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Pia-Marie Hilsberg
Echt selbstgemacht. Authentizität als ästhetische Erfahrung
(Ludwig-Uhland-Institut für Empirische Kulturwissenschaft: Untersuchungen 125), Tübingen 2021, Tübinger Vereinigung für Volkskunde, 184 S. m. Abb., ISBN 978-3-947227-05-1
Rezensiert von Luise Stark
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 29.09.2022
Nach der Welle des Selbermachens seit der Jahrtausendwende haben viele Bundesbürger*innen im Zuge der Pandemie erneut Praktiken des Do-it-yourself entdeckt. Vom Züchten eines Sauerteigs über das Häkeln von Kleidungsstücken bis hin zum Anbau eigener Lebensmittel: Viele bis dato verborgene handwerkliche Talente wurden während des durch die Covid-19 Pandemie bedingten Lockdowns (re-)aktiviert. Pia-Marie Hilsbergs Studie zum Selbermachen, eine Tübinger Dissertation von 2019, steht damit im Kontext der in den letzten zehn Jahren stetigen sozial- und kulturwissenschaftlichen Auseinandersetzungen mit dieser populären Praxis.
Im Rahmen ihrer Feldforschung beteiligte sich Hilsberg regelmäßig an Do-it-yourself-Projekten und entsprechenden Plattformen, um für ihre ethnografische Studie zwei Fallbeispiele herausarbeiten: Während der Gartensaison 2015 bepflanzte sie gemeinsam mit anderen urbanen Gärtner*innen auf einem Parkhausdeck in der Stadtmitte Tübingens ein aus Europaletten gebautes Hochbeet. 2016 beteiligte sie sich an einem Nähtreff, bei dem die Teilnehmenden im monatlichen Rhythmus zum Austausch über individuelle Handarbeitsprojekte zusammenkamen. Die im Zentrum von Hilsbergs Studie stehende Frage, inwiefern „,Echtheit‘ als Erfahrung“ (11) konstitutiv für die Praxis des Selbermachens ist, bestimmt den derzeitigen Do-it-yourself- (Forschungs-)Diskurs insgesamt. Die Perspektiven auf das Selbermachen sind breitgefächert, zum Vergleich sei der von Nikola Langreiter und Klara Löffler 2017 herausgegebene Sammelband „Selber Machen. Diskurse und Praktiken des ‚Do it yourself‘“ genannt. Die Analysen des Phänomens zeigen immer wieder Geschichten der (Selbst-)Ermächtigung und Konsumkritik. So auch bei Pia-Marie Hilsberg. Doch sie erweitert diese Fragestellung, indem sie sie zugleich in der in Tübingen renommiert vertretenen Emotionsforschung situiert.
Die sehr lesenswerte Studie gliedert sich inklusive Einleitung und Zusammenfassung in vier Kapitel. Im zweiten Kapitel beschreibt die Autorin das Forschungsdesign. Dabei setzt sie sich sowohl mit methodisch-autoethnografischen Forschungspraktiken als auch im Besonderen mit der Rolle des Körpers im Kontext ihrer Forschungen auseinander. Der Körper gilt Hilsberg im Kontext des Selbermachens als „Echtheitsgarant“ (64). Konsumgeschichte und Authentizitätsgeschichte sind demnach immer auch Körper- und Sinnesgeschichte. (Emotionale) Authentizität zeigt sich hier als eine performative Praxis, die ständige Aktualisierung erfordert. Im Fach Empirische Kulturwissenschaft nach Authentizität zu fragen, lässt beim erstmaligen Lesen kurz aufmerken. Wurde die Frage, ob etwas „echt“ sei oder dem „wahren“ Kern zumindest nahekomme, doch im Vielnamenfach nicht nur intensiv diskutiert, sondern auch im Hinblick auf die eigene Geschichte des Faches kritisiert (zentral bei Regina Bendix: In Search of Authenticity. The Formation of Folklore Studies. Madison 1997). Indem Hilsberg diesen Diskurs aufgreift, trennt sie sich vom Alltagsbegriff Authentizität, der auf sprachlich-alltägliche Weise dann als Selbstbeschreibung in der Analyse dient.
Hilsberg beschäftigt sich auch mit der Frage, wie sich Authentizität als ästhetische Erfahrung in Praktiken des Selbermachens zeigt. Dabei beruft sie sich auf den Tübinger Empirischen Kulturwissenschaftler Kaspar Maase, der die ästhetische Erfahrung als etwas Schönes, Lustvolles beschreibt, als einen Modus der Wahrnehmung und Alltagserfahrung, der sich von der „professionellen Aufmerksamkeit“ abgrenzt (52). Diese Abgrenzung zum professionellen und beruflichen Arbeiten steckt nicht nur im Do-it-yourself-Verständnis, sondern auch im Selbstverständnis der Projekte, die Hilsberg beforscht hat. Deshalb kann die Autorin das Selbermachen auch als alternative Konsumform einführen. Dabei erschafft sie durch die Analyse ihrer Feldbeobachtungen eine dichte und facettenreiche Darstellung der verschiedenen Beziehungen zwischen Körper, Konsum und Authentizität. So schreibt sie, dass Konsumkultur die Authentizitätskompetenz fördert. Die Frage, was Authentizität ist, dient hier als Fährte, um Praktiken zu erspüren und ein Forschungsfeld zu schaffen. Hilsberg stuft Authentizität als relationale Größe ein, die in ihrer Arbeit praxistheoretisch untersucht wird. Der Mensch erkennt sich im Tun selbst. Daher ist Authentizität für sie kein Zustand, sondern selbst eine Praktik, bei der das Beziehungsgeflecht aus Menschen, Materialien, Artefakten und Räumen zum bewussten Wahrnehmen und Formulieren führt.
