu gebären. Die vormals zentrale Position der Hebamme als professioneller Geburtenhelferin vor Ort trat zusehends hinter dem männlichen Arzt zurück. In den analysierten Gewährsleuteberichten wurde die Entwicklungstendenz zu Klinikgeburten positiv bewertet, da man sich dadurch eine leichtere Geburt erwartete. Auch Wandlungen hin zu verbesserter Säuglingshygiene fanden in den Antwortmanuskripten Erwähnung.

Doch welche Aussagen trafen die Gewährsleute zur Schwangerschaft selbst? Sie schilderten ihr Bedauern über die abnehmende Geburtenrate auf dem Land. Diese wurde einerseits mit verschlechterten Lebensbedingungen, andererseits mit der Orientierung an städtischen Lebensformen begründet. Uneheliche Kinder als damalige Normabweichung blieben unerwähnt. Die Rolle des Vaters wurde kaum beschrieben, denn die Verantwortung für das noch ungeborene Kind lag vor allem bei der Mutter. Im dörflichen Kontext wurde deren körperliche Arbeit während der Schwangerschaft als nicht schadend betrachtet. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts sah man Risiken für das heranwachsende Kind oft im Bereich des Aberglaubens: So durfte sich die Schwangere etwa nicht „versehen“, das hieß, sich während der Schwangerschaft nicht erschrecken, da dies dem Kind schaden könne. Dieser Aspekt wurde  später in das Medizinische überführt. Nach der Geburt hatte die Wöchnerin in der Sozialstruktur des Dorfes um 1900 einen Sonderstatus, der ihr eine Regenerierung im Haus ermöglichte. Sie erhielt von den verheirateten Frauen des Dorfes regelmäßige Besuche und Unterstützung sowie die Möglichkeit zum Wissens- und Erfahrungsaustausch. Die weiblichen Solidargemeinschaften wandelten sich im Zuge der Hospitalisierungstendenzen.

Den zweiten zentralen Analyseschwerpunkt Schönes bildet die Taufe als Übergangsritual christlicher Prägung. Sie fand um 1900 in den ersten Tagen nach der Geburt oftmals als „Haustaufe“ (93) statt, zu der die Hebamme lud. Die Taufe stellte das Kind mittels festgelegter Liturgie unter den Schutz Gottes und bewahrte es vor negativen magischen Einflüssen. Außerdem erhielt das Neugeborene durch Namensgebung seine soziale Existenz in der Gemeinschaft. Bis in die 1970er Jahre etablierte sich auch im dörflichen Bereich die Kirchentaufe vor der Gemeinde. Diese erfolgte nun später und unterlag zunehmend Familiarisierungs- und Individualisierungstendenzen: Die Taufe fand im weiteren Verlauf der Zeit als außerordentlicher Gottesdienst statt, zu dem die Kleinfamilie und eingeladene Gäste anreisten. Die Gesamtheit der dörflichen Gemeinde geriet dadurch in den Hintergrund und die Taufe zeigte sich zunehmend privatisiert.

In einem abschließenden Kapitel nimmt Schöne expliziten Bezug auf Aspekte des Konsums, die auch im Kontext von Geburt und Taufe deutlich wurden. Besondere Genussmittel markieren seither beide Lebensereignisse. Im Fokus stand „früher“ vor allem die Mutter, welche mit Unterstützung der Nachbarinnen wieder zu Kräften kommen sollte. Nach dem Zweiten Weltkrieg verschob sich die Praxis des Beschenkens auf das Kind, so dass vorrangig Dinge für dessen Ausstattung und Zimmer verschenkt wurden. Die Antwortbögen zeugen davon, dass Taufmahlzeiten und -geschenke durch die Pat*innen immer üppiger und zahlreicher wurden. Das verweist auf ein – nun auch in ländlichen Bereichen – gewandeltes Konsumverhalten. Dieses sahen Gewährsleute kritisch und im Kontrast zu vorherig empfundener „Bescheidenheit“ (121), die einerseits als christliche Tugend empfunden wurde, andererseits aber auch aus Mangel an Möglichkeiten resultierte.

Lisa Schöne pointiert bereits im Untertitel ihres Buches den Anspruch einer „Neuperspektivierung der Gewährsleuteberichte“. Diesen erfüllt sie auf fundierte Weise, indem sie die Antwortmanuskripte zu Geburt und Taufe konsequent auf diachrone Bezüge und Vergleiche hin untersucht. Die Schilderungen des „Früher“ und „Heute“ verschiedener Gewährsleute setzt sie in Bezug und ordnet sie ein in soziale, religiöse sowie ökonomische Kontexte. Den Lesenden werden somit Konstanten und Entwicklungen des dörflichen Lebens am Beispiel Westfalens verdeutlicht und in gesamtgesellschaftliche und kulturelle Zusammenhänge gestellt. Anschaulich präsentiert die Autorin das Ausmaß ruraler Transformationsprozesse, die langfristig zu veränderten Lebenswelten führten. Dabei kommt es teils zu inhaltlichen Repetitionen, insofern die analysierten Einzelaspekte oft in engen Zusammenhängen stehen und Symptom eines ganzheitlichen sozialen Wandels sind.

Schöne legt ihren Schwerpunkt auf den Zeitraum von circa 1900 bis 1980. Im Bewusstsein, dass die beschriebenen Umstände und Familienvorstellungen ohne Einbettung in die Geschichte der bäuerlichen und bürgerlichen Gesellschaft des 18. und 19. Jahrhunderts unvollständig wären, ergänzt sie die Kapitel ihrer Quellenanalyse jeweils um komprimierte kulturhistorische Rückblicke hoher Qualität. So erweitert sie die Perspektive ihrer Darstellungen, die zugleich auch auf Regionen außerhalb Westfalens bezogen werden können. Dass die Gewährsleuteberichte die Zeit des Nationalsozialismus größtenteils aussparten, benennt die Autorin deutlich und schließt diese Lücke teilweise, indem sie Statistiken und aktuelle Forschungsliteratur in Fußnoten darstellt.

Lisa Schöne gelingt es, mit ihrer Publikation den weitreichenden Quellenwert der Gewährsleuteberichte für die historisch ausgerichtete Kulturanthropologie aufzuzeigen. Durch ihre mit Zusatzinformationen angereicherte Analyse der Antwortmanuskripte zur Liste 29 „Geburt und Taufe“ setzt sie beispielhafte Impulse für die wissenschaftliche Nutzung subjektiver Erfahrungs- und Wahrnehmungsberichte als Dokumente diachronen Wandels.