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Wolfgang Meixner

Zur Entstehung des Tiroler Volkskunstmuseums in Innsbruck

(Bricolage Monografien, Innsbrucker Studien zur Europäischen Ethnologie 4), Innsbruck 2020, innsbruck university press, 272 S. m. Abb., ISBN 978-3-99106-018-5


Rezensiert von Nina Gockerell
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 29.09.2022

Band 4 der „Bricolage Monografien“ erschien 2020, ist jedoch die Erstveröffentlichung einer sozialhistorisch angelegten Diplomarbeit von 1989 des Volkskundlers und Historikers Wolfgang Meixner. Da bis heute über sie hinaus nichts Nennenswertes zur Entstehungsgeschichte des Tiroler Volkskunstmuseums Innsbruck erschienen ist, hatte der Freundeskreis des Museums den Entschluss gefasst, diese Arbeit anlässlich seines dreißigsten Gründungsjubiläums sozusagen als Festschrift weitgehend unverändert zu publizieren. Neben editorischen Notizen der Herausgeber der Reihe und Vorbemerkungen des Autors wurde eine Liste relevanter Literatur seit 1989 angefügt sowie ein Bericht des derzeitigen Direktors Karl C. Berger über die Entwicklung – und das heißt vor allem, die Neuaufstellung – seit 2008. Der Wunsch des Freundeskreises, endlich die Geschichte der Institution, der er dient, schriftlich vorlegen zu können, ist ebenso verständlich wie die Entscheidung, die Arbeit unverändert in Diplomarbeitsform zu publizieren, zumal Wolfgang Meixner sich gleich nach dem Diplom in Dissertation und Habilitation ganz Themen der historischen Wirtschafts- und Sozialgeschichte zugewendet hat. Eine Straffung der hier vorliegenden Arbeit aus den achtziger Jahren, um sie schlanker und damit lesefreundlicher zu machen, kam für den Freundeskreis verständlicherweise nicht in Frage. So blieb ihr der sperrige Charakter der ersten großen Arbeit eines jungen Wissenschaftlers erhalten.

Denn wie es sich für eine akademische Abschlussarbeit gehört, wird das Thema in großer Gründlichkeit bis in alle greifbaren Verästelungen verfolgt und akribisch dargestellt. Dazu standen dem Autor in den achtziger Jahren zahlreiche relevante Quellen, die heute bekannt sind, aus unterschiedlichen Gründen (noch) nicht zur Verfügung; manche wurden bewusst zurückgehalten, andere wurden erst später zufällig aufgefunden. Seine Hauptquellen – und damit seine vielen Zitate – fand Wolfgang Meixner daher in den Sitzungsprotokollen beteiligter Institutionen wie Gewerbeverein, Handelskammer etc. sowie in der Regionalpresse.

Zum Einstieg schildern die ersten beiden Kapitel ausführlich die wirtschaftlich-soziale und die politisch-kulturelle Situation in Österreich und speziell in Tirol ab den 1860er Jahren und schaffen damit die Grundlage für das eigentliche Thema der Museumsgründung und Weiterentwicklung. Im Anschluss an die Darstellung der Parteienlandschaft der Region in der fraglichen Zeit diskutiert Meixner unter der Überschrift „Ethnizitätsbildung“ die für die spätere Museumsgründung wichtige Entwicklung, die eine auf den Begriffen religiös und patriotisch aufgebaute angeblich bäuerliche, tatsächlich jedoch von bürgerlicher Seite konstruierte Identität „der Tiroler“ mit Bestrebungen des frühen Tourismus und dem für Reisende besonders anziehenden Kunstgewerbe des Landes verbanden. Diese Entwicklung des beginnenden, auch vereinsmäßigen Denkmal- und Heimatschutzes führte zum Sammeln und Retten in Verbindung mit der „Entdeckung“ der Volkskultur und Volkskunst und zu den Bestrebungen, deren „Ausverkauf“ durch den (auch deutschen) Antiquitätenhandel entgegen zu wirken.

