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Wolfgang Brückner

Wirkendes Wort als gesunkenes Kulturgut. Volkskundliche Quellenstudien zu barocken Ritualien

Dettelbach 2021, J.H. Röll, 127 S. m. Abb., ISBN 978-3-89754-594-6


Rezensiert von Günther Kronenbitter
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 29.09.2022

Mit der religiösen Praxis der Barockzeit setzte sich Wolfgang Brückner bereits in seiner 1958 publizieren Frankfurter Dissertation über „Die Verehrung des Heiligen Blutes in Walldürn. Volkskundlich-soziologische Untersuchungen zum Strukturwandel barocken Wallfahrtens“ auseinander. Er hat dieses Forschungsgebiet über die Jahre nicht aus den Augen verloren und wendet sich auch in seiner jüngsten Monografie einem Thema aus diesem Feld zu. Entstanden ist die Studie über barocke Ritualien unter den Bedingungen der Pandemie, wobei Brückner davon profitieren konnte, dass er neben einer offenkundig gut bestückten Privatbibliothek auf die Digitalisate wichtiger Quellen zurückgreifen konnte. Das spurlose Verschwinden großer Teile der Erstfassung des Textes hielt Brückner nicht lange auf, aber Fluch und Segen des Digitalen begleiteten die Entstehung der Untersuchung, die Brückner als „Experiment mit neuen Quellen“ (7) konzipiert hat.

Zunächst wendet sich Brückner kritisch den Denkmustern der früher so genannten „Aberglaubensforschung“ zu, die fachgeschichtlich von besonderem Interesse ist. „Theologenaufregung“ (32) über Verfluchungen und Zauber, insbesondere im frühneuzeitlichen Protestantismus, verschränkte sich mit Vorstellungen des 19. Jahrhunderts über religiöse „Volkskultur“ mit dem Ergebnis, dass wesentliche Aspekte religiöser Praxis im Barock als magische Handlungen interpretiert wurden. Dies gilt nicht zuletzt für „amuleta sacra“ (36). Dem stellt Brückner, unter anderem in Anschluss an Überlegungen des Liturgiewissenschaftlers Elmar Bartsch, eine Deutung gegenüber, nach der „christliche Amulette im Verständnis der kirchlichen Texttradition das leiblich erfahrbare Gegenwärtigsetzen einer Erlösung verheißenden Zukunftsperspektive“ (44) darstellen. Die dabei verwendeten schriftlichen Segensformeln, die Benediktionen, haben ihren Ansatzpunkt in der exorzistischen Literatur des späten 16. und des frühen 17. Jahrhunderts. Während es beim Großen Exorzismus des Rituale Romanum um die Austreibung des Teufels und von Dämonen geht, sieht Brückner in Anlehnung an Manfred Probst insbesondere bei Maximilian von Eynatten in dessen Manuale Exorcismorum Anzeichen einer Verschiebung des Fokus: Das „durchgehende Exorzieren in den für den Hausgebrauch von Geistlichen gedachten Handbüchern“ (42) dient weniger der dramatischen Austreibung des Teufels, sondern es geht hier „im Grunde meist nur noch um starke Worte gegen kleinliche Ängste, also um Alltägliches“ (42).

Der weiteren Textentwicklung hin zu den weit verbreiteten Sammlungen von Benediktionen des 18. Jahrhunderts geht Brückner anhand von drei Beispielen genauer nach. Im Zentrum der Quellenerschließung stehen Werke des Kapuziners Martin von Cochem (1634–1712), des Franziskaners Bernhard Sannig (1638–1704) und des Augustinerchorherrn Gelasius de Cilia (1654–1721). Jeder von ihnen verfasste umfangreiche Ritualsammlungen, die im 18. Jahrhundert mehrfache Neuauflagen erlebten. Brückner prägt für diese Werke den Begriff der „Pastoral-Ritualien“. Als praxisorientierte Sammlungen stellen sie Benediktionen für eine breite Palette von Alltagssituationen zusammen. So bemerkt Brückner mit Blick auf das Spektrum der bei Gelasius de Cilia genannten Themen, die „Kompilation macht auf einen ‚Volkskundler‘ meiner Generation prima vista den Eindruck einer Übersicht des alten Kanons unserer Disziplin:

I. Jahreslaufereignisse, II. Realien der Frömmigkeitspraxis, III. Sakristei-Utensilien, IV. Lebenslauf und Volksmedizin, V. Ländliche Bauten und ländliches Umfeld, VI. Vorsorge fürs Vieh und Abwehr des Ungeziefers, VII. Feldfrüchte und landwirtschaftliche Erzeugnisse, VIII. Geistliche Apotheke, IX. Wetterwünsche und Katastrophen, X. Zeughaus-Kriegsgerät“(83 f.). Gedacht waren Pastoral-Ritualien mit ihren Texten für Segnungen, Weihen und Exorzismen als Werkzeuge der Seelsorgearbeit von Geistlichen. Dabei spielten, wie der Übersicht der Themen in der Zusammenstellung des Gelasius de Cilia zu entnehmen ist, materielle Gegenstände eine große Rolle in der kirchlichen Weihepraxis.

