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Kommission für bayerische Landesgeschichte

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Hartmut Bock/Jochen Alexander Hofmann

„Vergodendeel un Hochtied“ – Bräuche und Feste in der Altmark

(Schriften zur Regionalgeschichte der Museen des Altmarkkreises Salzwedel 16), Langenweißbach 2022, Beier & Beran, 492 S. m. Abb., ISBN 978-3-95741-170-9


Rezensiert von Helga Maria Wolf
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 29.09.2022

Es wird wohl wenige Regionen geben, in denen Bräuche und Feste der vergangenen 200 Jahre – praktisch seit Beginn der Aufzeichnungen – bis in die Gegenwart (Corona-Pandemie) so umfassend beschrieben werden, wie in diesem 500-seitigen, reich illustrierten Werk von Hartmut Bock und Jochen Alexander Hofmann. Seit sechs Jahrzehnten erforscht Hartmut Bock (*1944) Bräuche in der Altmark. Das Interesse dafür wurde dem Pädagogen quasi in die Wiege gelegt. Schon sein Großvater Alfred Bock (1881–1975) – seit 1902 ebenfalls Lehrer – sammelte über Jahrzehnte hinweg umfangreiches Material für volkskundliche und heimatgeschichtliche Beiträge. Er verfasste Ortschroniken der Dörfer Hanum und Jübar an der Landesgrenze zu Niedersachsen, der ehemaligen innerdeutschen Grenze. Hartmut Bock schreibt in diesem Zusammenhang: „Die historischen und volkskundlichen Interessen meines Großvaters führten dazu, dass ich mich auch selbst mit den ‚Sitten und Bräuchen‘ der Bewohner der Altmark zu beschäftigen begann. Bereits als Schüler sammelte ich Zeitungsartikel und Fotos. Als Student an der Fachschule für Heimatmuseen (1961–1964) und später an der Universität Rostock (1967–1971) kam ich ein wenig mit der wissenschaftlichen Seite der Volkskunde in Berührung.“ (6) Das klingt nun sehr bescheiden für einen vielfach Geehrten. Denn außerdem wirkte Bock als ehrenamtlicher Kreisbodendenkmalpfleger, gründete die ARGE „Junge Historiker“, mit der er zahlreiche Ausgrabungen vornahm, und war wissenschaftlicher Beirat beim Ministerium für Hoch- und Fachschulwesen. In den 1980er Jahren führte er eine Fragebogenaktion bei den Bürgermeistern der ehemaligen Kreise Salzwedel und Klötze durch und motivierte Schüler*innen zu Oral-History-Projekten. Seine umfangreiche Materialsammlung aus Manuskripten, Literaturauszügen, Zeitungsartikeln, Interviews, Fotos, Film- und Tonaufnahmen wird nun erstmals veröffentlicht. Besonders lobenswert erscheint dabei auch, dass sich der Autor der sonst so beliebten Wertungen und Deutungen enthält.

Für Außenstehende klingt der plattdeutsche Buchtitel „Vergodendeel un Hochtied“ exotisch. Dass es sich bei letzterem um die Hochzeit handelt, lässt sich erraten. Schwieriger ist es bei „Vergodendeel“, das sich von „Vergütungsteil“ ableitet. „Bereits im 17. Jahrhundert ist eine Erntefeier gleichen Namens auf den Gütern der Herren von dem Knesebeck auf Tylsen nachgewiesen. In den Hausbüchern […] wird das ‚Verguten Theil‘ als eine gemeinsame Gabe der Knesebecks an ihre Untertanen erwähnt. […] Es sollte eine ‚Erquickung‘ nach der schweren Erntearbeit sein. Am letzten Tag der Ernte wurde der […] ‚Ernteschmaus‘ gereicht.“ (70) In der Ostaltmark war es um 1800 auf vielen adeligen Gütern üblich, dass die Mäher*innen einen Erntekranz auf den Gutshof brachten. Dort wurde der Choral „Nun danket alle Gott“ gesungen, die Vorbinderin übergab dem Herrn den Kranz. Man tanzte, und die Herrschaft spendete Bier.

Das Erntefest kann als Beispiel für Verschiedenes dienen. Zuerst für den Missbrauch unter mythologischen Gesichtspunkten: „Vergodendeel“ wurde Mitte des 19. Jahrhunderts als „Fro Göden Deel“, ein Opfer für die weibliche Personifikation Gott Wodans interpretiert (170). Die Entwicklung von der Barockzeit bis in die Gegenwart zeigt die Veränderung des Brauches je nach politischer Situation. Sie verlief vom vorindustriellen Erntedankfest über die Inszenierungen der NS-Zeit bis zu den DDR-Festen der Landwirtschaftlichen Produktions-Genossenschaften (LPG). „Nach 1933 fanden mehr und mehr Ernteumzüge statt, um die ‚Dorfgemeinschaft‘ zu demonstrieren. Nationalsozialistische Führer hielten auf dem Festplatz Ansprachen. […] Am Abend wurde auf dem Saal getanzt.“ (73) Auch LPG-Vorsitzende hielten Reden, „woran sich ein gutes Essen mit freien Getränken anschloss“ (76). Derartige Veranstaltungen fanden ihr Ende mit der „Wende“. Die neuen Agrarbetriebe seit 1990 feiern keine Erntefeste mehr. Was blieb, sind die kirchlichen Feiern der konfessionell gebundenen Altmärker. Kinder sammeln Obst und Gemüse – jeder gibt sein schönstes –, mit dem sie die Kirche schmücken. Sie stellen eine Erntekrone auf und dekorieren, entsprechend dem Stellenwert der Predigt, die Kanzel. Nach dem Gottesdienst erhalten kirchliche Einrichtungen die Erntegaben. Interessant erscheint auch die Verknüpfung von profanen und sakralen Brauchelementen – früher Choralgesang vor dem Tanz, jetzt nur noch kirchliche Feier. Bei evangelischen wie katholischen Gottesdiensten sind die Einbeziehung von Kindern und der Kirchenschmuck mit Erntegaben, die sozialen Zwecken zukommen, üblich. Nicht nur hier sieht man, wie sich Bräuche über Konfessions- und Landesgrenzen ähneln. Zwar sieht der katholische Brauchkalender, bedingt durch die Heiligenfeste teilweise anders aus, doch gibt es etliche Parallelen: Advent und Weihnachten, Ostereier, Osterfeuer, Patengeschenke, Pfingstkönig, Richtfest, Martinssingen und andere Heischebräuche.

