Aktuelle Rezensionen
Hande Birkalan-Gedik/Christiane Cantauw/Jan Carstensen/Friedemann Schmoll/Elisabeth Timm (Hg.)
Detmold, September 1969. Die Arbeitstagung der dgv im Rückblick
(Beiträge zur Volkskultur in Nordwestdeutschland 131), Münster 2021, Waxmann, 276 S. m. Abb., ISBN 978-3-8309-4375-4
Rezensiert von Anita Bagus
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 29.09.2022
Der hier vorzustellende Band versammelt Ergebnisse der fachgeschichtlichen Konferenz, die unter dem Titel „Abschied vom Kanon. Detmold, September 1969: Ein internationaler Rückblick auf die Deutsche Volkskunde in der Diskussion / Words and World of Volkskunde – Detmold, September 1969: Deutsche Volkskunde an International Folkloristics Revisited“ im Oktober 2019 in Detmold stattfand. Der Tagungsort war mithin „Programm“, denn Anlass war die hier vor 50 Jahren von der dgv anberaumte „Wissenschaftliche Arbeitstagung: Probleme und Techniken volkskundlicher Dokumentation“ (zum Programm vgl. S. 82–85). In der Historiografie des Faches fungiert „Detmold 1969“ als Chiffre – sozusagen als „1968“ der Volkskunde – für intensive Debatten über NS-Vergangenheit, Resolutionen, Änderung der Fachbezeichnung, letztlich für inhaltliche, theoretische und methodische Neuorientierung. Detmold steht für Weichenstellungen, die sich in der Genese des Faches bis heute niederschlagen – wie sie etwa an der immer noch aktuellen Namensdebatte sichtbar werden.
Die interessanten und spannenden Beiträge – nicht nur für Fachhistoriker*innen ein „must-read“ – werden in drei Abschnitten präsentiert. Den Auftakt bildet „Eine Disziplin im Wandel, eine Tagung mit Folgen“. Im Eröffnungsvortrag „Wechseljahre. Volkskundliche Selbsterkundungen in Umbruchzeiten“ setzt sich Silke Göttsch-Elten mit der Bedeutung der Chiffre „Detmold 1969“ in der Fachgeschichtsschreibung ebenso wie für die weitere Entwicklung der Disziplin auseinander und beleuchtet dies im Kontext der 1968er Bewegung mit den vielschichtigen hochschulpolitischen und gesellschaftlichen Veränderungen in dieser Zeit. In Folge der umfänglichen und intensiven Fachdiskussionen veränderte sich die dgv – „als Bühne für den Marsch durch die Institution“ (21). So ermöglichte eine Satzungsänderung nicht nur Einzelmitgliedschaften, sondern auch die Aufnahmen von Studierenden als Mitglieder. Dies beeinflusste die Mitglieder- und Altersstruktur, mithin das Selbstverständnis des Fachverbandes nachhaltig. Die dgv erhielt durch die Teilhabe und Mitarbeit der Studierenden ein Alleinstellungsmerkmal im Vergleich zu den Verbänden der Nachbardisziplinen, in denen teilweise bis heute keine Studierenden aufgenommen werden. In den anschließenden Debatten um die Fachbezeichnung Volkskunde zeichneten sich unterschiedliche Fachprofile ab, die jedoch unter dem Dach der dgv vereint weiter vertreten waren und zusammenarbeiteten.
Den umfangreichsten Beitrag in dieser Sektion legt Elisabeth Timm mit ihrer exzellenten „wissensarchäologischen Rekonstruktion“ der „Arbeitstagung der Deutschen Gesellschaft für Volkskunde in Detmold im September 1969“ vor. Die siebzigseitige quellengesättigte Studie liest sich in ihrer dichten Beschreibung und Analyse wie ein spannendes Drehbuch der Ereignisse um 1969. Die detaillierte Rekonstruktion umfasst die Geschehnisse und Akteurskonstellationen seit dem dgv-Kongress 1967 in Würzburg – auf dem bereits vor 1968 Kritik (v.a. durch jüngere Tübinger Akteure) an den bestehenden Fachstrukturen geäußert worden war. Timm beleuchtet so maßgebliche Aktivitäten und Protagonisten mit biografischen Details aus unterschiedlichen Instituten der Volkskunde, mithin den kontroversen Vorlauf fachlich-theoretischer Provenienz, die die Vorbereitung, das Programm und den Verlauf der Tagung prägten. Etwas irritierend ist lediglich die kongruente Verwendung der Begriffe Faschismus und Nationalsozialismus in den Ausführungen über die NS-belasteten Volkskundler. Gewinnbringend ist nicht zuletzt die umfangreiche Kontextualisierung der Akteurskonstellationen im Fach, ergänzt durch interdisziplinäre und internationale Komparatistik.