Wie christliche Amulette vor diesem Hintergrund zu interpretieren sind, veranschaulicht Brückner anhand des „Breverls“. Die Forschung an diesen Realien in Museumssammlungen hat nach seiner Ansicht bislang vor allem die komplexe Struktur als „Kompositgebilde“ (91) beachtet, bestehend aus dem gefalteten Papierzettel, den Bildern, den Naturalien, dem Textiltäschchen. Die Segenstexte auf dem bedruckten Papierzettel bieten jedoch noch weitere Möglichkeiten zur Einordnung. So arbeitet Brückner die Rolle von Papieramuletten des Agnus Dei heraus, die nach dem Tridentinischen Konzil von den Jesuiten propagiert wurden, bevor durch die Franziskaner das Umhänge-Breverl in seiner museal überlieferten Form entwickelt wurde (101).

Nach dieser Demonstration der Relevanz von Textarbeit für das Verständnis von religiöser Praxis und ihren Realien wendet sich Brückner im letzten Kapitel einem „Fazit zu den Riten und Dingen“ zu. Er greift dabei eine Formulierung des Pastoraltheologen Christoph Kürzeder auf, dessen 2005 erschienene Monografie über die Frömmigkeitspraxis im Barock den Obertitel „Als die Dinge heilig waren“ trägt. Brückner setzt dem entgegen: „Nein, sie mussten erst heilig gemacht werden, um lebenstauglich zu werden, denn überall lauerte nach allgemeiner Ansicht der böse Feind mit seinen Versuchungen und Vexationen.“ (104) Dazu dienten „Sakramentalien“, die nur „als priesterlich geweihte Segenszeichen“ wirkungsmächtig sein konnten. „Der verwirrte Mensch der Vergangenheit bekam lauter kleine Anker im Meer der Unsicherheiten, in dem die Praktiker unter den Theologen sie schwimmen sahen.“ (104) Nur ganz knapp skizziert Brückner, wie er sich das Verblassen dieser Verbindung von Pastoraltheologie und Ritualpraxis vorstellt und sich die weitere Entwicklung im Gebrauch der Benediktionen und ihre Umdeutung zu „abergläubischen“ Formeln erklärt: „Nach der Aufklärungsepoche wanderte der priesterliche Segen auf dem katholischen Dorfe zum Teil in die Hände besonders potenter Leute, die heimlich ‚sahne‘ konnten, wie es im Südhessischen für segnen heißt. Sie taten dies aufgrund überlieferter, sprich abgesunkener Texte, die nun als abergläubisch galten.“ (105)

Von hier aus schlägt er die Brücke zur Fehldeutung in der „Aberglaubensforschung“ und bindet seine Argumentation durch den von Hans Naumann eingeführten Deutungsansatz „Gesunkenes Kulturgut“ an die Fachgeschichte zurück. Dass sich darin mehr verbergen könnte, als nur eine Kritik an Fehldeutungen von Einzelaspekten religiöser Praxis in der Frühen Neuzeit, lässt sich mit etwas Mut zum Missverständnis aus den Passagen herauslesen, in denen Brückner Lenz Kriss-Rettenbeck (1923–2005) vor dem Vorwurf in Schutz nimmt, dieser habe statt Kulturwissenschaft eigentlich Theologie betrieben: „Dabei ging es um Phänomenologien des homo religiosus und seine nonverbalen Kommunikationsweisen, was sich konkreter ausdrücken lässt [sic] durch Verweise auf Bild, Gebärden, Zeichenhandlungen sakramentalischen Denkens.“ (108) Für seine eigene Studie antizipiert Brückner, sie könnte als „Beitrag zur Liturgiegeschichte“ schubladisiert werden, „doch stehen jetzt wichtige Quellen erschlossen für jedermann zur Verfügung, die zugleich erkennen lassen, wie sehr sich der einstige akademische Diskurs in eine falsche Richtung bewegt hat. Noch immer bringt nur Einsicht in bisherige Irrwege auf den Pfad der Erkenntnis.“ (109) Und wenn man dazu, so ließe sich Brückner als implizierte Botschaft unterstellen, Liturgiegeschichte ernst nehmen und Maximilian von Eynatten, Martin von Cochem, Bernhard Sannig oder Gelasius de Cilia lesen muss – dann ist das eben unerlässlicher Teil der Auseinandersetzung mit etablierten Deutungsmustern.

Das Buch lässt sich aus unterschiedlichen Perspektiven lesen. Da ist zum einen der inhaltliche Kern der Untersuchung, die Diskussion um geläufige Interpretationen und angemessene Methoden, die Erschließung neuer Quellen und die Erarbeitung eines alternativen Deutungsangebots. Zum andern aber bietet die Lektüre auch einen Einblick in Aspekte der Fachgeschichte und zugleich – damit eng verbunden – in die Selbstverortung Brückners in den fachhistorischen Entwicklungslinien. Die Energie, mit der Brückner seine Forschungsinteressen verfolgt, und die Deutlichkeit seiner Urteile vermittelt sich den Leser*innen des schmalen, aber sehr anspielungsreichen Bands ganz unweigerlich. Ob sich die Hoffnung erfüllen wird, das „keineswegs altmodische Thema“ werde sich „unter der Generation Corona bewähren“ (7), ob Brückners Fragestellung also aufgriffen und neu beantwortet werden wird, erscheint zweifelhaft. Der von ihm selbst angesprochene Wandel in der Wahrnehmung von Religion und die veränderten Forschungsschwerpunkte sprechen jedenfalls nicht dafür. Es wird dennoch auch längerfristig interessant bleiben, von Brückner nicht nur etwas über barocke Ritualien zu erfahren, sondern auch über „die Art, wie meine Generation die vorangegangenen Lehrer zu überholen oder deren Themen zu erweitern vermochte“ (7).