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Kommission für bayerische Landesgeschichte

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Aktuelle Rezensionen


Martin Mulsow (Hg.)

Das Haar als Argument. Zur Wissensgeschichte von Bärten, Frisuren und Perücken

(Gothaer Forschungen zur Frühen Neuzeit 21), Stuttgart 2022, Franz Steiner, 285 S. m. Abb., ISBN 978-3-515-11660-2


Rezensiert von Wolfgang Brückner
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 15.09.2022

Bei Gegenwartsbeobachtungen fällt uns beinahe täglich auf, was ständig Neues mit den Haaren aller Art geschieht. Den Ansagerinnen im Fernsehen hängen zurzeit lange blonde Strähnen von den Köpfen herab und Frauen wie Mädchen auf der Straße machen es ihnen nach. Öffentlichkeits-Männer hingegen, wie Fußballmillionäre, treten mit frisch gestylten Häuptern in den Arenen auf, meist im aktuellen Rasurschnitt für viel Geld arrangiert. Und die jugendlichen Fan-Helden auf der Straße versuchen es nachzuahmen. Auch nimmt die Zahl der Haarstudios zu, die das Entfernen von Körperhaaren erfolgreich betreiben.

An akademische Forschungsmoden unangepasste Programme der Kulturwissenschaften müssten hier also ein weites Feld finden. Bisher aber sind nur aufmerksame Journalisten vorangegangen. Bei dpa kursiert derzeit ein Text, bisweilen unter dem Titel „Männer zum Kraulen. Sind behaarte Männer attraktiv oder eher die glatten? Kommt jetzt nach dem Bart-Hype das Brusthaar als Zeichen der Männlichkeit zurück?“, sprich als „Dominanzmarker“. Wir Älteren an den Universitäten erinnern uns noch deutlich an die 68er-Bärte, getragen in bewusstem Bezug zu revoltierenden Studikern des frühen 19. Jahrhunderts, um die Staatsgewalt zu provozieren. Im 19. Jahrhundert trugen die Professoren lange, quasi humanistische Rauschebärte wie altgriechische Philosophen. Im 20. Jahrhundert haben das junge Polizisten neutralisiert, indem sie sich selbst Bärte zulegten. Das Alleinstellungsmerkmal war dahin.

Der Titel des zu rezensierenden Buches verrät allerdings schon, dass es sich dort um Texte und weniger um Haar-Realien, aber natürlich auch um Bilder handelt. Der Zeithorizont ist vor allem auf die letzten Jahrhunderte gerichtet. Beim Initiator Martin Wulsow handelt es sich um einen aus der Universität München stammenden Philosophen, der an der Universität Erfurt eine Professur für „Wissenskulturen der Europäischen Neuzeit“ innehat und Direktor des „Forschungszentrums Gotha der Universität Erfurt“ ist. Entsprechend lautet seine Einleitung: „Wissensgeschichte zwischen sozialen Körperpraktiken und gelehrten Diskursen“. In der ersten Aufsatzabteilung „Haarwissen und Medizin“ sind drei Beiträge aufgeführt: Carine van Rhijn, Lecturer der Universität Utrecht, stellt unter „Tangled Knowledge“ ein frühmittelalterliches Rezept gegen Haarausfall vor. Es folgt Natalia Bachour, Pharmaziehistorikerin der Universität Zürich und Stipendiatin der Gothaer Bibliothek, mit „Haare als Geheimmittel in der Islamischen Welt“. Dann der Frühneuzeithistoriker Stefan Hanß, Senior Lecturer der Universität Manchester, mit „Eidechsenöl, Fledermaushirn, Bärenschmalz und Taubenkot. Haarpflege als Körper-, Medizin- und Materialwissen im 16. und 17. Jahrhundert“. Er arbeitet an einem Buchprojekt „Hair, Social Order, and Cultural Encounters in the Habsburg World“.

