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Kommission für bayerische Landesgeschichte

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Aktuelle Rezensionen


Hans-Peter Hübner/Klaus Raschzok (Hg.)

Evangelische Friedhöfe in Bayern

München 2021, Franz Schiermeier, 580 Seiten mit Abbildungen, ISBN 978-3-948974-04-6


Rezensiert von Barbara Happe
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 13.03.2023

Der vom Oberkirchenrat Hans-Peter Hübner und dem praktischen Theologen Klaus Raschzok herausgegebene Band präsentiert unterschiedliche Perspektiven auf den evangelischen Friedhof und die evangelische Bestattungskultur. Die Reformation brachte mit der protestantischen Rechtfertigungslehre auch einen Paradigmenwechsel in der Auffassung über Friedhöfe mit sich, die sich von Orten des memento mori zu Andachtsorten der Lebenden entwickelt haben. Vor diesem Hintergrund bildete sich eine protestantische Friedhofskultur heraus, die hier in all ihren Facetten von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus Fachrichtungen wie Kultur- und Kunstwissenschaft, Theologie, Geschichte und Landschaftsplanung sowie aus ihrer Praxis heraus von Pfarrern und Bestattern untersucht wird. Dabei geht es den Herausgebern darum, „das Bewusstsein für den hohen Wert des kirchlichen Arbeitsfeldes Friedhof“ zu stärken und einen „Beitrag zur Sicherung und Weiterentwicklung“ der Friedhofskultur zu leisten (13). Der Band gliedert die Aufsätze in sechs Themenbereiche, beginnend mit Glauben und Frömmigkeit. Der zweite Abschnitt beschäftigt sich mit Fragen zu „Gestalt und Gestaltung des Friedhofs“, im dritten Teil geht es um „Friedhöfe und Gräberfelder anderer konfessioneller oder religiöser Prägung“, Teil vier untersucht den Friedhof und das Bestattungswesen als kommunale Aufgaben und der fünfte Abschnitt zeigt Beispiele der Bewahrung der materiellen Friedhofskultur. Abschließend werden nach historischen Einlassungen vor allem Zukunftsperspektiven des evangelischen Friedhofes diskutiert. Das etwa 2700 Gramm schwere, großformatige Werk ist ungewöhnlich reich bebildert, die rund 700 Farbfotografien stammen allesamt aus der Hand des Architekturfotografen Gerd Hagen und verleihen dem Buch ein geschlossenes und stimmiges Erscheinungsbild. Historische Fotografien, Stiche, Zeichnungen und Pläne illustrieren die Einzelbeiträge.

Angesichts des großen Umfangs dieses beeindruckenden Werkes werden hier aus jedem Themenfeld nur exemplarisch einige Beiträge präsentiert. Im Abschnitt zur protestantischen Frömmigkeits- und Friedhofskultur stellt Andrea K. Thurnwald Grabmäler auf evangelischen Friedhöfen vor, die vorwiegend aus dem 19. und den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts stammen. Ob sie genuin protestantisch sind oder ob es sich, wie bei den Galvanoplastiken und Engelskulpturen, um allgemeine Modeerscheinungen fern der Konfession handelt, wird nicht thematisiert. Auch der Beitrag von Norbert Fischer über den „Friedhof der Zukunft“ hebt nicht unbedingt auf die Eigenheiten protestantischer Friedhöfe und deren Grabmalkultur ab.

