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Kommission für bayerische Landesgeschichte

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Aktuelle Rezensionen


Barbara Mahlmann-Bauer/Paul Michael Lützeler (Hg.)

Aussteigen um 1900. Imaginationen in der Literatur der Moderne

Göttingen 2021, Wallstein, 588 S. m. Abb., ISBN 978-3-8353-3919-4


Rezensiert von Bernd Wedemeyer-Kolwe
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 15.09.2022

Wo könnte man eine internationale und interdisziplinäre Tagung zum Thema „Aussteigen um 1900“ besser durchführen als auf dem Monte Verità bei Ascona im Tessin, der Mutter aller lebensreformerischen Aussteigerkolonien um 1900, dessen mediale Wirkung gerade heute in einer erneuten Phase der gesellschaftlichen Verunsicherung und kulturellen Ausstiegsvisionen ein ausgesprochenes Hoch erlebt und über den sogar unlängst ein Graphic Novel – vulgo: Comic im Buchformat – sowie ein Spielfilm entstanden sind? Barbara Mahlmann-Bauer und Paul Michael Lützeler, beide in der Germanistik beheimatet, organisierten auf dem mittlerweile als Kongresszentrum etablierten Monte Verità 2018 eine Tagung zum Thema und versammelten Fachleute verschiedener Länder aus Romanistik, Germanistik und Medizingeschichte, um über Aussteigen als Kulturphänomen, über Aussteigen in der Literatur der klassischen Moderne und über Aussteigen speziell bei dem österreichischen Schriftsteller Hermann Broch zu debattieren, dessen Lebensweg etliche Brüche aufweist und der sich in seinen Texten immer wieder mit Aussteigerfiguren auseinandergesetzt hat. Nun liegt der Tagungsband vor.

Die Beiträge des Bandes sind ausführlich, fachlich genau und decken eine breite Palette von Aspekten zum Thema ab. Im ersten Teil „Aussteigen als Kulturphänomen“ skizziert Paul Michael Lützeler das Thema Aussteigen und Lebensreform im historischen Kontext der vorletzten Jahrhundertwende und mit besonderem Bezug zum Monte Verità, indem er die Vielzahl an unterschiedlichen, im dortigen Milieu beheimatet gewesenen Personen mit Ausstiegsmentalität und ihre individuellen und kulturellen Bezugspunkte – Weltflucht, Zivilisationskritik, Antimoderne, Naturverherrlichung, Utopie, Prophetentum, Mystik – mit ihren konkreten Ausstiegspraktiken in Bezug setzt und anschließend Werk und Leben von Hermann Broch auf entsprechende Lebensentwürfe und Themen abprüft. Der sich daran anschließende Beitrag von Barbara Mahlmann-Bauer – mit knapp 100 Seiten ein Kernstück des Buches – befasst sich eingehend und genau mit dem Einfluss von Friedrich Nietzsches Texten auf das zeitgenössische Aussteiger- und Lebensreformmilieu und auf diejenigen Schriftstellerinnen und Schriftsteller, deren Leben und Werke sich um das Thema Aussteigen gedreht haben. Zwar gab und gibt es im Forschungskontext Nietzsche und Lebensreform immer wieder Beiträge, die sich mit dem Einfluss Nietzsches auf die Reformbewegungen auseinandergesetzt haben, aber Mahlmann-Bauer geht tatsächlich einmal der konkreten Rezeption in den Quellen nach und belässt es nicht nur bei Mutmaßungen und Thesen. Abgeschlossen wird dieser erste Teil durch drei weitere Beiträge zu den musikalisch-poetischen Ursprüngen der Zivilisationskritik (Martin Urmann), zur Naturheilkunde (Martina King) und zur Siedlungsthematik am Beispiel der Gartenstadt Hellerau bei Dresden (Karena Weduwen).

Der zweite Teil „Aussteigen in der Literatur der klassischen Moderne“ behandelt einzelne Schriftstellerinnen und Schriftsteller der Zeit wie Hermann Hesse (Yahya Elsaghe), Robert Musil (Alexander Honold) oder Emmy Ball-Hennings (Irmgard M. Wirtz), die sich selbst im Aussteigermilieu ihrer Zeit verortet haben und verortet werden beziehungsweise sich selbst im Dunstkreis des Monte Verità aufgehalten oder sich mit Aussteigermilieus befasst haben. So setzt sich Julia Röthinger mit Max Frisch und seiner Darstellung des enzyklopädischen Gartens des Schweizers Armand Schulthess auseinander, der in den 1950er Jahren die Bäume eines ihm gehörigen Waldstücks mit kleinen Tafeln behängt hat, auf denen er Texte über kulturelle und wissenschaftliche Themen montiert hatte. Ein Großteil dieser Tafeln ist später über den Monte Verità-Wiederentdecker und Ausstellungsmacher Harald Szeemann in das Museum auf dem Monte Verità gelangt. Ein weiterer Betrag (Astrid Dröse und Friedrich Vollhardt) befasst sich mit dem lebensreformerischen Maler Karl Wilhelm Diefenbach und dem skurrilen Aussteiger und fanatischen „Kokosnußprediger“ August Engelhardt, der um 1900 auf die Südseeinsel Kabakon ausgewandert ist und dort seiner Obsession, sich ausschließlich von Kokosnüssen zu ernähren, zum Opfer fiel. Der Aufsatz geht dabei neben der zeitgenössischen Rezeption Engelhardts vor allem auch seiner literarischen Verarbeitung in dem Roman von Christian Kracht „Imperium“ von 2012 nach; interessant wäre es gewesen, Krachts Text mit dem ein Jahr zuvor erschienenen Engelhardt-Roman von Marc Buhl in Bezug zu setzen, der damals aufgrund des weit höheren Bekanntheitsgrades von Kracht von der Presse allerdings kaum beachtet wurde.

Der dritte Teil des Sammelbandes fokussiert die Ausstiegsthematik dann konkret auf Motive und Themen in Werk und Leben von Hermann Broch, der zwar nicht auf dem Monte Verità war, aber über diverse Korrespondenzen und der Auseinandersetzung mit auf dem Monte Verità beheimateten Projekten (Eranos-Tagungen) zumindest rezeptionell mit dem „Berg der Wahrheit“ vertraut war (etwa im Beitrag von Doreen Wohlleben). Monika Ritzer, Florens Schwarzwälder und Thomas Borgard befassen sich mit kultur- und zivilisationskritischen Aspekten und Personen bei Broch, Sarah McGaughey geht der filmischen Rezeption einer Erzählung Brochs nach, die sich mit Fluchtmotiven auseinandersetzt, Sven Lüder analysiert Brochs Wünsche nach sozialer Distanz, und Satoshi Kuwahara untersucht theologische und philosophische Aspekte von Brochs Ausstiegsphantasien.

Insgesamt ist die Idee, anhand eines ausgewählten zeitgenössischen Schriftstellers das Thema „Ausstieg um 1900“ kulturgeschichtlich (Ausstieg als Utopie), konkret (Ausstieg als Projekt) und literarisch (Ausstieg als schriftstellerisches Motiv) durchzudeklinieren, in der Umsetzung gelungen, vor allem, weil sie stringent und am Thema orientiert konsequent durchgehalten wurde. Dies erlaubt fruchtbare Bezüge, Vergleiche und Parallelen, die ansonsten tendenziell untergegangen wären.