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Kommission für bayerische Landesgeschichte

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Aktuelle Rezensionen


Steffen Greiner

Die Diktatur der Wahrheit. Eine Zeitreise zu den ersten Querdenkern

Stuttgart 2022, Tropen, 256 S., ISBN 978-3-608-50017-2


Rezensiert von Bernd Wedemeyer-Kolwe
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 29.09.2022

In den letzten Jahren erscheinen immer mehr historische Analysen von Journalistinnen und Journalisten, die sich – ausgehend von den mittlerweile einflussreichen gegenwärtigen alternativ-ökologischen Milieus – mit der Geschichte der alternativen Bewegungen befassen. Zu ihnen gehören etwa Andreas Speit und Andrea Röpke mit ihrer 2019 im Christoph Links Verlag erschienenen Publikation „Völkische Landnahme. Alte Sippen, junge Siedler, rechte Ökos“, aber auch der Kulturwissenschaftler und Journalist Steffen Greiner. Die Autorinnen und Autoren stellen sich die Frage, ob der gegenwärtige Boom des Alternativmilieus mit seiner umweltschützenden Naturverklärung historische Kontinuität beziehungsweise historische Vorläufer hat. Von besonderem Interesse ist der Umstand, dass dieses (historische) Milieu nicht eindeutig politisch zuzuordnen ist, sondern vielfältige politische Strömungen und Untergründe von „links“ bis „rechts“ und von völkisch bis sozialistisch aufweist. Aufgrund der eigentlich konservativen Idee des Naturerhalts – zwischen „Zurück zur Natur“ und „Zurück zur deutschen Natur“ – zirkulier(t)en jene Vorstellungen sowohl im „alternativen“, als „links“ etikettierten Milieu als auch im völkisch-rassistischen Untergrund. Diese „linken Leute von rechts“, die „braunen Grünen“, die den „alten Traum vom neuen Reich“ träumen, und die technikopponierenden „Fortschrittsfeinde“ sind in der Forschung zur Lebensreformbewegung in der Vergangenheit bereits eingehend untersucht worden; vor allem zwischen den 1980er und dem Beginn der 2000er Jahre wurden etliche Aufsätze und Monografien zum Thema verfasst.

Allerdings haben die neuen journalistischen Veröffentlichungen zum Thema den eindeutigen Vorteil, dass sie aufgrund ihrer Vermarktungsmöglichkeiten sehr viel stärker und deutlich besser popularisiert und rezipiert werden können und höhere Aufmerksamkeit generieren als die Fachbücher, die seit mehr als 30 Jahren darüber verfasst worden sind. Sie gelangen rasch ins Feuilleton. Steffen Greiners Buch zum Beispiel wurde in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung besprochen (FAZ, 20.2.2022) und war in dieser Zeit mindestens zweimal Gegenstand in Deutschlandfunk Kultur, auch mit einem Interview. Daher sind es genau diese Arbeiten und mit ihnen ihre Themen, die – ungeachtet des tatsächlichen Forschungsstandes – von der interessierten Öffentlichkeit und dem Feuilleton als „neu“ wahrgenommen werden. Allerdings muss man sich fragen, ob der Inhalt dieser Bücher so neu ist, wie oftmals suggeriert wird, oder ob es sich nicht viel eher um „alten Wein in neuen Schläuchen“ handelt.

Zumindest bei dem Buch von Steffen Greiner ist eindeutig letzteres der Fall. Greiners Ausgangspunkt ist die gegenwärtige „Querdenkerbewegung“, deren politische und kulturelle Haltung uneindeutig ist, die zwischen „links“ und „rechts“, zwischen völkisch und alternativ sowie zwischen regierungskritisch, spirituell und unpolitisch angesiedelt ist und deren Anhänger und Anhängerinnen sich an charismatischer Führung orientieren. Bei seiner Recherche zum Thema stieß Greiner auf einen angeblich kulturellen Vorläufer, die sogenannten „Barfüßigen Propheten“ der 1920er Jahre, die in den Krisenzeiten der Weimarer Republik mir ihren Daseinsentwürfen und Aktionen zwischen Modernekritik, völkischem Denken, alternativen Lebensweisen und spiritueller, zum Teil kirchenkritischer Esoterik in der Lage waren, größere Anhängerschaften um sich zu sammeln und einen Staat im Staat propagierten und aufzubauen versuchten. Greiner sieht hier nicht nur eine Vorläuferbewegung, sondern behauptet auch eine entsprechende historische Kontinuität zu den heutigen „Querdenkern“, wobei er die Kontinuität unter anderem auch geografisch belegen will: Etliche moderne „Querdenker“ wie auch alte „Barfüßige Propheten“ hatten ihren Standort in Stuttgart, ein Ort, der, so heißt es immer wieder, mindestens seit den Wiedertäufern des 16. Jahrhunderts ein historischer Ort des Aufruhrs gegen die Obrigkeit sei.

