Aktuelle Rezensionen
Sebastian Dörfler/Sarah Roller (Hg.)
Hut ab! Pickelhaube, Pussyhat und andere Kopfgeschichten. Ausstellungskatalog
Stuttgart 2019, Haus der Geschichte Baden-Württemberg, 191 S. m. Abb., ISBN 978-3-933726-61-2
Rezensiert von Michaela Haibl
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 29.09.2022
Lange war der Katalog das Einzige, das blieb, wenn eine historische, kunst- oder kulturhistorische Ausstellung geschlossen und wieder abgebaut war. Über die reine Auflistung der ausgestellten Dinge hinaus barg er den aktuellen Forschungsstand und überraschte häufig mit präzisen, wohlformulierten Grundlagen- und Detailforschungen zum Ausstellungsthema. Aus vielfachen Gründen enden gegenwärtig zahlreiche Ausstellungen, für die intensiv geforscht wurde, ohne eine solche Publikation. Falls dennoch ein Ausstellungskatalog entsteht, werden, wie im vorliegenden Band, Publikationsformate entwickelt, die sich eher am ephemeren Medium der Ausstellung orientieren.
Kopfbedeckungen wurden und werden immer wieder präsentiert und thematisiert. 2003 zeigte das Kunstgewerbemuseum in Berlin „Hut auf! Kreative Kopfbedeckungen von 1835 bis heute“, 2010 das LVR-Industriemuseum in Euskirchen „Hauptsache Hut! 150 Jahre Hutgeschichte(n)“. 2014 wurde das Hutmuseum in Lindenberg im Allgäu eröffnet und 2018 lief eine Schau im Kunstgewerbemuseum Basel mit dem Titel „Hut auf! Kreative Kopfbedeckungen von 1835 bis heute“. Kopfbedeckungen berühren Aspekte individueller Biografik, von Vergangenheiten, Gegenwart, Ästhetik, Gesellschaft, Politik und Religion. Wie Kleidung allgemein, werden Kopfbedeckungen je nach Präsentationsform und Kontextualisierung fast zwingend als Zeichen und Symbole gelesen.
Als solche erfahrbar wurden sie im Rahmen der Ausstellung „Hut ab! Pickelhaube, Pussyhat und andere Kopfgeschichten“, die im Haus der Geschichte Baden-Württembergs vom 20. Dezember 2019 bis zum 2. August 2020 zu sehen war. Explizit sollten, wie die Kuratoren Sebastian Dörfler und Immo Wagner-Douglas betonten, die Hutexponate in ihrer symbolischen Zeichenhaftigkeit befragt werden.
Der Katalog, herausgegeben von Sebastian Dörfler und Sarah Roller, bildet die Ausstellung, die die Autorin dieser Besprechung nicht gesehen hat, im Aufbau der Themen wohl im Wesentlichen nach. In der Einführung macht Rainer Schimpf, Sammlungskurator und Ausstellungsleiter, begreiflich, wie und dass der Katalog der kuratorischen Ordnung folge. So lassen sich im Blättern und Lesen die „Flaniermeilen“ der Ausstellung begehen. Konkretisiert wird das durch einen knappen Text der Ausstellungs-Architekten, die in angenehm kompakter Form ihr an den Inhalten und den Objektgegebenheiten orientiertes gestalterisches Konzept erläutern und somit eine indirekte Anleitung zur Kataloglektüre geben.
Im Zustand des Ausgestelltseins werden alle Kopfbedeckungen zu historischen Objekten. Sie sind weniger Hut oder Kopftuch als anthropologische Repräsentationen. Die sorgfältige Auswahl der Objekte für diese Stuttgarter Ausstellung sowie deren Kuratierung und Gruppierung bewirken, dass die Exponate nicht stumm bleiben. Zahlreiche der abgedruckten Kopfbedeckungen stammen aus Privatbesitz und wurden wohl erstmals gezeigt. Die Begleittexte im Katalog zeugen von genauer Objektrecherche, in der historische Quellen und Literatur verwendet, sowie Zeitzeuginnen und Zeitzeugen befragt wurden.
