Logo der Bayerischen Akademie der Wissenschaften

Kommission für bayerische Landesgeschichte

Menu

Aktuelle Rezensionen


Leonie Herrmann/Ina Hagen-Jeske/Günther Kronenbitter/Lisa Wagner/Yaprak Şen (Hg.)

Zurückgespult. Arbeit und Alltag von AugsburgerInnen aus der Türkei

München 2021, Allitera, 163 S. m. Abb., ISBN 978-3-96233-293-8


Rezensiert von Fatma Sagir
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 01.09.2022

Pünktlich zum 60. Jahr des Anwerbeabkommens zwischen der BRD und der Türkei legt die Augsburger Kulturanthropologie einen wichtigen Beitrag zur Nachkriegsgeschichte der Bundesrepublik vor. Er trägt dazu bei, die klaffende erinnerungskulturelle Lücke in dieser Geschichte in den kommenden Jahren zu schließen.

Mit dem griffigen Titel „Zurückgespult“ und dem ästhetisch gelungenen Cover schlägt dieser Band, ausgehend von einem erinnerungskulturellen Ausstellungsprojekt zur Augsburger Stadtgeschichte, den Bogen von der ersten Arbeitsmigration der 1960er Jahre über die Lebenssituation der dritten Generation der Nachfahren dieser „Gastarbeiter“ bis zu gegenwärtigen gesellschaftspolitischen Diskursen um Identität, Heimat und Zugehörigkeit (11). Das gelingt durch eine Fülle an Quellen. Da ist zunächst einmal die Expertise jener Zeitzeugen, die in der Augsburger Kammergarnspinnerei (AKS) arbeiteten. Interviews in türkischer und deutscher Sprache sowie ein reiches Material an Fotos und Zeitungsausschnitten dokumentieren das Leben dieser ersten sogenannten Gastarbeitergeneration in der Stadt Augsburg (9–13). Diese Primärquellen ergänzt eine theoretische Einordnung analytischer Termini zum Themenkomplex Identität und Differenz (139–146), gefolgt von einer Reflexion zum partizipativen Ausstellungsprojekt „Augsburg 2040 – Utopien einer vielfältigen Stadt“ am Staatlichen Textil- und Industriemuseum  Augsburg (147–157), in dessen Rahmen dieser Band entstanden ist.

Der Aufbau folgt der Chronologie der Einwanderungsgeschichte und widmet sich wichtigen Praktiken und Institutionen des Alltagslebens, wie etwa den Lebensmittelläden, Restaurants (83 f.), Banken, dem Schulalltag (118–124), dem religiösen und spirituellen Leben, dem Sport- und Freizeitverhalten (82) und schließlich bis in die dritte Generation, beinah ikonisch hier die Jugendzentren (85, 127–138), die für viele, vor allem männliche Jugendliche eine Anlaufstelle waren.

Was diesen Band besonders macht, sind die vielen Zeitzeugeninterviews, die nicht nur über die Härten des Arbeitslebens und ein Leben in der Fremde Aufschluss geben (29–36), sondern zudem über einen in der öffentlichen Darstellung selten berücksichtigten Bereich: den des privaten Alltags- und Freizeitlebens. Diese persönlichen, teilweise sehr berührenden Interviews, wie etwa das, welches die Enkelin eines ehemaligen Gastarbeiters mit Verwandten und Freunden führte, zeigen, wie diese erste Generation heute lebt und was sie von der Gesellschaft erwartet: Wertschätzung (36). „Doch was sie bewegt, hat bislang kaum jemand aufgeschrieben und archiviert. Das soll sich nun ändern“ (36), schreibt Yeliz Taşkoparan. Und dieser Band leistet einen Schritt in diese Richtung.