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Kommission für bayerische Landesgeschichte

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Aktuelle Rezensionen


Clemens Brodkorb/Dominik Burkard (Hg.)

Neue Aspekte einer Geschichte des kirchlichen Lebens. Zum 10. Todestag von Erwin Gatz (1933–2011)

Regensburg 2021, Schnell & Steiner, 384 Seiten


Rezensiert von Stefan Heid
In: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte
Erschienen am 04.04.2023

Prof. Dr. Erwin Gatz, von 1975 bis 2010 Rektor des Campo Santo Teutonico und Direktor des Römischen Instituts der Görres-Gesellschaft, starb am 8. Mai 2011 in Maastricht. In Erinnerung ist er vor allem als Kirchenhistoriker, der durch mehrbändige Handbücher und Lexika zur deutschen Kirchen- und Bistumsgeschichte hervorgetreten ist. Zu seinen Ehren sollte zum 10. Todestag am Campo Santo Teutonico eine Tagung stattfinden, deren Referate nun vorliegen.

Herausgeber sind Clemens Brodkorb, Archivleiter des Münchener Provinzarchivs der zentraleuropäischen Jesuiten, und Dominik Burkard, Professor für Kirchengeschichte an der Katholisch-theologischen Fakultät der Universität Würzburg. Ihre Auswahl der Autoren und Themen ist so gewählt, dass man in ihren Beiträgen durch den ganzen Band hindurch auch viel über die Persönlichkeit von Erwin Gatz erfährt, besonders natürlich in der gelungenen Biographie aus der Feder von Clemens Brodkorb, die an den Anfang gestellt ist.

Der Band gliedert sich in zwei Teile: Der erste „Scientia“ enthält 12 wissenschaftliche Beiträge, es folgen im zweiten Teil „Memoria“ Grußworte von Rektor Hans-Peter Fischer und von Abt Korbinian Birnbacher, sowie die im Mai am Campo Santo verlesene Predigt des Augsburger Bischofs Bertram Meier zum 10. Todestag von Erwin Gatz.

Im Folgenden werden die Beiträge des Teils „Scientia“ vorgestellt, in vom Buch abweichender Reihenfolge.

Joachim Bürkle aus Würzburg spricht auf der Grundlage einschlägiger Bestände des Archivs des Campo Santo Teutonico über die Studienkurse für Religionslehrer höherer Schulen in Rom am deutschen Kolleg von 1959 bis 1970. Die Lehrerseminare, überwiegend von Geistlichen frequentiert, waren eine erfolgreiche, damals moderne Initiative von Rektor August Schuchert mit starker Beteiligung auch des Görres-Instituts. Die Initiative wollte einer Entwicklung des modernen Medienzeitalters gegensteuern, derzufolge sich durch Funk und Fernsehen die klerikale Bildungsautorität in der deutschen Gesellschaft zusehends verflüchtigte. Bemerkenswert war dabei die politische Vernetzung des Rektors Schuchert mit dem Adenauer-Deutschland.

Rainald Becker aus München bringt eine Studie über amerikanische Priester am Campo Santo Teutonico, oder wie er im Rückgriff auf ein zeitgenössisches Zitat des Institutsdirektors Anton de Waal von 1899, formuliert, über den „Austausch unter ,Stammesbrüdern‘ diesseits und jenseits des Atlantiks“ (S. 151). Der Campo Santo war nie rein deutsch. Das beweist Becker. Seit 1900 entwickelte er sich zu einer „römischen Schnittstelle im Kontakt zwischen deutschem und amerikanischem Katholizismus“ (S. 138). Becker weist auf die sozialgeschichtlichen Hintergründe, insofern die Amerikaner aus den deutschen katholischen Einwandererpfarreien, den sog. German Catholic parishes, stammten. Der Erste Weltkrieg brachte einen tiefen Einschnitt, da es zu einer rückhaltlosen Assimilierung der deutschstämmigen Amerikaner an die anglophone Mehrheitsgesellschaft kam (S. 151). Zu ergänzen ist, dass es nochmals in den 1920er und 1930er Jahren eine starke Präsenz der Nordamerikaner im deutschen Kolleg gab, bis dann der Zweite Weltkrieg zum endgültigen Ende führte.

