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Kommission für bayerische Landesgeschichte

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Reinhard Johler/Josef Wolf (Hg.)

Beschreiben und Vermessen. Raumwissen in der östlichen Habsburgermonarchie im 18. und 19. Jahrhundert

(Geschichtswissenschaft 16), Berlin 2020, Frank & Timme, 729 S. m. Abb. ISBN 978-3-86596-347-5


Rezensiert von Cornelia Eisler
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 01.09.2022

Der spatial turn hat das Verständnis von Raum grundlegend und nachhaltig transformiert und in den vergangenen drei Jahrzehnten Disziplinen übergreifend zu neuen Analyseansätzen geführt. Raum wird als ein Konstrukt verstanden, in das bestimmte Vorstellungen, subjektives Vorwissen, Beobachtungsergebnisse, Imaginationen und Visionen einfließen. Basierend auf dieser Entwicklung die Produktion von herrschaftlichem Raumwissen in der östlichen Habsburgermonarchie im 18. und 19. Jahrhundert aus unterschiedlichen Perspektiven in den Blick zu nehmen und die Raumvorstellungen kritisch zu hinterfragen, ist das Ziel der von Reinhard Johler und Josef Wolf herausgegebenen Publikation. Den Ausgangspunkt bilden die theoretischen Ansätze von Henri Lefebvre über Michel Foucault, Jacques Lacan bis hin zu Gilles Deleuze und Félix Guattari in Bezug auf die Ordnung von Informationen zu räumlichen Gegebenheiten, Vorstellungen und daran orientierten Handlungsmöglichkeiten sowie hinsichtlich der Zusammenhänge zwischen Wahrnehmen, Sehen, Beschreiben, Argumentierung und Imagination. Zu einem überwiegenden Teil besteht der Band aus Beiträgen, die sich mit der imperial-räumlichen Ordnung für Staatspolitik befassen und auf eine gleichnamige Tagung, die 2009 am Institut für donauschwäbische Geschichte und Landeskunde (IdGL) in Tübingen stattgefunden hat, zurückgehen (Tagungsbericht von Christine Hämmerling in: H-Soz-Kult, 15.12.2009). Neun weitere, thematisch ergänzende Aufsätze wurden hinzugefügt und somit sind insgesamt Geschichts- und Empirische Kulturwissenschaften, Europäische Ethnologie und Kulturanthropologie, Human- und Wirtschaftsgeografie, Regionalforschung, Kunstgeschichte sowie Militärwissenschaften vertreten. Das Banat, Marmarosch, Slawonien, die Bukowina und ungarische Regionen bilden die regionalen Schwerpunkte, doch auch Württemberg wird in zwei Beiträgen thematisiert, obgleich der Publikationstitel dieses komparative Potential nicht suggeriert.

Johler und Wolf geben einleitend einen prägnanten Überblick zum Forschungsstand über das „Raumwissen in der östlichen Habsburgermonarchie im 18. und 19. Jahrhundert“ und die einzelnen Beiträge, die sie in drei große Themenbereiche eingeordnet haben: 1) „Regionale Ausformungen der Landesbeschreibungen“ als Teil der Verwaltungskommunikation, 2) „Vermessen und Kartieren regionaler Räume“ und 3) aus wissenschaftshistorischer Sicht „Raumwissen in der frühmodernen Länderkunde, in der frühen Ethnographie und in der Kartographie“ (16). Die herrschaftliche Wissensproduktion brachte unter anderem Datenerhebungen, Statistiken, Karten, standardisierte Landesbeschreibungen und spezifische (Reise-)Berichtsformen hervor, die als Quellen auf ihre Entstehungsgeschichten, ihre historische Aussagekraft wie auf ihr epistemologisches Potential hin analysiert werden. Dabei führten die Vorgaben der Landeserfassung, des Beschreibens und Vermessens wiederum zu einer Informationsflut, die ihre eigenen Problematiken schuf. Um die Experten auf Reisen zum Vermessen und Beschreiben in die Regionen senden zu können, wurde offenbar im übertragenen Sinne mit einer „Blindheit“ des personifizierten Staates argumentiert, der gewissermaßen nicht regieren könne, solange er sein Territorium und dessen Bevölkerung nicht umfassend erkannt, verstanden und somit in abstrahierter Form für Herrschaft und Verwaltung handhabbar vor sich hätte. Eine ebenso wichtige Motivation lag in militärischen Zielen, vornehmlich in den Grenzregionen und bezüglich der Infrastrukturen wie Straßen und Wasserwegen, die Zugänge durch die Länder ermöglichten (hierzu die Beiträge von Xénia Havadi-Nagy, Erik Roth und Alexander Buczynski).

