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Aktuelle Rezensionen


Michaela Fink/Oliver Schultz

Das Ehrenamt in der Sterbebegleitung. Gegenwärtige Herausforderungen und künftige Chancen

(Kultur und soziale Praxis), Bielefeld 2021, transcript, 155 S. m. Abb., ISBN 978-3-8376-5725-8


Rezensiert von Ariane Scheidt
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 29.09.2022

Unsere Gesellschaft altert zunehmend, und Familien sehen sich aus verschiedenen Gründen nicht mehr in der Lage, sich um ihre Angehörigen an deren Lebensende zu kümmern. Deshalb sind alternde, pflegebedürftige und sterbende Menschen mehr denn je auf das ehrenamtliche Engagement ihrer Mitmenschen angewiesen. Mit steigendem Alter der Babyboomer, der deutschen Nachkriegsgeneration aus den 1950er und 1960er Jahren, und angesichts schrumpfender Bevölkerungszahlen wird ein wachsender Bedarf an Pflegepersonal prognostiziert. Ehrenamtliche Sterbebegleitung gewinnt somit an Bedeutung, gleichzeitig mangelt es vielen (jungen) Menschen an Zeit, ehrenamtliche Tätigkeiten in ihre komplexen Lebensalltage einzubinden. Welche Entwicklungen aus diesen Veränderungen resultieren, diskutieren Michaela Fink und Oliver Schultz in ihrer vorliegenden Arbeit. Zwischen September 2019 und Februar 2020 forschten sie am Institut für Soziologie der Justus-Liebig-Universität Gießen − gefördert durch das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend − zum Thema ehrenamtliches Engagement im Hospiz-Bereich. Ihre Studie verbindet die Untersuchung der ehrenamtlichen Sterbebegleitung hinsichtlich ihres strukturellen Aufbaus mit der Frage danach, mit welchen Herausforderungen die Hospizbewegung in der heutigen Zeit konfrontiert ist. Dadurch möchten Fink und Schultz auch Antworten auf die Fragen geben, wie neue Ehrenamtliche gewonnen werden können und wie sich ehrenamtliches Engagement mit einer hauptberuflichen Tätigkeit vereinbaren lässt. Sie knüpfen damit an die Debatten an, die seit einigen Jahren im Kontext der Care-Forschung geführt werden. Die Arbeit besteht inklusive Einleitung aus fünf Kapiteln, die verschiedene Teilaspekte der Hospizbewegung vorstellen und diese jeweils kontextualisieren.

In der Einleitung werden die Ausgangssituation, das methodische Vorgehen sowie die wichtigsten Ergebnisse dargestellt. Als Basis der Untersuchung dienten über 60 Interviews mit „Praktiker*innen und Expert*innen im Hospiz-, Gesundheits- und Sozialwesen sowie ausgewählten Unternehmer*innen“ (10 f.). Viele Ehrenamtliche engagieren sich über Hospiz- und Palliativstationen, die in einzelnen Landes- oder Dachverbänden organisiert sind. Ihre genaue Anzahl anzugeben, ist schwierig, da nicht alle Tätigkeiten erfasst werden, die zum Aufgabenbereich der Ehrenamtlichen gehören. Beispielsweise werden im Verband der Ersatzkassen e. V. nur Personen registriert, die als „förderfähig“ (18) klassifiziert sind. Förderfähig bedeutet in diesem Kontext, eine Basisschulung absolviert zu haben und „einsatzbereit“ (18) zu sein. Ehrenamtliche, die sich etwa in der Trauerbegleitung oder Spendenakquise betätigen oder aus privaten Gründen keine aktive Sterbebegleitung durchführen, werden in den jeweiligen Statistiken nicht berücksichtigt.

