Aktuelle Rezensionen
Cristina Sasse
Die Stadt lesen. Englische „Directories“ als Wissens- und Orientierungsmedien, 1760–1830
(Veröffentlichungen des Deutschen Historischen Instituts London 85), Berlin 2021, De Gruyter Oldenbourg, 427 S. m. Abb., ISBN 978-3-11-071780-8
Rezensiert von Burkhart Lauterbach
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 29.09.2022
Die Autorin, zunächst wissenschaftliche Mitarbeiterin des Historischen Instituts der Universität Gießen, nunmehr Projektleiterin bei einer Consultingfirma, hat als Dissertation eine umfangreiche Studie vorgelegt, in der sie einen im 18. Jahrhundert als relativ neu geltenden Publikationstyp näher erkundet, welcher den Sinn und Zweck verfolgte, Informationen über – im konkreten Fall englische – Städte für ein interessiertes Lesepublikum zur Verfügung zu stellen. Dies geschah mittels der Kombination eines Stadtplans mit überschaubaren historischen und topografischen Beschreibungen, Angaben über gewerbetreibende Einwohner und, nicht zuletzt, Fahrplänen der Postkutschen. Man kategorisierte die neuen Druckschriften als „Directories“, was sich in einem strengen Sinn lediglich auf die verschiedenen Personenverzeichnisse bezieht (und uns an Adress- und Telefonbücher sowie Branchenverzeichnisse erinnert). Es gab mediale Vorläufer und Nachfolger; es wurde inhaltlich-programmatisch modifiziert, gleich ob eher erweitert oder reduziert, was sowohl die jeweiligen Gesamtpublikationen als auch die darin versammelten einzelnen Themensparten betrifft. Das gemeinsame Ziel der Herausgeber beziehungsweise Ersteller der Bände bestand darin, durch diese publizistische Tätigkeit „Menschen miteinander in Verbindung [zu] setzen, ihnen die Orientierung in der Stadt [zu] erleichtern und so den Austausch von Waren, Dienstleistungen und Informationen [zu] ermöglichen“ (2).
Die Autorin hat neunzehn Städte ausgemacht, die sich unterschiedlichen Stadttypen zuordnen lassen und in denen im Untersuchungszeitraum jeweils mindestens drei dieser Adressbücher erschienen sind, was dazu geführt hat, dass sie einen zu untersuchenden Quellenkorpus von 144 Bänden zusammengestellt hat. Die Studie ist so aufgebaut, dass in der Einleitung die allgemeine Thematik der Demokratisierung von Wissen erörtert wird, dies einschließlich der konkreten Zielsetzung sowie Fragestellung des Forschungsprojekts, während ein zweites (Groß-)Kapitel sich mit den potentiellen Funktionen der „Directories“ auseinandersetzt, mit ihrer Geschichte, ihren Inhalten und Strukturen, Herausgebern und Autoren, ihrer Produktion und Finanzierung, ihrer Verbreitung und ihrer Rezeption. Bereits an dieser Stelle wird deutlich, dass es Cristina Sasse nicht nur um die Erörterung der Herstellung der gedruckten Schriften geht, sondern nicht minder, und zwar durchgängig, um Arten und Weisen der Verbreitung, der Distribution, sowie um die einschlägige Rezeption einschließlich, soweit erkennbar, dessen, was wir heutzutage Medienwirkung nennen. Die weiteren Großkapitel problematisieren die Handlungsfelder Information, Orientierung sowie Repräsentation, dies in weitreichender und in die Tiefe gehender Detailliertheit, so dass man nach rund 350 Seiten Lektüre genau weiß, was man in der Frühen Neuzeit unter Wissen verstanden hat, in welcher Weise mit der Stadt umgegangen wurde und wie man dies erfasste und sich aneignete; welche Möglichkeiten der Benennung von Straßen und einzelnen Gebäuden sowie der Nummerierung der letzteren es gab, wie exakte Adressen zustande kamen; schließlich, welche Bilder einer jeweiligen Stadt aufgrund welcher Kriterien, Bewertungsmaßstäbe und weiteren Hilfsmittel konstruiert wurden und zur Verbreitung gelangten. Eine knappe Schlussbetrachtung fasst noch einmal die unterschiedlichen Funktionen der Lektüre der „Directories“-Studie zusammen: Eine Stadt wird veröffentlicht; sie wird geordnet, ökonomisiert und vermarktet; man kann sie richtiggehend „lesen“; und wenn man diese Aufgabe erfüllt hat, lässt sich konstatieren: „Die Stadt mithilfe des directory zu lesen, bedeutet zugleich, die Stadt zu schreiben“ (357), wobei hinzuzufügen ist, dass die Autorin anschaulich vorführt, dass und in welcher Art und Weise sich literarische und künstlerische Werke als zusätzliche Quellen auswerten lassen.
Insgesamt haben wir es mit einer ausgesprochen interessanten und wohl formulierten Arbeit zu tun, die, was für die kulturwissenschaftlichen Disziplinen von besonderem Interesse ist, auch auf Alltagsphänomene eingeht, gleichermaßen in den Bereichen der Produktion, Distribution und Rezeption der Adressbücher wie auch in den Handlungsfeldern der Information, der Orientierung und der Repräsentation. Kritisch anzumerken ist lediglich die bisweilen etwas ahistorisch geratene Verwendung bestimmter Begriffe: Kann man für den untersuchten Zeitraum sinnvollerweise von „Urbanität“ oder gar von „Tourismus“ sprechen, ohne genauere Sinndeutungen mitzuliefern?