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Kommission für bayerische Landesgeschichte

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Aktuelle Rezensionen


Richard Schuberth

Lord Byrons letzte Fahrt. Eine Geschichte des Griechischen Unabhängigkeitskrieges

Göttingen 2021, Wallstein, 533 Seiten, zahlreiche Abbildungen


Rezensiert von Emanuel Lechenmayr
In: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte
Erschienen am 08.05.2023

Zum 200. Mal jährte sich 2021 der Beginn des Unabhängigkeitskampfes der Griechen gegen die osmanische Herrschaft. In den gebildeten Kreisen Westeuropas wurde die „Epanastasis“ seinerzeit als Befreiung des antiken Hellenentums vom osmanischen Joch und damit als Wiederaufnahme einer seit der Antike bestehenden Kontinuität gefeiert. Dieses Narrativ dominiert in Griechenland noch heute den öffentlichen Diskurs über jene Zeit, auch wenn sich die griechische Geschichtswissenschaft in den vergangenen zwei Jahrzehnten mit den Diskursen über die nationale Identität vermehrt kritisch auseinandergesetzt hat. Den Vorsatz, nationale Deutungsmuster gegen den Strich zu bürsten und den Unabhängigkeitskampf in seinen soziokulturellen und ideengeschichtlichen Kontexten zu verorten, hat sich nun auch der österreichische Publizist Richard Schuberth zu eigen gemacht, der – pünktlich zum Jubiläum – die erste deutschsprachige Gesamtdarstellung der „Epanastasis“ vorgelegt hat.

In Teil I (S. 27–140) wird ausführlich die soziokulturelle Beschaffenheit des heutigen Griechenlands im 17. und 18. Jahrhundert beschrieben. Anschaulich zeichnet Schuberth das Panorama einer Region und ihrer ethnisch, sprachlich und religiös keineswegs homogenen Bevölkerung nach; ihr war das Konzept eines ethnokulturellen Griechentums fremd. Detailreich schildert der Autor dann das heterogene Herrschaftsgefüge vor Ort. Die osmanische Zentralmacht zeigte vielerorts in ihrem Reich nur noch geringe Präsenz; sie hatte auf dem südlichen Balkan die Herrschaft längst an lokale, autochthone Obrigkeiten abgegeben; vielerorts hatten auch Banditenbanden (Kleften oder Palikaren genannt) die Oberhand. Zugleich gab es eine Vielzahl autonomer und prosperierender Handelsstädte in Nordgriechenland, Albanien sowie auf einigen ägäischen Inseln. Ausgehend von der so skizzierten politisch-sozialen Landschaft zeichnet Schuberth die Verflechtungen zwischen dem südbalkanisch-ägäischen und dem westeuropäischen Raum als Voraussetzung für das Eindringen national-revolutionärer Ideen in die Diskurswelt der griechischen Oberschicht nach. So hätten besonders die wirtschaftlich starken, griechisch geprägten und westlich gebildeten Gruppen in den Donaufürstentümern sowie die Händler aus den autonomeren Gegenden mit ihren Vernetzungen nach Westeuropa den intellektuellen Nährboden für eine solche Politisierung bereitet. Der Einblick in das Denken der griechischen Oberschicht wird abgerundet durch zwei Kapitel über die soziokulturelle Rolle der orthodoxen Kirche und der Aufklärung im griechisch-sprachigen Raum, des sogenannten „Diafotismos“. Teil II (S. 141–179) ist der Vorgeschichte des Unabhängigkeitskampfes ab dem Orlov-Aufstand 1770 gewidmet. Skizziert wird neben einigen prominenten griechischen Akteuren jener Phase auch die „Filiki Eteria“, die als Think Tank der griechischen Revolution gilt, und deren übergeordnetes Ziel nicht in einer ethnisch homogenen Nation bestand, sondern in einer Befreiung der orthodoxen Christen von den Muslimen. Dass es Anfang des 19. Jahrhunderts bereits Anstalten zu einer solchen Aktion auf dem Balkan gab, zeigt der Autor anhand des serbischen Aufstandes 1804–1814 auf, der sich in seiner Endphase tendenziell zu einem panorthodoxen Aufstand entwickelte. Teil III (S. 180–461) behandelt dann chronologisch den Verlauf des Aufstandes von Ypsilantis‘ Feldzug 1821 bis zur Seeschlacht von Navarino 1827. Auch hier werden die verschiedenen Akteure stets in ihren soziokulturellen Kontexten eingeordnet, seien es die Banditenenclans oder die autonom agierenden Einwohner einzelner Inseln wie Hydra mit ihren entsprechenden Partikularinteressen. Sie alle standen dem Gedanken selbstloser Aufopferung für eine abstrakte Nationalidee fern. Auch lässt der Autor es sich nicht nehmen, die einzelnen Stationen des Krieges in allen grausamen Details zu beschreiben. Auf diesem Wege wird das Narrativ vom Aufstand der Unterdrückten gegen die Unterdrücker akribisch dekonstruiert: Was der Freiheitskampf vor allem mit sich brachte, war eine Welle von Gewaltexzessen gegen die muslimische wie die christliche Bevölkerung Griechenlands – und zwar besonders vonseiten der sogenannten Freiheitskämpfer. Sodann beschreibt der Autor die erste Intervention vor allem kontinentaleuropäischer Philhellenen ab 1821, ferner die Anfänge einer griechischen Regierung ab 1822, die lange aus miteinander rivalisierenden Gremien bestand. Dann folgt die zweite Philhellenen-Intervention britischer Prägung, die den ersten Kredit für die griechische Regierung an Land zog und als deren anfänglicher Dreh- und Angelpunkt der Titelheld des Buches, Lord Byron, hervorgehoben wird. Interessant ist hierbei nicht nur die gegen jede Romantisierung anschreibende und zugleich faszinierende Darstellung jenes individualistischen, daher schwer greifbaren Charakters. Auch die ideengeschichtliche Verortung vieler britischer Philhellenen im Dunstkreis von Benthams Liberalismus wird eingehend beleuchtet. Dabei legt der Autor den ökonomischen Eigennutz des vorgeblich selbstlosen Engagements vieler Briten im Zuge der zwei englischen Kreditvergaben an die Revolutionäre offen. Die Kernstücke der weiteren Darstellung von Byrons Tod über die ägyptische Invasion bis zum Sieg der Großmächte bei Navarino bilden anschauliche biographische Skizzen der philhellenischen Befehlshaber Frank Abney Hastings, Charles Nicholas Fabvier, Richard Church und Thomas Cochrane. Ergänzt wird Teil III durch Exkurse über die Beteiligung griechischer Frauen am Aufstand sowie das Engagement der US-Amerikaner. Teil IV (S. 462–509) fungiert im Grunde als Ausblick und beschreibt die ersten Jahrzehnte des nach Navarino 1827 und dem Frieden von Adrianopel 1829 sukzessive unabhängig gewordenen Griechenland. Mit dem ersten Präsidenten Ioannis Kapodistrias 1827–1831 betrieb ein ambitionierter, aber diktatorisch auftretender Politiker rigoros den Ausbau von Staatlichkeit nach dem Vorbild des aufgeklärten Absolutismus. Immerhin konsolidierte sich die Souveränität des Landes unter seiner Regierung. Der Regierungszeit Ottos von Wittelsbach 1832–1862 stellt der Autor ein ambivalentes Zeugnis aus: Positiv gewürdigt wird das Gesetzgebungswerk des Regentschaftsrats Georg Ludwig von Maurer als geschickte Verbindung importierter und lokal gewachsener Rechtsnormen. Andererseits habe man es nicht geschafft, die Zerstörungen der Kriegsjahre zu beseitigen und eine funktionierende Infrastruktur aufzubauen. Das organisierte Banditenwesen fand noch lange Zeit Mittel und Wege, sich zu halten und die Politik des Landes indirekt mitzugestalten, durchaus auch Hand in Hand mit dieser. Zugleich hielt ab Mitte des 19. Jahrhunderts das Konzept der „Megali Idea“, ein expansiver Nationalismus, in die Diskurswelt Einzug. Der Ausblick reicht noch bis ins 20. Jahrhundert, wobei vor allem die Katastrophe des griechisch-türkischen Bevölkerungsaustausches 1923 als Kulminationspunkt in der Entwicklung des griechischen Nationalismus gedeutet wird.