Zunächst werden Organisationen wie Wohlfahrtsverbände und Hilfsorganisationen vorgestellt. Zahlreiche Ehrenamtliche führen Besuchsdienste durch und verbringen Zeit mit Menschen in Hospiz- und Palliativeinrichtungen. Aufgrund der zwischenmenschlichen Bindungen, die durch diese Besuche entstehen, begleiten viele Ehrenamtliche die Bewohner*innen der Hospiz- und Palliativeinrichtungen bis in den Tod. Obwohl dieser Vorgang offiziell nicht als Sterbebegleitung deklariert ist, wird er als „informelle Sterbebegleitung“ (19) bezeichnet. Die Unterscheidung zwischen formeller und informeller Sterbebegleitung basiert auf der „zertifizierte[n] Ausbildung und Krankenkassenförderung“ (20). Auch gesellschaftliche Debatten, wie etwa das Urteil des Bundesgerichtshofs zum Thema Sterbehilfe, werden in diesen Kontext miteingebunden, von der Autorin und dem Autor allerdings nicht weiter diskutiert. Anhand der sogenannten „Grünen Damen und Herren“ (35), ehrenamtlichen Helfer*innen, die unter anderem Besuchsdienste anbieten und hierdurch das hauptamtliche Pflegepersonal entlasten, wird exemplarisch gezeigt, wie sich gesellschaftliche Veränderungen auf das Ehrenamt auswirken: Viele Frauen engagierten sich ehrenamtlich, nachdem die eigenen Kinder das Erwachsenenalter erreicht hatten. Da Frauen sich zunehmend für eine berufliche Karriere entscheiden und erst mit Eintritt in das Rentenalter in der Sterbebegleitung engagieren, fallen sie zum einen als Ehrenamtliche weg, zum anderen bleiben sie auch kürzer in den jeweiligen Organisationen. Obwohl sich zunehmend auch Männer engagieren, bleibt das ehrenamtliche Engagement ein weiblich dominiertes Feld. Während sich die Hospiz- und Palliativarbeit „überwiegend am säkularen Begriff der Spiritualität orientiert“ (51), liefern Fink und Schultz auch einen kurzen Einblick in die Sterbebegleitung aus religiös-geprägten Initiativen. So stellen sie das in Würzburg verankerte jüdische Gemeinschafts- und Kulturzentrum „Shalom Europa“ vor, welches die Angehörigen von Sterbenden begleitet. Der Wunsch nach kulturell vertrauten Sterberiten oder einem „gewissen Heimatgefühl“ (53) hat auch in islamischen Gemeinschaften eine besondere Rolle, worauf im Buch lediglich kurz hingewiesen wird.

Nicht nur die ehrenamtliche Sterbebegleitung sieht sich mit Herausforderungen konfrontiert, sondern auch Betreuungsvereine, die etwa volljährige Menschen betreuen, die nicht in der Lage sind, sich selbst um ihre Angelegenheiten zu kümmern. Strukturelle Probleme, wie etwa die geringe Vergütung für hauptberufliche Betreuer*innen, führen zu deren Überlastung und dadurch wiederum zum Bedarf an Ehrenamtlichen. Obwohl immer wieder der Wunsch nach einer stärkeren Beteiligung der jüngeren Generationen in der Hospiz- und Palliativarbeit geäußert wird, sehen einige Gesprächspartner*innen hier auch Konfliktpotenzial. Den unterschiedlichen Anforderungen hinsichtlich Schule, Studium, Berufseinstieg und Gestaltung der Freizeit gerecht zu werden, könne sich negativ auswirken auf die Bereitschaft, sich ehrenamtlich zu organisieren. Die einzelnen Interviewpartner*innen diskutieren daher weitere Werbemaßnahmen, wie etwa Tage der offenen Tür, Plakatierungen im öffentlichen Raum oder Social-Media-Auftritte. Dem Vorwurf einiger Gesprächspartner*innen, junge Menschen seien sich der Verantwortung einer ehrenamtlichen Tätigkeit nicht bewusst, widersprechen die Forschenden. Sie argumentieren, dass sich spätestens mit der Fridays-for-Future-Bewegung eine Jugend etabliert hat, die für Zukunftsfragen sensibilisiert und sich ihrer Handlungsmacht bewusst ist.

Abschließend fassen Fink und Schultz die Gründe für die derzeitige Krisensituation (schwindende religiöse Bindung und kirchliche Zugehörigkeit, fortschreitende Professionalisierung der Hospizarbeit) zusammen und unterbreiten konkrete Lösungsvorschläge. Diese beziehen sich vor allem darauf, die vorherrschenden Strukturen aufzuweichen und mit verschiedenen Multiplikator*innen in einen gemeinsamen Austausch zu treten. Zudem plädieren sie dafür, mittels neuer Arbeitsmodelle Anreize zu schaffen und nicht nur „finanziell besser Gestellte, formal gebildete und gesunde Menschen“ (132 f.) für ehrenamtliche Tätigkeiten zu gewinnen.

Die Hospizbewegung sieht sich mit zahlreichen Hürden konfrontiert. Michaela Fink und Oliver Schultz bieten mit ihrer Studie einen eindrucksvollen Blick in die komplexen Strukturen der Hospizbewegung, von der strukturellen Erfassung bis hin zur Vorstellung konkreter Lösungsvorschläge für einzelne Problematiken. Die Studie stellt einen wichtigen Beitrag zur Debatte um Anerkennung der Leistung von medizinischem beziehungsweise pflegerischem Personal dar, die bereits seit vielen Jahren im medialen, politischen und wissenschaftlichen Diskurs ausgetragen wird. Zudem regt sie dazu an, sich mit Themen wie Sterbeforschung oder ehrenamtlichem Engagement zu beschäftigen und die eigenen Handlungsmöglichkeiten zu überdenken. Die Lektüre ist für alle lohnenswert, die sich im Kontext kultur- und sozialwissenschaftlicher Forschung mit Alternsforschung, der Hospizbewegung, Sterben oder Ehrenamt beschäftigen. Nicht zuletzt informiert das Buch auch diejenigen, die nach Möglichkeiten suchen, sich selbst ehrenamtlich zu engagieren.