Nach Darlegung der theoretischen und methodischen Grundlagen der Arbeit kontextualisiert Hilsberg ihre Daten, indem sie im dritten Kapitel vier Authentisierungsstrategien und -effekte des Selbermachens herausarbeitet. Ein wichtiger Schwerpunkt der Arbeit ist dabei auch der Zusammenhang zwischen Selbstformung, Subjektivität und Konsumkultur. Das Zusammenspiel von Fremd- und Selbstwahrnehmung im Rahmen eines vergemeinschafteten Machens schafft eine entgegengesetzte Sicht auf den Begriff Authentizität als Repräsentation des echten Inneren: Authentisch Werden geschieht von außen. Gemeinsames und voneinander Lernen prägen den ersten und intersubjektiven Authentisierungseffekt. Hilsberg beschreibt den Selbstwerdungsprozess mit Thomas J. Csordas „somatic modes of attention“ (49, 92–94) und erklärt diese eindrücklich, indem sie schildert, wie die Teilnehmer*innen sich Kleidung auf den eigenen Leib schneidern und sich gleichzeitig mit den Vorstellungen von (weiblichen) Normkörpern befassen (müssen). Dabei kann das Selbermachen in Gemeinschaft als widerständiger Akt und Genderperformance wie auch als Weg der Wissensvermittlung gezeigt werden.
Vom Körper geht Hilsberg zum Material über: Materiellen Authentisierungsstrategien und ‑effekten stellt sie den von dem US-amerikanischen Wahrnehmungspsychologen James J. Gibson (1977) geprägten Begriff „Affordanzen“ (107) voran, um die reine „Mittel-zum-Zweck-Beziehung“ von Körper und Ding zu erweitern. Auch hier wohnt die Authentizität dem Material nicht inne, sondern entsteht durch die ästhetische Beziehung im Prozess des Selbermachens und Aneignens. Hilsberg beschreibt das direkte, sinnliche Erleben und Bewusstmachen von Materialien und der „Ästhetik des Unfertigen und Unvorgeformten“ (115) als eine Art gemeinsamen Werdens von Körper und Material im Authentisierungsprozess und dem „bewusst herbeigeführten [Moment] der Überraschung“ (127).
Als drittes bringt Hilsberg die Zeit als Authentisierungsstrategie und ‑effekt ein. Dabei spricht sie nicht nur die Historizitätserfahrungen beim Nähen und Gärtnern an, sondern auch die Gegenwartserfahrung. Eine zentrale Rolle spielt der flow-Moment als ästhetische Erfahrung, der nicht wirklich bewusst passiert oder dokumentierbar erscheint. Zudem weißt Hilsberg auf den Körper hin, der auf der einen Seite überzeitlich als „Echtheitsgarant“ gilt und auf der anderen von Vorstellungen der jeweiligen Zeit geprägt und geformt wird.
Mit räumlichen Authentisierungsstrategien und -effekten spricht Hilsberg eine weitere Ebene an. Ihre Einordung der räumlichen Aspekte anhand der gewählten Fallbeispiele ergibt, dass auch die Orte des Selbermachens selbstgemacht sind und einer Momenthaftigkeit entsprechen, die sich durch einen geografischen Begriff nicht decken lassen. Abhängig von den Akteur*innen verbindet sich der öffentliche mit dem privaten Raum.
Zusammenfassend versteht Hilsberg Authentizität als soziale Kategorie: Körper und Emotion dienen als eine Art Ausgangspunkt der Selbstformung. Selbermachen als alternative Konsumform und ästhetische Erfahrung produziert die eigene Authentizität.
Für eine Dissertation vergleichsweise kurz, überzeugt Hilsbergs Arbeit durch ihre hohe Qualität. Der Autorin gelingt es nicht nur, Unbewusstes oder Unausgesprochenes in einer ästhetischen Erfahrung wahrzunehmen, sondern dieses auch nachvollziehbar in Textform zu vermitteln. Trotz klarer und sensibler Analyse verlieren die Beschreibungen der Do-it-yourself-Praktiken nicht ihre Eigensinnigkeit. Ihr spezielles Verständnis von Praktiken oder Fachwörtern entwickelt Hilsberg vor dem Hintergrund allgemeiner, in der Gesellschaft verbreiteter Annahmen und arbeitet heraus, wie sich Beobachtungen während intensiver Feldforschung von allgemeinen Vorstellungen unterscheiden. Dabei lässt sie ihre Quellen oft selbst sprechen. Sowohl der theoretische als auch der feldforscherische Teil enthalten lange Zitate, die überaus gelungen Direktheit und Unmittelbarkeit vermitteln. Während Pia-Marie Hilsberg großen Abstand davon nimmt zu bewerten, was „authentisch“ letztlich sei, stellt sie klar, dass ihr Interesse den Aushandlungsprozessen gilt. Das macht die Arbeit nicht nur spannend zu lesen, sondern vermittelt darüber hinaus eine auch in anderen Forschungskontexten und über das engere Themenfeld des Selbermachens hinaus im weiteren Kontext der Erforschung von Konsumkultur wesentliche Wirkmacht.