Es folgt die ausführliche Befassung mit dem Tiroler Gewerbeverein, seinen Mitgliedern, Publikationen, Ausstellungen und Zielsetzungen der „Hebung und Förderung des Gewerbewesens in Tirol“ (97). Diskussionen über Gewerbe, Kunstgewerbe, angewandte Kunst wurden unter den Protagonisten heftig geführt, die Teilnahme Tirols an den Weltausstellungen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bestärkte die Idee einer „Propagierung des Alpenlandes zum Zwecke der Hebung des Reiseverkehrs“ (113) und damit eine Schwerpunktverschiebung vom Handwerk auf die Präsentation einer vermeintlich typisch tirolischen Lebensweise und Kultur. Wolfgang Meixner schildert die unterschiedlichen Zielsetzungen und ihre oftmaligen Verschiebungen, Überarbeitungen und Neufassungen anhand vieler Zitate und lässt dadurch ein ebenso anschauliches wie zuweilen verwirrendes Bild der Lage entstehen, die Ende des vorvergangenen Jahrhunderts in Tirol die Grundlage zur Gründung des Tiroler Volkskunstmuseums bildete. Vor diesem Hintergrund wird seine Entstehungsgeschichte als Prozess in drei Phasen erarbeitet. Die Zeit von 1888 bis 1900 ist gekennzeichnet durch die ersten Bemühungen des Tiroler Gewerbevereins um die Gründung eines Museums zur Hebung der Qualität des Gewerbes durch die Präsentation ausgewählter Beispiele aus den unterschiedlichen Gewerken und damit verbunden ihrer Förderung. In der Folge werden die Versuche der Handelskammer diskutiert, diese Museumsidee umzusetzen, wobei sich im Laufe der Zeit die bereits erwähnte Verschiebung in der Zielsetzung dieser Gründung ergab: Das Museum sollte nun kurz gesagt ein Tiroler Nationalmuseum werden, in welchem nationale Kunst- und Kulturobjekte gezeigt werden sollten. Der Autor diskutiert anhand damaliger Publikationen die Veränderungen des Volkskunstbegriffs, der immer stärker in Richtung authentischer Äußerungen eines Volkscharakters interpretiert wurde. Doch die Überlegungen, ein Volkskundemuseum als Museum der Tiroler Volkskultur mit angeschlossenem Freilichtteil zu errichten, wurden recht bald – wohl zusätzlich aus finanziellen Gründen und bedingt durch den Ausbruch des Ersten Weltkriegs – aufgegeben.

Schließlich umfasst die dritte Phase die Jahre ab 1917, vor allem die Zeit nach der Übernahme der Aufgabe durch das Land Tirol bis zur Eröffnung als Tiroler Volkskunstmuseum im Jahr 1929. In den Jahren zuvor erfuhr die Zielsetzung des Museums durch verschiedene mit der Einrichtung Beauftragte wiederum mehrfache Änderungen, denn nun wurde zunehmend klarer, dass die Sammlung im 19. Jahrhundert vorwiegend nach ästhetischen Kriterien zusammengetragen worden war, was einen deutlichen Schwerpunkt auf dem Festlichen, dem Verzierten, dem Besonderen bedeutete. Damit allerdings stand Tirol nicht allein da, diese Entwicklung ist in allen einschlägigen, etwa gleich alten Sammlungen zu beobachten; überall quollen und quellen die Depots über von reich verzierten Hochzeitshauben, Unterwäsche sucht man vergebens. Dieses Beispiel lässt sich auf alle Sammlungsbereiche übertragen. Mit diesen Objekten ließen sich Tiroler Lebenswelten, die nun als Museumsziel propagiert wurden, nicht überzeugend darstellen. Man musste im Gegenteil in Tirol wie zeitgleich anderswo feststellen, dass die gesammelten Objekte erst durch das Sammeln zur „Volkskunst“ gemacht worden waren. Durch die Auswahl der gesammelten und ausgestellten Objekte wurde im Museum nun eine als einzigartig dargebotene Tiroler Volkskunst – und damit auch Volkskultur – erst geprägt. Heimat sollte gestiftet werden, auch wenn sie in der gezeigten Einschränkung auf das Bäuerliche längst nicht mehr der Realität entsprach. In den folgenden Jahren wuchs dem Museum zudem die Aufgabe zu, mit seinen Beständen an kompletten Stuben, Möbeln, Geräten, Textilien, religiösen Zeugnissen und bildlichen Darstellungen, von denen eine erstaunliche Zahl aus Südtirol stammt, die politisch verlorene, aber nie aufgegebene Einheit des Landes nördlich und südlich des Brenners zu bezeugen.