Zunächst jedoch führt Peter Becker mit einem kulturwissenschaftlichen Blick auf den zentralen Akteur der Gestaltung von Raumwissen, den „modernen Staat“ beziehungsweise dessen Herausbildung und sich entwickelnden Verwaltungsapparat, kurzweilig in die Thematik ein. Besondere Bedeutung sieht Becker in einer wissenssoziologischen Perspektive auf die staatlich generierten Erkenntnisse und die daraus sich ergebenen Möglichkeiten, die Schnittstellen zwischen staatlichen und regionalen Akteuren sowie ihre Gestaltungskraft zu untersuchen. Neben Pierre Bourdieus Ansatz, Herrschaft als soziale Praxis zu verstehen, sollte der Staat zudem als „Netzwerk von Akteuren […], die Wissen generieren“ (35) und mit diesem in die Gesellschaft wirken, betrachtet werden. Ganz konkret etwa kann die Informationserhebung, also das „Sehen“ durch einen abstrakten Staat, beispielsweise anhand der Übertragung analytischer Ergebnisse von Observationen und Beobachtungen durch Polizeibehörden, kritisch in den Blick genommen werden. Und schließlich verweist er auf die Möglichkeiten der Akteur-Netzwerk-Theorie, basierend auf Bruno Latours und Michel Callons Anregungen, durch die auch nicht-menschliche Akteure in die Analyse der Zusammenhänge zwischen moderner Staatsbildung und der neuartigen Möglichkeiten der Informationserhebung und -verarbeitung im 18. und 19. Jahrhundert einbezogen werden könnten.

Einen umfassenden Beitrag bietet Josef Wolf zu Landesbeschreibungen als quellenkundlicher Kategorie und den davon zu unterscheidenden Relationen (Berichten) im Zusammenhang mit den Neuordnungsprojekten des Temeswarer Banats. Im Zentrum steht bei Wolf die Frage nach der Ordnung der Bestände der Wiener Zentralstellen und der Banater Provinzialverwaltung hinsichtlich der „Vorstellung, Wahrnehmung und Beschreibung des Herrschaftsraums“ (59) sowie ihrer Rolle in der Verwaltungspraxis. Er setzt sich intensiv mit den Landesbeschreibungen als Wissensformaten auseinander.

Diese stehen auch im Zentrum der Beiträge von Wolfgang Zimmermann und Lioba Keller-Drescher, allerdings für Württemberg. Aus wissensethnografischer Perspektive stellt Keller-Drescher den epistemologischen Gehalt der Beschreibungen kritisch in Frage, verweist auf den komplexen Charakter sowie die widersprüchlichen und kontingenten Einflüsse auf den Prozess der Produktion solcher Wissensformate und betrachtet die Beschreibungen vorwiegend als „angeordnetes Wissen“ (211). Hinsichtlich einer vergleichenden Perspektive etwa mit den Bänden der „Österreichisch-Ungarischen Monarchie in Wort und Bild“ deutet Keller-Drescher das Potential, aber auch die Grenzen an. Für eine transnationale Perspektive sieht sie die Möglichkeit, das Milieu, den Plan und den Auftrag als analytische Zugänge in den Blick zu nehmen.