Heinrich Stiewes Beitrag, „Zwei Tagungen mit Baustellenbesuch: die Deutsche Gesellschaft für Volkskunde und der Arbeitskreis für Hausforschung in Detmold 1969“, beschließt die Sektion. Darin geht er auf eine bislang unterbelichtete Parallelaktion der Tagung ein, die zugleich auf einen fachlichen Bias verweist, der sich nach „Detmold“ als eine zunehmende „Entfremdung“ von universitärer Volkskunde und den Volkskundemuseen auswirkte, die später zur Vernachlässigung der Sachkulturforschung im Fachcurriculum führte. Stiewe informiert über die Genese des 1950 gegründeten „Arbeitskreises für (deutsche) Hausforschung“ (AHF), dessen Jahreshauptversammlung mit Vorträgen parallel zur Tagung stattfand. Ebenso wurden die Exkursionen zum entstehenden Freilichtmuseum in Detmold alternierend zu den Filmvorführungen des Tagungsprogramms durchgeführt. Einen Eindruck von den Aktivitäten des AHF während der Tagung geben überlieferte Fotografien.
Im zweiten Abschnitt, „‚Dokumentation und Wirklichkeit‘: Diskussionen und Erfahrungen 1969 in Überlieferungen und Rückblicken“, kommen Zeitzeug*innen zu Wort und Gehör. Zunächst stellt Karin Bürkert „Unerhörte Aufnahmen“ vor. Dabei handelt es sich um Tonbandaufnahmen, mit denen die sechsstündigen Diskussionen am zweiten Tag der Detmolder Veranstaltung 1969 festgehalten wurden und die bis dato unbearbeitet im Archiv des Tübinger Instituts lagerten. Bürkert erläutert ihren analytischen Zugang der auditiven Ethnografie und deren Methoden und Begriffe, die an Konzepte der interdisziplinären Sound Studies anknüpfen. In ihrer ausgezeichneten Analyse bringt sie nicht nur zeitgenössische Standpunkte zu Gehör, sondern vermittelt auch Atmosphären und Emotionen etwa bei generationalen Konflikten oder Kontroversen zwischen Pragmatiker*innen und Theoretiker*innen. Als Zeitzeugin verknüpft Bärbel Kerkhoff-Hader in ihrem Beitrag („Zurück in die Zukunft des Faches. Erinnerungen an Detmold 1969“) erinnerte Eindrücke und Erfahrungen von ihrem ersten Besuch einer dgv-Tagung 1969 in Detmold mit Überlegungen zu Historiografie und Fachgenese bis zur Gegenwart. In dem von Friedemann Schmoll moderierten Podiumsgespräch mit Wolfgang Emmerich und Konrad Köstlin („In Detmold selber war es eigentlich ganz schön“) werden Erinnerungen und Wahrnehmungen der Zeitzeugen eng mit deren jeweiligen Biografien verknüpft. Durch die unterschiedlichen Perspektiven werden die Detmolder Ereignisse mit vielfachen Informationen zum zeitgenössischen fachlichen und politischen Kontext erweitert. Dies eröffnet interessante Einblicke über die Fachgenese hinaus, ergänzt durch weitere – auch internationale – Aspekte und Facetten mit den abgedruckten Diskussionsbeiträgen. Der Beitrag des Direktors des Freilichtmuseums und Gastgebers Jan Carstensen, „Von der ‚Volkskunde‘ zur Alltagskultur im LWL-Freilichtmuseum Detmold – eine Standortbestimmung“, ergänzt und beschließt die Sektion.