Das letzte, schmale, Kapitel umfasst die Zeit von 1938 bis in die späten 1960er Jahre. Über den Werdegang des Hauses in der NS-Zeit lag dem Autor außer einem späteren Aufsatz des damaligen Direktors Josef Ringler von 1962 kaum etwas vor. Erwähnenswert ist sicherlich der Aufstieg der ehemaligen Sekretärin Gertrud Pesendorfer zur zeitweiligen Direktorin, die sich ab 1938 aufgrund ihrer besonderen Nähe zum Gauleiter mit ihrer Mittelstelle Deutsche Tracht völlig ungehindert im Museum ausbreiten, den von ihr ausgeräumten Krippensaal als Schulungsraum der NS-Frauenschaft nutzen und Fresken mit religiöser Thematik verhängen lassen konnte. Die Gründung des Tiroler Heimatwerks 1934 und sein Schwerpunkt in der Trachtenpflege und -erneuerung nahm wohl manche Zielsetzung der späteren Jahre vorweg.

Von 1945 bis 1948 leitete erneut Josef Ringler das Museum, das 1948 als eine „Schatzkammer des Tiroler Volkes“ (215) wiedereröffnet wurde. Erstaunlicherweise tauchte nun der Gründungsgedanke des Tiroler Gewerbevereins, dem „ideen- und perspektivenlosen Handwerk“ (216) Anschauungsmaterial und Vorbilder zur Verfügung zu stellen, wieder auf. Nicht das tatsächlich Vorgefundene wurde in die Sammlungen aufgenommen, sondern bestimmte Gegenstände wurden auch ein Jahrhundert später wieder zu authentischer Tiroler Volkskunst erklärt. Die in den 1970er Jahren gezeigten Sonderausstellungen waren denn auch zu großen Teilen entweder kunsthistorischen Themen oder solchen des Kunstgewerbes gewidmet. Die Besucherzahlen des äußerst günstig mitten in der Stadt neben der dazugehörigen Hofkirche gelegenen Hauses entwickelten sich sehr gut, die Tiroler Tourismuswerbung bediente sich erfolgreich beim Bildmaterial des Museums und trug ein weiteres Mal zur Verfestigung und Befriedigung der Erwartungen an Tiroler Volkskunst bei.

Zur Neuaufstellung des Volkskunstmuseums seit 2008 hat Karl C. Berger einen kurzen Bericht beigesteuert; er beginnt mit dem Paukenschlag der Gründung der Tiroler Landesmuseen-Betriebsgesellschaft, unter deren Geschäftsführung das Landesmuseum Ferdinandeum und das Tiroler Volkskunstmuseum zusammengeschlossen wurden. Nach manchen Turbulenzen konnten schließlich die Direktorin Herlinde Menardi und der wissenschaftliche Mitarbeiter Karl C. Berger, beraten von Heimo Kaindl (Diözesanmuseum Graz) und Christoph Haidacher (später Tiroler Landesarchiv) mit der Erstellung eines gänzlich neuen wissenschaftlichen Konzepts beginnen. Martin Scharfe wurde – so Berger – zum „wichtigsten Mitkämpfer“ (264). Der Begriff „Volkskunst“ im Museumstitel wurde mit Bedacht belassen, zeugt er doch „als materielle Manifestation des kollektiven Gedächtnisses von den mannigfaltigen Bedeutungen und vom Nachleben historischer Kultur in der Gegenwart“ (265). Eine Schilderung der Themen und ihrer zuweilen szenischen Gestaltung, die alle Lebensbereiche von uns Heutigen mit einbezieht, soll hier nicht erfolgen. Schließlich kann sich jede und jeder Interessierte von Luzifer, dem Lichtträger, der als lästiger Störer in allen Abteilungen auftritt, an die Hand nehmen lassen, über seine aufmüpfigen Einwürfe nachdenken und so in die „neue Rolle des kritischen und selbstkritischen Museologen“ schlüpfen (266).