Josef Pilvousek aus Erfurt lenkt die Aufmerksamkeit auf die nicht zu unterschätzende Rolle von Gatz, der seit den 1980er Jahren regelmäßig die DDR besuchte, für die ostdeutsche Kirchengeschichtsschreibung. Sein Einfluss richtete sich eher gegen eine Theoretisierung der Katholizismusforschung: Er zog Ereignisgeschichte der Sozialgeschichte vor.

Gisela Fleckenstein aus Speyer schreibt über den Frühling der Frauenkongregationen im 19. Jahrhundert. Das Thema hängt zweifellos auch mit Gatz zusammen, der sich in seinen frühen Jahren intensiv mit den karitativen Frauengemeinschaften im Rheinland und in Westfalen beschäftigt hat. Der Beitrag geht etwas in die sozialgeschichtliche Richtung, weil sich das Massenphänomen weiblicher Ordenseintritte im 19. Jahrhundert für entsprechende Überlegungen über katholisches Milieu und katholische Bürgergesellschaft anbietet. Darin liegt viel von weiblichem Unternehmertum – überhaupt waren Kongregationsschwestern die ersten Unternehmerinnen.

Hans-Georg Aschoff aus Hannover diskutiert die Stellung der deutschen Bischöfe zu den christlichen Parteien nach dem Zweiten Weltkrieg. Das kirchliche Leben in Deutschland war ohne sie nicht denkbar. Die CDU war eine Art politischer Bühne der Ökumene, weil in ihr – historisch gesehen – konfessionell unterschiedliche Christentümer unter einen Hut gebracht wurden. Aschoff beleuchtet im Einzelnen, wie die Bischöfe nach dem Zweiten Weltkrieg das Zentrum fallen ließen und stattdessen der neuen CDU den episkopalen Ritterschlag gaben.

Zur neueren Entwicklung des kirchlichen Lebens in der Schweiz und in Österreich äußern sich Franz-Xaver Bischof aus München und Michaela Sohn-Kronthaler aus Graz. In beiden Beiträgen geht es kenntnisreich um die jüngsten Trends im kirchlichen Leben vor dem Hintergrund sozialempirischer Erhebungen. Für die Schweiz spielt das duale Kirchensystem eine besondere Rolle. Völlig anders ist Österreich aufgestellt, aber auch hier herrscht derselbe Transformations- und Pluralitätsdruck durch die allgemeingesellschaftliche Dynamik. Die Kirchen verlieren an Kraft: Sie treten nicht mehr pro-, sondern re-aktiv auf.

Der Beitrag von Benedikt Kranemann aus Erfurt behandelt das Priesterbild im 19. Jahrhundert im Spiegel der sog. „kleinen Liturgiken“, also kurzer Liturgiebeschreibungen für Priester oder auch Laien.

Bernhard Schneider aus Trier schreibt weitgefasst über „Frömmigkeit und Macht“, da er hier eine doppelte Lücke im Werk von Erwin Gatz ausmacht (S. 256). Der Machtdiskurs wird von Schneider kombiniert mit dem Aspekt der Frömmigkeit, sofern Macht über die Frömmigkeit ausgeübt wird. Bezüglich „geistlichen Missbrauchs“ klopft Schneider ein großes Spektrum ab: Machtausübung durch Liturgie, Gebetsbücher, Exerzitien, Askese, und sogar Bruderschaften werden als Opfer der Machtausübung ausgemacht, nämlich dann, wenn sie unter die Kuratel der Bischöfe geraten (S. 271), die sie für ihre reformerischen Zwecke einspannen und dabei ihrer Autonomie berauben.

