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Stefan Rindlisbacher
Lebensreform in der Schweiz (1850–1950). Vegetarisch essen, nackt baden und im Grünen wohnen
(Zivilisationen und Geschichte 72), Berlin 2021, Peter Lang, 500 S. m. Abb., ISBN 978-3-631-86826-3
Rezensiert von Bernd Wedemeyer-Kolwe
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 29.09.2022
Seit einigen Jahren boomt die Forschung zur Geschichte der alternativen Bewegungen. Gerade in der heutigen krisenbehafteten Zeit des menschengemachten Klimawandels, in der verstärkt über ökologische ressourcenschonende Energiegewinnung, alternative Lebens- und Wohnweisen sowie naturnahe Daseinskonzepte nachgedacht wird, richtet sich der Blick nicht nur der Geschichtswissenschaften zurück zu den ökologischen Vorgängerbewegungen der vorletzten Jahrhundertwende und hier besonders zur Lebensreformbewegung des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Dabei wurde zunächst vor allem die deutsche Lebensreform erforscht, aber in den letzten Jahren eröffneten sich zunehmend internationale Perspektiven auf das Thema, und so wurden allmählich auch andere europäische Länder (und später auch eine globale Sichtweise) in die Forschung miteinbezogen.
Die Schweiz ist dabei ein Sonderfall. Seit Beginn der Forschung zur Lebensreform in den späten 1960er Jahren ist das Land zwar schnell in den Fokus der Wissenschaft gerückt, aber –besonders seit der großen Ausstellung von Harald Szeemann 1978 – es wurden bislang bemerkenswerterweise lediglich die – heute würde man sagen – „Leuchttürme“ der Schweizer Lebensreform erforscht: der Monte Verità und der Naturheilarzt Max Bircher-Benner sowie, eher abgeschlagen, der Schweizer Lebensreformer Werner Zimmermann. Dass die Schweizer Lebensreform jedoch sehr viel mehr Forschungspotential zu bieten hat, zeigt seit einigen Jahren eine Forschungsgruppe des Freiburger Historikers Damir Skenderovic, der die Lebensreform in der Schweiz anhand von zwei Dissertationen gründlich untersuchen ließ. Während die ausgezeichnete, 2021 bei Campus erschienene Arbeit von Eva Locher „Natürlich, nackt, gesund. Die Lebensreform in der Schweiz nach 1945“ die Lebensreform nach dem Krieg bis in die Gegenwart ins Auge fasst (siehe die Rezension im Bayerischen Jahrbuch für Volkskunde 2021, https://www.recensio-regio.net/rezensionen/zeitschriften/bjv/2021/ReviewMonograph368067440), analysiert Stefan Rindlisbacher die Lebensreform in der Schweiz von den Anfängen bis 1950.
Stefan Rindlisbacher beginnt seine Studie mit der forschungsgeschichtlichen Durchmusterung des Themas und leitet daraus sehr schlüssig seinen aktuellen Zugang und seine Definition von Lebensreform – die in der Forschung umstritten diskutiert wird – ab. Seiner These nach ist die Lebensreform zum einen besonders in den neuen bürgerlichen Mittelschichten der Moderne verankert und zum zweiten ein gesundheitsorientierter identitätsstiftender Lebensstil und damit Produkt der Moderne sowie gleichzeitig ihr Korrektiv, während die ältere Forschung Lebensreform häufig noch als abgeschottete antimoderne Fluchtbewegung interpretiert und ihre modernen Elemente – Gesundheit, Selbstverantwortung, Identität, Kommerzialität – eher ausgeblendet hat. Unter diesem Ansatz befasst sich der Autor mit den einzelnen Richtungen der (Schweizer) Lebensreform: Naturheilkunde, Vegetarismus und Ernährungskonzepte, Abstinenz, Naturbestrebungen, Freikörperkultur sowie „alternative“ Wirtschafts-, Lebens- und Daseinskonzepte; es sind alles Elemente, die über die Idee einer (Selbst)Erziehung zu einem „neuen Menschen“ führen sollten. Ob man die Jugendbewegung, der der Autor ein eigenes Kapitel widmet, zur Lebensreform zählen sollte, dürfte umstritten sein. Zwar gab es – gerade in der Schweiz über Werner Zimmermann – vielfältige Bezüge und Überschneidungen zwischen beiden Gruppen, aber die Jugendbewegung war doch hinsichtlich ihrer sozialen Zusammensetzung, ihrer Handlungsstrategien und ihres, auch politischen, Umfeldes viel genuiner als die heterogene und ursprünglich aus dem sozialen Außenseitertum stammende Lebensreform; es gab etliche einflussreiche jugendbewegte Personen, die sich aufgrund ihrer nonkonformen Haltung und (auch äußerlichen) Erscheinungsform von lebensreformerischen Personen stark abgrenzten.
Die Studie von Stefan Rindlisbacher ist sachlich, gründlich, unaufgeregt, genau und kann sich auf eine ausgezeichnete Kenntnis der Quellen, der Literatur und der Forschungsgeschichte stützen. Wo andere neuere Arbeiten zum Thema ohne große Kenntnis der Quellen und Literatur relativ substanzlos auf den Forschungszeitgeist aufzuspringen scheinen, ist dieses Buch das Gegenteil: Es nutzt die Forschung und die Quellen reflektiv, es argumentiert und diskutiert anhand der Forschungsgeschichte, und es kommt zu abwägenden Urteilen. Stefan Rindlisbacher verwendet zwar in seiner historischen Interpretation moderne Begrifflichkeiten wie „Neoliberalismus“, „Arbeit am Selbst“, „schlanker Staat“ oder „Optimierung“, verkennt dabei aber nicht, dass auch er Teil der Forschungsgeschichte ist und sein Thema zwangsläufig eben auch in seiner Zeitgenossenschaft betrachten muss. Das Buch gehört nicht zuletzt auch durch seinen reflexiven Zugang zu den wesentlichen Studien zum Thema und wird dauerhaft Bestand haben.