Am Anfang der dritten Sektion, „Internationale und vergleichende Resonanzen und Perspektiven/international and comparative perspectives“, vermittelt der Abdruck eines zeitgenössischen Briefes des Wieners Richard Wolfram an Franz Carl Lipp in Linz die Wahrnehmung des Österreichischen Fachvertreters der Detmolder Tagung. Konrad J. Kuhns inspirierender Beitrag reflektiert die unterschiedliche Teilhabe der Schweizer Fachvertreter an der Detmolder Tagung ebenso wie die helvetischen Narrative zu den deutschen Fachdiskursen. Er verknüpft dabei eine zweifache Perspektive – den zeitgenössischen Außenblick aus der Schweiz mit dem Rückblick des Nachgeborenen auf die Genese – und lotet damalige Uneindeutigkeiten ebenso wie Möglichkeiten aus, die bislang in der Fachgeschichte etwas untergingen. Wie etwa, dass es trotz der fachlichen Differenzen auch eine Offenheit in der disziplinären Orientierungssuche, Agreements in der Zusammenarbeit und gemeinsame Bezugspunkte gab. Kuhn verdeutlicht mithin, wie die damaligen Aushandlungsprozesse auch für aktuelle Neuorientierungen relevant sein können. Ingrid Slavec Gradišnik hebt in ihrem Beitrag „Critique of Canon: Slovenian and German Routes“ mit dem Konzept Traveling Knowledge auf Schnittmengen in den Fachdiskursen beider Länder ab und zeigt, dass es nicht nur eine kritische Auseinandersetzung mit den deutschen Diskursen, wie etwa die der „Tübinger Schule“, sondern auch parallel dazu vergleichbare Ansätze unter den slowenischen Fachvertretern gab. Rob van Ginkel bietet in „Belated Introspections: Rethinking ‚Volkskunde‘ in the Netherlands since the 1960s“ einen sehr guten komprimierten Einblick in die niederländische Fachgenese und deren Protagonisten bis zur Gegenwart und zeigt jeweilige Beziehungen zu deutschen Fachvertretern auf. Dani Schrire setzt sich in „Die Finger der Faust: Jüdische und deutsche Volkskunde vor Detmold 1969“ mit verschiedenen Schnittstellen zwischen jüdischer und deutscher Volkskunde und Volkserzählungen auseinander. Indem er dem Detmolder Jubiläum parallele Jahrestage an die Seite stellt – wie etwa „200 Jahre Wissenschaft des Judentums“, „100 Jahre Walter Andersons jiddische Sammelbemühungen“ oder „60 Jahre interethnische Volkskunde“ –, eröffnen sich spannende und erhellende Blicke auf die Fachgenese, die es weiter zu verfolgen gilt. Interessant sind zum Beispiel die Ausführungen zum Erzählforscher Anderson als „Brückenbauer“ zwischen den (Fach)Welten, aufgrund seiner internationalen Vernetzungen. Abschließend gibt John Holmes McDowell mit „Folk, Folklore, Folkloristic, Folklorization: New World Terministic Screens“ Einblicke in begriffsgeschichtliche Diskurse und aktuelle Forschungen in den US-amerikanischen Folklore Studies. Eindrucksvoll sind seine Ausführungen über seine Feldforschungen in Südamerika mit denen er sein Konzept der Folklorization exploriert.
Insgesamt bietet der Band durch die unterschiedlichen Zugänge vielschichtige, hervorragende Einblicke in die jüngere Fachgenese nicht zuletzt durch die Einbeziehung der internationalen Perspektiven. Wünschenswert wäre eine Fortsetzung dieses internationalen Diskurses, in dem auch den Ursachen der von Köstlin im Podiumsgespräch erwähnten Entfernung zwischen universitärer Volkskunde und dem Museumsbereich, die nach 1969 einsetzte und die letztlich die Vernachlässigung der curricularen Sachkulturforschung in vielen Fachinstituten evozierte, nachzugehen wäre. Entsprechende Fragen sind auch im Hinblick auf den Ost-West-Dialog im Fach von Interesse, da es in diesem Bereich nachhaltige internationale Vernetzungen ungeachtet der Systemkonkurrenzen im Kalten Krieg gab, in der auch die Volkskunde in der DDR eine wichtige Rolle einnahm.