Reiner Sörries stellt Friedhofsportale vom 16. bis ins 20. Jahrhundert als religiöse und politische Dokumente vor. Er beschreibt sogenannte Wehrkirchhöfe, deren Portale in Kriegszeiten fortifikatorische Zwecke hatten und das gleiche bauliche Erscheinungsbild wie Stadt- und Burgtore aufweisen. Bei außerstädtischen protestantischen Friedhöfen des 16. Jahrhunderts wurden die Eingänge zu „religiösen Manifesten und politischen Urkunden“ (132), die das reformatorische Bekenntnis und die neue weltliche Trägerschaft dokumentieren. So verewigen sich in den Inschriften weltliche Bauherren wie Bürgermeister, Ratsherren und private Stifter. Im 19. Jahrhundert suchten dann kommunale wie kirchliche Friedhofsträger nach populären Botschaften, die sie wie in Nürnberg mit Stadtwappen und religiösen Symbolen garnierten. Auf dem 1907 eröffneten Münchner Waldfriedhof zeugen schließlich ägyptisierende Sphingen von einer diffusen Jenseitsperspektive. Auf dem Friedhof in München-Riem ist jegliche religiöse Perspektive verloren gegangen, doch weist Sörries auch auf Beispiele hin, die neuerdings mit einer christlichen Botschaft auf den Toren aufwarten. Da sich diese zwei Beispiele im ländlichen Bereich befinden, dürfte es sich um Ungleichzeitigkeiten in der sicher nicht stringent verlaufenden Entwicklung der Säkularisierung handeln.

Reinhard Hüßner untersucht die Friedhofskanzeln als eine bauliche Besonderheit im südlichen Maindreieck. Die freistehenden Predigtstühle seien fester Bestandteil der im Laufe des 16. Jahrhunderts entstandenen außerörtlichen evangelischen Arkadenfriedhöfe gewesen. Hüßner skizziert die protestantische Eschatologie und die damit verbundene Auflösung der Heiligkeit der Dinge und betont, dass die evangelische Lehre sich im Zuge der Gegenreformation mit der Darstellung sichtbarer Zeichen zu behaupten suchte. Sicher gibt es die bekannte Häufung der Freikanzeln im südlichen Maindreieck, doch waren sie – wie die Rezensentin und andere Autoren nachgewiesen haben – auch in anderen protestantischen Regionen, vornehmlich in Thüringen, verbreitet. Günter L. Niekel widmet sich dem einstigen baulichen Ensemble von Kirche, Friedhof und Pfarrhaus. Er beschreibt einige Beispiele, die durch ihre malerische Qualität auffallen und konstatiert, dass das „Nebeneinander von Kirche, Pfarrhaus bzw. Pfarrhof und Friedhof auf dem Land meist noch die Regel“ (152) sei ‒ ein Befund, der durchaus Erstaunen auslöst. Im Beitrag von Gerhard Hausmann werden die 76 evangelischen Friedhofskirchen aufgeführt, die sich vornehmlich in den protestantischen Kerngebieten im Norden Bayerns befinden. Neben ihrer bloßen Nennung ergänzt um Baudaten gibt er für ausgewählte Beispiele knappe Baubeschreibungen und Hinweise auf die Bildprogramme, die zumeist aus Kreuz und Auferstehung bestehen. Helmut Braun fragt, ob Kunst dazu beitragen könne, Friedhöfe in Orte der heiteren Meditation zu verwandeln. Ihm geht es um Eingriffe von zeitgenössischen Künstlern in bestehende Friedhofslandschaften mit einer aus seiner Sicht eher kitschigen Grabmalgestaltung. Als temporäre Installation auf dem Johannisfriedhof in Nürnberg stellt er unter anderem die Aufstellung von 25 gelben Sonnenschirmen vor, die unwillkürlich die Assoziation an die „Umbrellas“ von Christo und Jeanne Claude wecken. Im Einklang mit dem seriellen Charakter der Grabsteine verleihen die Schirme diesem Gräberfeld eine fröhliche und charmante Note. In dauerhaften Kunstwerken wie einer Skulpturengruppe auf dem Friedhof in Augsburg oder den Stahlskulpturen „Lebensbogen“ des Bildhauers Thomas Röthel auf dem Friedhof Mönchsroth in Mittelfranken sieht Braun eine kulturelle Belebung des Friedhofes und die Chance ihn als wertvollen Kulturraum stärker ins Bewusstsein zu rücken (173). Durch künstlerische Interventionen und ungewöhnliche Sichtweisen könne der Friedhof zu einem „lebendigen Denk- und Experimentierraum erweitert“ (173) werden.