Aus der umfangreichen Darlegung der höchst wechselvollen Entstehungs- und Entwicklungsgeschichte des Tiroler Volkskunstmuseums lassen sich schließlich einige Ergebnisse herausfiltern, die zum einen mit der Historie ähnlicher Museen vergleichbar sind, sich zum anderen aber – und das ist sozusagen das Tiroler Alleinstellungsmerkmal – aus der Geschichte der Region ergeben haben. Auch das Bayerische Nationalmuseum in München, das größte Kunst-, Kunstgewerbe- und Kulturgeschichtsmuseum in Bayern mit einer umfangreichen volkskundlichen Abteilung wurde Mitte des 19. Jahrhunderts von König Maximilian II. „meinem Volk zu Ehr und Vorbild“ gegründet; als Vorbildersammlung für das heimische Gewerbe also und gleichzeitig zur Hebung des Nationalstolzes. Solche Gründungsgedanken finden sich in den Geschichten zahlreicher vergleichbarer Museen. Dass speziell Volkskundemuseen oder die volkskundlichen Abteilungen der Landesmuseen heute große Defizite in ihren Sammlungsbeständen feststellen müssen, weil die Vorgängergenerationen in erster Linie das außergewöhnliche, das schöne, das reich verzierte Objekt gesammelt und die Erwerbungen zudem oft nachlässig dokumentiert haben, verbindet alle diese Institutionen. Dass die Museen mit ihrer Auswahl die jeweils regionalspezifische „Volkskunst“ erst erschaffen haben, ist eine wichtige Erkenntnis der vorliegenden Diplomarbeit. Die zeitweise enge Verflechtung des Museums mit dem alpinen Tourismus ist dagegen eine Besonderheit, die durch die natürlichen Gegebenheiten Tirols ausgelöst und bestimmt wurde.

Dass volkskundliche Sammlungen während der Nazizeit durch eine gezielte Auswahl der gezeigten Objekte zur Demonstration des Deutschtums missbraucht wurden, lässt sich gewiss in zahlreichen österreichischen Museen, und nicht nur in diesen, aufdecken. Gleichzeitig wurden im Tiroler Volkskunstmuseum die überproportional vorhandenen, vor dem Ersten Weltkrieg erworbenen Ausstellungsstücke aus Südtirol und dem Trentino weggeräumt oder ihre Herkunft wurde verschleiert. Gerade diese Objekte aber waren, wie erwähnt, in den Zwanzigerjahren ganz bewusst zur Betonung der Einheit Tirols nach dem Verlust der südlichen Landesteile nach dem Ersten Weltkrieg eingesetzt worden. Das Tiroler Volkskunstmuseum hat, das wird in der Arbeit klar, mehr als andere unter politischer Indienstnahme gelitten. Die gegenwärtige Präsentation bemüht sich, wie Karl C. Berger in seinem Abschlussbeitrag schreibt, auf vielfältige Weise auch um Ausgewogenheit und politische Korrektheit, schon allein dadurch, dass alle Beschriftungen in deutscher, italienischer und englischer Sprache (in dieser Reihenfolge!) abgefasst sind sowie dadurch, dass in den italienischen Texten die italienischen Namen von Orten und Landschaften in Südtirol und dem Trentino verwendet werden. Es ist die Schilderung der verantwortungsbewussten Diskussionen, die zu solchen Entscheidungen geführt haben, die den Band sehr bereichern.