Verhüllt – züchtig – ehrfürchtig – behütet – streitbar – demonstrativ – martialisch – militärisch – demonstrativ –intellektuell – regional – modern: Mittels adverbialer Kategorien ist der Katalog strukturiert. Er bietet fundierte, jedoch keine wissenschaftliche Lektüre. Es wird kein Forschungsstand gegeben oder auf Bedeutungsdiskurse eingegangen. Es wird auch keine Geschichte der Kopfbedeckung in Baden-Württemberg geschrieben. Vielmehr werden in den knappen aber gehaltvollen Texten Narrative zu den in der Ausstellung materiell anwesenden Hutobjekten entwickelt. In den Geschichten offenbaren sich Deutungen und Bedeutungen der thematisch gruppierten Kopfbedeckungen. Die Gruppierungen sind durchlässig angelegt und folgen weder chronologischen noch taxonomischen Regeln.
Der Wissenserwerb geschieht in diesem Katalog in Etappen. Die Texte fächern für jedes Objekt die verschiedenen Bedeutungsebenen und -nuancen auf. Dies geschieht bei historischen Hüten ebenso wie bei gegenwärtigen Kopfbedeckungsformen und spiegelt sich in den differenzierten Über- und Untertiteln der einzelnen Kapitel. Der Band lädt zum Blättern ein und manches Mal verwundert es, welchen Gruppen einzelne Kopfbedeckungen zugeordnet wurden. Etwa wenn unter „Martialisch“ durchaus andere Kopfbedeckungen gezeigt werden als unter „Militärisch“ und sich die Leserin fragt, ob Teile des „Martialischen“ nicht besser zum „Militärischen“ hätten wechseln können oder umgekehrt. Allerdings scheinen die manchmal irritierenden Zuordnungen von einem kleinen ironischen Augenzwinkern der Kuratoren begleitet zu sein.
Ziel des Kataloges ist augenscheinlich nicht wissenschaftlich ordnende Stringenz. Vielmehr zeigt sich eine Lust am puzzleartigen Vermitteln differenzierter und sich widersprechender Bedeutungswirklichkeiten. Dabei treffen die Kopfbedeckungen wichtiger Personen aus Kultur, Geschichte und Politik Baden-Württembergs auf gegenwärtige Modekreationen.
Bedauerlich ist allein die Marginalisierung der Materialität der Exponate. Die Objektbezeichnungen zu den hervorragenden Fotografien informieren nicht über Stoffe und Materialien, aus denen die Kopfbedeckungen hergestellt worden sind. Material jedoch schreibt ebenso Bedeutung wie Form und Funktion (vgl. Thomas Raff: Die Sprache der Materialien. Münster 2008). Das gilt nicht nur für Stahlhelme oder die „Vogelleichen auf Frauenköpfen“ (Friedemann Schmoll in: Rheinisch-Westfälische Zeitschrift für Volkskunde 44 [1999]), sondern ebenso für die wollene Jakobinermütze und den seidenen Foulard.
Die Faszination, die Kopfbedeckungen bei Museologen, Kuratorinnen wie Ausstellungsbesuchenden auslösen, liegt sicherlich darin begründet, dass die Bedeutungen vielfältig sind. Abhängig davon, wer wann warum wo eine Kopfbedeckung wählt und trägt, befindet sich diese in permanenter Bedeutungsfluktuation. Einem solchen Befund, der sich aus der Lektüre des Katalogs zwingend ergibt, hätte man einen eigenen Text zu Bedeutungszirkulation und Zeichenbezügen gewünscht. Und es stellt sich schon auch die Frage danach, ob der Strohzylinder aus dem Schwarzwald vor dem Hintergrund aktueller Forschung (vgl. Lioba Keller-Drescher: Tracht als Denkstil. In: Gudrun M. König, Gabriele Mentges u. Michael R. Müller [Hg.]: Die Wissenschaften der Mode. Münster 2015, S. 169–184) als „Trachtenhut“ bezeichnet werden sollte. Vielleicht liegt eine besondere Qualität darin, dass der Band Leserinnen und Leser zu Fragen nach Definitionen und Begriffen von Hut und Kopfbedeckung, nach dem Geschlecht der Hüte herausfordert. In jedem Fall bleibt von der Ausstellung „Hut ab!“ ein inhaltlich, ästhetisch und wissensdidaktisch sehr ansprechend wie sorgfältig verfasster Katalog.