Günter Dippold befasst sich im Kapitel „Friedhöfe und Gräberfelder anderer konfessioneller oder religiöser Prägung“ mit der Entwicklung der katholischen Friedhöfe in Bayern. Er zeigt exemplarisch, dass es nach der Reformation auch vereinzelt in katholischen Ortschaften Bestrebungen zur Anlage außerörtlicher Friedhöfe gab, diese dann aber nur sehr zögerlich und nicht dauerhaft genutzt wurden. In Forchheim beispielsweise übertrug der Bamberger Fürstbischof 1564 der Kommune einen außerstädtischen Acker mit der Maßgabe, ihn mit einer Mauer einzufrieden, eine Kapelle zu errichten und das Areal als Friedhof zu nutzen. Die 1564 geweihte Kirche wurde bereits 1632 aus fortifikatorischen Gründen wieder abgebrochen und die Begräbnisse fanden weiterhin auf dem Kirchhof um die Pfarr- und Stiftskirche statt. So gilt es für die Diskussion über konfessionelle Unterschiede in der Haltung zu außerörtlichen Friedhöfen festzuhalten, dass bis in das 19. Jahrhundert „in der überwiegenden Mehrzahl der katholischen Orte […] der ummauerte Kirchhof mit Gräbern rund um das Gotteshaus die Normalität“ bildete. Hier „schaarte sich die unterirdische und irdische katholische Gemeinde um ihren gemeinsamen Oberhirten im allerheiligsten Sakramente“, zitiert Dippold sehr treffend einen Pfarrer aus dem Bamberger Land um 1860 (196).

Christine Schlott skizziert die Veränderungen im Bestattungsgewerbe angesichts der fortschreitenden Säkularisierung. Da dieser Prozess im Osten Deutschlands bekanntlich am schnellsten eingesetzt hat, wählt sie als Beispiel die Entwicklung des Berufsstandes in Leipzig. Hierüber hat sie auch ihre Dissertation verfasst. Ihre These, dass „die grundsätzlichen Entwicklungen sich analog für den (groß-)städtischen Bereich in Bayern beobachten“ lassen, entbehrt leider jeglicher Begründung. Der Pfarrer Rainer Liepold schildert das Verhältnis zwischen Kirche und Bestattern als ein Ringen zwischen Kooperation und Konkurrenz. Aufgrund des Funktionszuwachses der Bestatter haben diese zumeist den Erstkontakt bei einem Trauerfall und die Kirchen werden zusehends marginalisiert. Denn Bestattungsfirmen verstehen sich heutzutage auch als Ritualdesigner mit einem vielfältigen Angebot. Sein Plädoyer gilt einem fairen und kooperativen Miteinander.

Im Themenkomplex „Bewahrung der (materialen) Friedhofskultur als gesellschaftliche Aufgabe“, in dem verschiedene Initiativen zur Rettung und Erhaltung wertvoller Friedhofssubstanz vorgestellt werden, berichtet Christian Schmidt über die Aktivitäten des 2015 gegründeten Nürnberger Vereins „Epitaphienkunst und -kultur e. V.“. Er hat es sich zur Aufgabe gemacht, die Friedhofsverwaltung bei der Erhaltung der Epitaphien zu unterstützen (251). Es handelt sich um Bronze- oder Messingepitaphien, die vor rund 500 Jahren auf den einheitlichen Grabsteinen der Friedhöfe St. Johannis und St. Rochus angebracht wurden. Mithilfe einer Spende des Rotary Clubs konnten vier Epitaphien restauriert werden, von denen ein sehr originelles Exemplar hier kurz vorgestellt werden soll. Unter einer Inschriftenkartusche findet sich die Darstellung eines aufrecht sitzenden Bären vor einem Radschloss, über dessen Kopf sieht man drei Sterne. Es handelt sich offenbar um einen „Zeidelbären“, der es auf den Honig in hohlen Waldbäumen abgesehen hat. Die Imker hatten eine Bärenfalle in Form des abgebildeten Radschlosses konstruiert, das wiederum der verstorbene Büchsenmacher gefertigt hatte. Die drei Sternchen sah der Bär, wenn der Hammer des Radschlosses ihm beim Versuch des „Honigdiebstahls“ einen Hieb auf seine Nase versetzte. Der Büchsenmacher Morgenroth soll sein Meisterzeichen „Bär“ in das Radschloss eingraviert haben. Dies ist ein wunderbares Zeugnis für die Sprach- und Erzählfreudigkeit früherer Grabzeichengestaltung.