Die Vermessungen scheinen zugleich im Erfassen von ausgewählten beziehungsweise kategorisierten Realitäten sowie der Umsetzung von herrschaftsfördernden Imaginationen zu bestehen und somit, wie Antal Szántay darlegt, einer „administrativen ‚Landnahme‘“ (466) gleichzukommen. Szántays Beitrag beschäftigt sich mit der Erstellung und der Verwendung von Landesaufnahmen, Reiseberichten und ersten Katasteraufnahmen im josephinischen Ungarn. Die Materialien wurden von zeitgenössischen Akteuren allerdings nicht immer vollständig rezipiert, zuweilen gar als wertlos entsorgt.

Reinhard Johler gibt einen wissenschaftsgeschichtlichen, zeitlich weit gespannten Überblick über die Zusammenhänge der Ethnografien und Volkskunden, im Besonderen in ihrem ambivalenten Verhältnis zu kartografischen (Groß)Projekten. Sein Schwerpunkt liegt auf der Analyse des Schaffens sowie des Umfeldes zentraler Akteure in Österreich-Ungarn, wie etwa Michael Haberlandt, Karl Freiherr von Czoernig und Adolf Ficker. Bezugnehmend auf die Problematik der Kategorisierung (Sprachen, Ethnizität, Nationalität) argumentiert er, dass die Vorstellung der Monarchie von „ethnischer Verschiedenheit“ eben nicht nur im Kartenmaterial repräsentiert, sondern erst durch dieses hergestellt wird. Die Macht von Karten wiederum differenzierter zu betrachten und die Wirkkraft, die ihnen in geisteswissenschaftlichen Diskussionen zugesprochen wird, zu hinterfragen, ist ein Anliegen von György Pápay. Er analysiert in seinem Beitrag die Möglichkeiten der Raumbeherrschung durch die militärische Topografie.

Trotz des Verdienstes dieser anspruchsvollen und sehr umfangreichen Publikation ist darauf zu verweisen, dass neben kleineren redaktionellen Fehlern eine genderspezifische Schreibweise weitgehend unberücksichtigt blieb. Zudem ist die Verwendung der Fremdbezeichnung „Zigeuner“ (67, 108, 155, 164 f.) nicht als Zitat beziehungsweise ohne eine kritische, einordnende Erläuterung in einer historisch-ethnologischen Publikation als problematisch anzusehen, insbesondere da Borbála Zsuzsanna Török in ihrem instruktiven Beitrag „Ethnizität in der Statistik der ungarischen Spätaufklärung“ im letzten Themenbereich eine Einschätzung des Begriffs in den historischen Quellen vornimmt und auf seine abwertende Konnotation am Beispiel der „Spezialstatistiken“ von Martin Schwartner in Ungarn deutlich hinweist (578 f.).

In der Mehrheit verbinden die internationalen Beiträge in anspruchsvoller Weise einen einflussreichen Abschnitt der Geschichte des Habsburger Reiches mit beachtenswerten neueren Forschungsansätzen und nehmen das umfangreiche Quellenmaterial in staatlichen Archiven kritisch in den Blick. Für das Wissen um Räume sind politisch-administrative Strukturen und Ordnungen, wie sie hier dargelegt werden, von zentraler Bedeutung, da sie die Vorstellungen von moderner Staatlichkeit, Gebietsherrschaften mit festen Grenzen sowie die Annahme, dass innerhalb dieser wiederum homogene Gebilde geschaffen werden könnten, prägen. So lässt sich aus den Beiträgen ableiten, dass den staatlichen Aufträgen entsprechend gewissermaßen ein ‚imperial gaze‘ die Produktion von Raumwissen im Habsburger Reich prägte. Zugleich bildeten diese Erfassungen und Landesbeschreibungen in ihren auch bildlichen Repräsentationsmodi einen Teil der Visualisierung von Macht.