Tatsächlich ist die Geschichte der „Barfüßigen Propheten“ der 1920er Jahre und ihrer Vorläufer um 1900 – alles Männer – seit Jahrzehnten von der Forschung besonders gut aufgearbeitet. Auch Greiner weiß sich in Ermangelung besserer Forschung nicht anders zu helfen, als immer wieder das Standardwerk des Historikers Ulrich Linse von 1983 zu verarbeiten. Linse, die Koryphäe der Lebensreformforschung, hat damals etliche jener „Erlöser“ noch aufgespürt, interviewt und wichtiges Quellenmaterial über sie und von ihnen sammeln können. Etwas Besseres über das Thema wird so schnell nicht existieren. Dass Greiner zum Thema im Grunde nichts Neues aufzuspüren vermag, zeigt auch ein Blick in seine Literaturverzeichnisse, die je nach Kapiteln gestaffelt sind und deshalb häufig dieselbe Literatur mehrfach aufführen. Das Verzeichnis wirkt dadurch zwar umfangreicher – was es nicht ist –, aber dafür bietet es auch absolut nichts Aktuelles.

Auch sein inhaltlicher Ansatz ist zumindest fragwürdig. Eine durchgehende, sich ihrer Geschichte bewussten Kontinuität zwischen den „Erlösern der 20er Jahre“ und den „Querdenkern“ lässt sich beim besten Willen nicht belegen; zu diesem Schluss kommt auch die oben erwähnte Besprechung in der FAZ. Darüber hinaus ließen sich leicht auch an anderen deutschen Orten willkürliche Kontinuitäten zwischen den Alternativbewegungen der 1920er und der 2020er Jahre herstellen: Nordhessen und Westthüringen mit der damaligen Jugend- und heutigen Ökologiebewegung oder Berlin mit der damaligen FKK- und Lebensreformbewegung und dem heutigen Prenzlauer Berg.

Bemerkenswert an dem Buch ist auch das inkonsequent verwendete, völlig willkürliche „Gendern“, das von keiner Systematik angekränkelt zu sein scheint. Es finden sich „Arbeiter*innen“, „Lebensreformer*innen“ oder sogar „Putschist*innen“ ebenso wie Arbeiter (!), Bürger, Putschisten (!), Studenten und Soldaten. Im Text steht „Querdenker*innen“, im Titel dagegen „Querdenker“. Ist das dann das generische Maskulinum oder sind nur Männer gemeint?

Gerade Begriffe wie „Putschist*innen“ widersprechen zudem sämtlichen historischen Quellen und der einschlägigen Fachliteratur, ist es doch gerade ein Ergebnis der Forschung, dass die völkischen Kampfbünde der Weimarer Republik – inklusive der Kapp-Putschisten – ausnahmslos aus (heute würde man sagen: toxischen) Männern bestanden haben. Greiner nennt ja selbst Klaus Theweleits „Männerphantasien“ von 1977/78, das Standardwerk zum Thema. Frauen und Personen, die sich andere Geschlechter zuweisen, wären aufgrund der Geschlechtshierarchien der Völkischen hier geradezu fehl am Platz gewesen. Auch die Inflationsheiligen waren ausnahmslos Männer und haben sich auch als solche bezeichnet. Gerade bei historischen Analysen, bei denen man nur dann „gendern“ könnte, wenn auch entsprechende Quellen als Belege vorliegen – alles andere wäre Spekulation und nicht Wissenschaft –, sollten Ideologien ausbleiben. Sie verzerren die Realität. Fazit: Das Buch ist – trotz des Medienhypes – überflüssig.