Dominik Burkard aus Würzburg stellt kirchenhistorische Überlegungen zum kirchlichen Umgang mit sexuellem Missbrauch durch Kleriker an. Sexueller Missbrauch ist natürlich keine klerikale Exklusive, der Klerus stellt zahlenmäßig einen geringen Teil der Bevölkerung dar. Es bleibt also abzuwarten, ob auch eine Bearbeitung des sexuellen Missbrauchs im staatlichen, gesellschaftlichen und familiären Bereich erfolgen wird. Worum es Burkard aber in erster Linie geht, ist eine Belehrung der kirchlichen Akteure, wie man aus historischer Sicht an dieses Thema herantreten sollte und was die historischen Rahmenbedingungen bei der Bekämpfung des Übels heute sind.

Burkard stellt dann einige kluge Richtlinien auf, was aus Sicht eines Historikers in der Aufarbeitung sexueller Übergriffe oder auch einfach kriminellen Verhaltens zu beachten ist. Er beleuchtet erstens die Schwierigkeit im Umgang mit den Quellen, zweitens die Schwierigkeit, Verantwortlichkeit zu definieren und zu gewichten. Sein dritter Aspekt ist der Wichtigste, weil der genuin historische. Burkard macht auf den Systembruch durch die Säkularisation um 1800 und die damit verbundene völlige Neuordnung von staatlichem und kirchlichem Strafrecht aufmerksam. Für die Kirche war jahrhundertelang ein Grundprinzip der Rechtsprechung das „privilegium fori“ der Kleriker. Das meint: Kleriker können nur vor ein kirchliches Gericht gestellt werden, und zwar egal ob sie ein weltliches oder religiöses Vergehen begangen haben. Kleriker fühlten sich also jahrhundertelang bei jedwedem Vergehen oder Verbrechen in einem eigenen Rechtsbereich aufgehoben, der, das wird man wohl sagen dürfen, im Zweifelsfall milder als der weltliche Arm des Gesetzes war. Dieses Rechtsprivileg wurde vor 200 Jahren – im Zusammenhang mit Revolution und Säkularisation – beseitigt. Jede kriminelle Handlung eines Klerikers wird vom Staat geahndet, egal was die Kirche nebenbei macht. Burkard meint nun, dass die kirchliche Mentalität immer noch 200 Jahre der Säkularisation hinterherhinke. Man denke immer noch, kriminelle Priester müssten irgendwie anders als die „normalen“ Kriminellen behandelt werden. Burkard bemerkt freilich auch, dass das heute zu beklagende Versagen der kirchlichen Strafgerichtsbarkeit auch daran liege, dass die Säkularisation die Kirche ihrer exekutiven Handlungsfähigkeit weitgehend beraubt habe. Den Rest habe der grenzenlose Liebesoptimismus der 1960er Jahre gegeben. Strafen seien lange Zeit verpönt gewesen, auch und gerade gegenüber Klerikern. Wie viele Menschen diese Illusion ins Unglück gestürzt hat, wagt man nicht zu schätzen. Burkards Beitrag gehört zweifellos zum Besten, was Historie für diesen spezifischen Problemfall an Aufklärung zu leisten vermag. Matthias Kopp aus Bonn stellt abschließend den Beitrag der Kirche auf dem Gebiet der Medienpolitik dar.

Der buchtechnisch und redaktionell makellose Band bietet eine bunte, eher zufällige Themenmischung. Unter der Fahne „Neue Aspekte einer Geschichte des kirchlichen Lebens“ können die Beiträge nur mit Blick auf das weitgespannte Werk von Erwin Gatz segeln. Ein auch nur annähernd abgerundetes oder konsistentes Bild ergibt sich dadurch nicht. Das ist ein Mangel, aber kein Malus. Dem Buch ist zu bescheinigen, dass die Beiträge von hoher Kompetenz zeugen und der Persönlichkeit von Erwin Gatz gerecht werden, sogar an vielen Stellen förmlich zum Leben erwecken. Über Gatz’ Forschungsradius hinaus weisen eindeutig die Beiträge von Bernhard Schneider und Dominik Burkard über die belastende Frage des spirituellen und sexuellen Missbrauchs. Sie gehören – im Sinne der Priorität, nicht Ausschließlichkeit – zur unumgänglichen Lektüre.