Im letzten Teil des Buches erfasst Renate Kleiber-Müller detailliert die Bestattungs- und Trauerkultur ordensähnlich organisierter Gemeinschaften. In einigen evangelischen Gemeinschaften in Bayern haben sich spezifische, teilweise ins 19. Jahrhundert zurück reichende Traditionen entwickelt, die hier akribisch erhoben werden. Es handelt sich etwa um Rituale des Sterbens, der Aussegnung und Einbettung, um verschiedene Formen der Todesmitteilung oder Gepflogenheiten der Beisetzung. Kleiber-Müller hat vierzehn Gemeinschaften intensiv auf ihre traditionellen und heutigen Erinnerungs- und Ritualpraktiken befragt und macht beispielhaft deutlich, wie selbst in diesen traditionsverhafteten Gemeinschaften eine Dynamik herrscht, die überlieferte Tätigkeiten wegbrechen lässt. Gleichwohl sieht sie ein bemerkenswertes Bemühen um das Bewahren der Erinnerung an diejenigen Verstorbenen, die kein sichtbares Grab mehr haben (288). Hans-Peter Hübner und Ulrike Kost geben angesichts gesellschaftlicher Veränderungen, die zu den bekannten Wandlungen in der Friedhofs- und Bestattungskultur wie zum Beispiel der Zunahme von Urnengräbern, zum spürbaren Rückgang von Familiengräbern oder zur Bevorzugung neuer Bestattungsorte jenseits des herkömmlichen Friedhofes führen, Impulse für eine attraktivere Gestaltung des Lebensraums Friedhof für die Hinterbliebenen. Sie sind sich dessen bewusst, dass dies mit einem erheblichen Mehraufwand an Kosten und Kreativität sowie einer breiten Palette an Kenntnissen und Erfahrungen verbunden ist (313). Ihre Orientierungshilfen für die Friedhofsträger und Kirchengemeinden sind im besten Sinne hilfreich, denn sie beinhalten konzeptuelle und konkrete Aufgaben für die Verwaltungen und die Kirchengemeinden. Seit 2019 werden umfassende Stammdaten der ca. 640 evangelisch-lutherischen Friedhöfe in Bayern erhoben, die für strategische Beratungsprozesse ausgewertet werden sollen, um diesen ambitionierten Anforderungen gerecht zu werden.

Im Anhang dieses außerordentlich breit gefächerten Bandes findet sich ein Verzeichnis sämtlicher sich in evangelisch-lutherischer Trägerschaft befindlicher (und heute noch genutzter) Friedhöfe in Bayern. Das Buch ist ein hervorragendes Beispiel für die Vielfalt und Breite der protestantischen Friedhofs- und Bestattungskultur in Bayern. Es gibt Einblicke in historische Überlieferungen aber auch in die aktuellen Problemlagen einer protestantischen Sepulkralkultur, die kreativer und weltoffener Lösungen bedürfen. Nicht zuletzt unterstützt das sehr gut und mit höchster Sorgfalt gestaltete Erscheinungsbild eine anregende Lektüre für alle, die auf unterschiedliche Weise mit dieser Thematik befasst sind. Der Band wird sicher eine Art Kompendium, das man immer wieder zur Hand nimmt, um sich sachkundigen Rat zu holen.