Die zweite Abteilung ist mit „Rekonstruierte Haare in Kunst und Antiquarianismus“ überschrieben. Sie beginnt mit Dirk Jacob Jansen, Kunsthistoriker im Forschungsprogramm der Universität Erfurt, der unter „Curls as Clues. Titian, Strada, Peirce, and Morelli“ das Lockenschema in Kunstwerken als „Imperial Hair“ beschreibt, entgegen dem glatzköpfigen und bartlosen Cäsar (Tizianblond, Antoniushaar). Hier folgt der zweite Beitrag des Herausgebers Mulsow „Um des Kaisers Bart. Gelehrte Traktate ‚De barba‘ zwischen Späthumanismus und Numismatik“. Dann folgt Julia Saviello, Kunsthistorikerin der Universität Frankfurt am Main, mit „Uvae barbatae. Deplatzierte Bärte und ihr Platz in der Kunstgeschichte“, ausgehend von dem „Naturwunder“ der „bärtigen Trauben“ aus dem grafischen Bilderumkreis der Memorabilien als „Teufelszwirn“ in den illustrierten Flugblättern.

Die dritte Abteilung ist überschrieben mit „Religiöse Kämpfe, Decorum und Politik“ und enthält vier Beiträge, beginnend Irene von Renswoude, Professorin für Kulturgeschichte in Amsterdam, „The Cultural Significance of Baldness in the Early Middle Ages“. Die Autorin behandelt einen Traktat des 9. Jahrhunderts über die „Kahlheit“, sprich die Glatze. Dann folgt Dirk van Miert, Assistenzprofessor für Frühmoderne Kultur in Utrecht, der wiederum Texte interpretiert: „Early Modern Philologies on Hair. Hadrianus Junius’ Commentary on Hair (1556) and Boxhorn’s Little Mirrors (1644)“. Kai Merten, Professor für Anglistik in Erfurt, geht es um „‚Roundheads‘, ‚Soundheads‘ und ‚Hair in Characters‘. Zum Diskurs der Kurzhaarigkeit im englischen Bürgerkrieg“. Lucinda Martin, germanistische Bibliothekarin in Amsterdam, schreibt „Die ‚Mitteldinge‘ im Pietismus oder der seltsame Fall von Dittmars Bart und Gichtels Perücke“. Es geht um die in protestantischer Liturgie für unmaßgeblich und daher eigentlich für erlaubt erklärten Traditionen als Adiaphora. Doch in den 1670er Jahren stießen neuere „Moden“ des Outfits auf Widerstand, deklariert als Abzeichen der „Kinder der Welt“ im Gegensatz zu den erwünschten „Kindern Gottes“.

Die vierte und letzte Abteilung „Herrschaftsordnungen und Fremdwahrnehmungen“ enthält drei Beiträge. Alexander Schunka, Neugermanist der FU Berlin, beschäftigt sich in „Perfekter Halt“ mit dem „Haar auf Reisen in der Frühen Neuzeit“. Ines Eben v. Racknitz, Sinologin an der Universität Nanjing, skizziert in „Der Zopf als Argument“ eine „Wissensgeschichte der Haare in China“ und Kristina Kandler, Germanistin, die zurzeit in der Pharmazie tätig ist, betrachtet „Frisuren der Tugend und Untugend. Haar und Kopfputz im populären Medium des Gothaischen Hofkalenders“.

Alles in allem gute Argumente für relevante Forschungen und nicht bloß die Wahrnehmung von Kulturkuriosa. Die einstige Volkskunde hatte vor Jahrzehnten „Dinge“ als Zeichen mit Hinweischarakter benannt, weshalb man ihnen auf den Grund gehen und dazu Basismaterial in der Vergangenheit systematisch erheben muss. Gott sei Dank kümmern sich heute Historiker um das inzwischen fast generell verlassene Feld solch intensivierter Studien. Meine Urenkel werden es wiederentdecken, wenn sie Geschichtswissenschaften und deren mühsame Methoden konsequent studieren.