Das Erntefest ist einer der Bräuche im Jahreslauf, mit denen das Buch beginnt (13–85). Die einzelnen Kapitel behandeln Winterzeit (Auf dem Bauernhof, Spinnstuben, Advent – Burklas und Klasbur, Heiligabend und Weihnachten, Die „Zwölften“, Silvester und Neujahr, Grenzöffnungsfeiern, Lichtmess, Fastnacht), Frühjahr (Palmsonntag – Gründonnerstag – Karfreitag, Ostern, Osterfeuer, Osterwasser, Ostereier, Brautball, Walpurgisnacht und Erster Mai, Christi Himmelfahrt, Pfingsten, Johannistag), Sommer (Hagelfeiern, Erntebräuche) und Herbst (Metköst und Hammelköst, Tag der Deutschen Einheit, Martinssingen und Halloween, Totensonntag und Volkstrauertag).

Ein weiteres großen Kapitel im ersten Teil ist den Festen im Lebenslauf, Bräuchen aus dem täglichen Leben und dem so genannten „Aberglauben“ gewidmet: Geburt, Taufe und Namensweihe, der erste Geburtstag, Kindheit, Schul- und Jugendzeit, Konfirmation, Jugendweihe und Lehrzeit, Verlobung und Hochzeit, weitere Feste im Lebenslauf, Krankheit, Tod und Begräbnis (86–147).

Es folgt je ein Interview aus der westlichen und der östlichen Altmark. Ida Bubke (*1896) war die Tochter eines Landwirts und hatte sechs Geschwister. Ihre Urenkelin Ilka Bubke besuchte 1987 die 9. Klasse der Polytechnischen Schule bei Hartmut Bock. Sie fasste das Interview mit ihrer damals 92-jährigen Vorfahrin zusammen (148–154). Aktuelle Bräuche aus der östlichen Altmark erzählte Pastor Norbert Lazay, Vorsitzender des altmärkischen Heimatbundes und Vizepräsident des Landesheimatbundes Sachsen-Anhalt dem Autor (155–160). So ergibt sich ein weiterer interessanter Überblick über den Zeitraum eines Jahrhunderts.

Der erste Teil schließt mit „Kulturwissenschaftlichen Anmerkungen zum Phänomen ‚Brauch‘“ (163–178). Deren Autor, Jochen Alexander Hofmann, hat Europäische Ethnologie, Geschichte und Geografie studiert. Er leitet das Schul- und Kulturamt sowie die Museen des Altmarkkreises Salzwedel. Sein Beitrag vereint Definition, Analyse und Quellenkritik. Dabei referiert er die Positionen unter anderem von Hermann Bausinger, Alois Döring, Josef Dünninger, Helge Gerndt, Walter Hartinger, Konrad Köstlin, Hans Moser und Ingeborg Weber-Kellermann. Wie diese distanziert sich Hofmann entschieden von Mythologen des 19. Jahrhunderts wie Wilhelm Mannhardt, Jakob Grimm und ihren Epigonen. Wer sich einen Überblick über Brauchforschung verschaffen möchte, findet ihn bei Jochen Alexander Hofmann in perfekter Form.

Sein Beitrag versteht sich als „Lesehilfe“ für die von Hartmut Bock zusammengestellten rund 300 Quellen. „Es zeichnet diese Quellen aus, dass sie meist unmittelbar aus der eigenen Erfahrung bzw. Erinnerung der Auskunftsgebenden hervorgingen und durch ihre erzählende Form den Leser direkt ansprechen“, schreibt Hofmann. Dennoch sei „wie bei allen historischen Quellen eine kritische Lektüre notwendig, die den geschichtlichen Kontext ihrer Entstehung beachtet und den kulturellen Horizont ihrer Autoren reflektiert“ (181).

Die Quellen umfassen mehr als zwei Jahrhunderte. Die jüngste berichtet über „Mai- und Pfingstbräuche während der Coronapandemie“, von der die Traditionen „stark betroffen“ (270) waren. An einem der wenigen Maibäume prangte die Tafel „Tradition ist stärker als jeder Virus“ (ebd.). Umzüge fanden nur in kleinen Gruppen statt. Bei Heischegängen wurden die Gaben vor die Tür gestellt, um persönlichen Kontakt zu vermeiden, und der Wegezoll mittels Apfelpflückern eingesammelt (270 f.). Die Gliederung der Quellen folgt dem ersten Teil (Jahreslauf, Lebenslauf, „Aberglaube“). Ein Quellen- und Literaturverzeichnis sowie ein Register runden das Werk ab. Zahlreiche zusätzliche Fotos zeichnen ein umfassendes Bild der Bräuche einer Region. Jeder anderen wäre ein solches Buch zu wünschen!