Seinen Vorsatz, die Geschichte der „Epanastasis“ abseits aller nationalen oder eurozentrischen Narrative zu erzählen, hält der Autor zweifelsfrei ein. Die Dichte an Ereignissen, Biographien und Vernetzungen, die Schuberth detailreich und in einer lebendigen, zuweilen literarischen Sprache ausbreitet, ist beeindruckend und besonders für Leser, die in dem Themenkomplex noch wenig bewandert sind, ein Gewinn. Dies kann allerdings nicht über die Schwächen des Buches hinwegtäuschen: Vor allem in den ereignisgeschichtlich angelegten Passagen gerät die Darstellung immer wieder zu einer wenig kritischen Nacherzählung von Quellen oder älterer Sekundärliteratur. Zwar leistet der Autor an einigen Stellen Quellenkritik, zum Beispiel im Hinblick auf die Egodokumente diverser Philhellenen; meistens wird sie jedoch eher unsystematisch und wenig tiefgehend abgehandelt. Stattdessen steht etwas zu häufig die Wiedergabe von Anekdoten im Vordergrund, ein durchaus verzichtbares Vorgehen. Zudem vermisst man die tiefergehende Analyse der Vernetzungen einzelner Akteure in den jeweils fremden kulturellen Kontexten: So erfährt man nur Oberflächliches über die Kontakte des Clanchefs Petrobey Mavromichalis zur westlichen Geisteswelt. Auch die biographischen Hintergründe des auf Kreta aufgewachsenen Franzosen Joseph Baleste – er führte das erste Philhellenenbataillon an – werden nur angeschnitten, aber nicht weiter ausgeführt. Außerdem fehlt eine systematische Darstellung der breiten medialen Rezeption des Aufstandes in Westeuropa, die ein wichtiger Antrieb für die europäischen Interventionen war. Gerade der deutschsprachige Raum hätte hier, etwa mit der „Augsburger Allgemeinen Zeitung“, mehr Beachtung verdient. 

Das Werk liefert in erster Linie einen fundierten Einblick in ein sehr komplexes Themengebiet; weniger bietet es eine tiefergehende wissenschaftliche Auseinandersetzung: Gemessen am Umfang von rund 500 Seiten sind die Belege äußerst rar gesät; häufig handelt es sich dabei auch nur um direkte Quellenzitate. Ein Register sucht man vergebens, was das Buch als Nachschlagewerk nur bedingt brauchbar macht. Vermeidbar gewesen wären zudem Schnitzer wie „Otto von Klenze“ oder falsche Datierungen (die Verlegung der königlichen Residenz nach Athen und die Auflösung des ersten Regentschaftsrats werden fälschlich auf 1835 statt 1834 datiert).