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Dominik Bohmann
Französisches Leben im Lager Regensburg. Ein Mikrokosmos im Licht der Gefangenenzeitung „Le Pour et Le Contre“ (1916/17)
(Kulturgeschichtliche Forschungen zu Gefangenschaft und Internierung im Ersten Weltkrieg 3), Regensburg 2021, Friedrich Pustet, 486 Seiten
Rezensiert von Helmut Gier
In: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte
Erschienen am 10.05.2023
Lange Zeit hat die deutsche und französische Geschichtsschreibung dem Massenphänomen der Kriegsgefangenschaft im Ersten Weltkrieg wenig Aufmerksamkeit gewidmet, obwohl es insgesamt rund sieben Millionen Soldaten, darunter 535.000 Franzosen, betroffen hat und mit Charles de Gaulle eine der berühmtesten Gestalten in der jüngeren Geschichte fast drei Jahre in Gefangenschaft, überwiegend in bayerischen Festungen, zugebracht hat. Grundlegend geändert hat sich die Forschungslage erst im ausgehenden 20. Jahrhundert; im deutschen Raum sind hier vor allem die Arbeiten von Uta Hinz, namentlich ihre Essener Dissertation von 2006 „Gefangen im Großen Krieg. Not kennt kein Gebot? Kriegsgefangenschaft in Deutschland 1914–1921“, und von Rainer Pöppinghege, besonders seine im selben Jahr erschienene Paderborner Habilitationsschrift „Im Lager unbesiegt. Deutsche, englische und französische Kriegsgefangenen-Zeitungen im Ersten Weltkrieg“.
Nach diesen Gesamtdarstellungen widmet sich die vorliegende Studie von Dominik Bohman über „Französisches Leben im Lager Regensburg“ in einer detaillierten kulturhistorischen Betrachtung von immerhin annähernd 400 Seiten der sorgfältigen Analyse der Gefangenenzeitung eines einzelnen Kriegsgefangenenlagers, einer von rund 100 Lagerzeitungen, die in Deutschland herausgegeben wurden. Dieses „Journal des Prisonniers de Regensburg“, wie die Kriegsgefangenenzeitung „Le Pour et le Contre“ im Untertitel heißt, erschien vom 16. Juli 1916 in 39 Ausgaben bis zum 8. April 1917. Zu verdanken ist diese Untersuchung einem glücklichen Zufall; denn vor eineinhalb Jahrzehnten kam bei einer Haushaltsauflösung ein vollständiges Exemplar der Zeitung der französischen Kriegsgefangenen in Regensburg zum Vorschein und konnte im Winter 2008 von der Staatlichen Bibliothek Regensburg erworben werden. Dieser Ankauf war der Anstoß für eine größeres, von der Bibliothek und vom Lehrstuhl für Französische und Italienische Literaturwissenschaft an der Universität Regensburg getragenes Forschungsprojekt zu dem bis dahin fast ganz unerforschten Regensburger Kriegsgefangenenlager und davon ausgehend dem Themenkreis der Kriegsgefangenenschaft überhaupt, aus dem die Dissertation von Dominik Bohmann hervorgegangen ist.
Bevor sich der Autor der genauen Analyse der Lagerzeitung zuwendet, untersucht er ausführlich im ersten Drittel seiner Arbeit die Verhältnisse und Rahmenbedingungen im Regensburger Lagers und ordnet sie in vergleichender Perspektive in die allgemeine Situation der Kriegsgefangenschaft in Deutschland ein. Dabei werden alle wichtigen Erscheinungen im Lagersystem und Leben der Kriegsgefangenen wie Unterbringung, Postverkehr mit der Heimat, Arbeitseinsätze, Krankheits- und Sterbefälle behandelt. In diesem Teil der Arbeit auf der Grundlage des Forschungsstands wird die Lagerzeitung als Quelle für die Geschichte des Lagers ausgewertet. Vor dem Hintergrund der Gesamtsituation tritt die Besonderheit des Regensburger Lagers deutlich hervor: Verglichen mit den größten und härteren bayerischen Lagern wie Puchheim und Lager Lechfeld, war dieses verhältnismäßig klein, und während sich die beiden genannten Lager 20 Kilometer weit draußen vor den Toren Münchens und Augsburgs befanden, lag das Regensburger Lager auf der Donauinsel Unterer Wöhrd in Sichtweite der Altstadt
An der grundsätzlich schwierigen Situation der Gefangenschaft in Lagern, die Bohmann mit dem Rückgriff auf Goffmans Theorie der „totalen Institution“ analysiert, ändert das nichts Wesentliches. Abgeschnitten vom Leben in der Heimat, fremdbestimmt zur Passivität verurteilt und einer ungewissen Zukunft entgegensehend, noch dazu immer wieder mit dem Vorwurf der Drückebergerei konfrontiert, ist die Gefahr allgegenwärtig, dass Trübsinn und Niedergeschlagenheit zur vorherrschenden Gefühlshaltung der Kriegsgefangenen werden. Diese drohende innere Leere und Selbstaufgabe zu bekämpfen, ist nach Bohmann einer der wichtigsten Zwecke der publizistischen Aktivitäten und des darin gespiegelten, erstaunlich regen kulturellen, sportlichen und sozialen Lebens im Regensburger Lager.
Den größten Teil der Arbeit nimmt die eingehende Analyse der Themenkomplexe ein, die in den einzelnen Artikeln behandelt werden. Dabei macht die Untersuchung von „Le Pour et Le Contre“ deutlich, dass die Ausrichtung einer Lagerzeitung stark von den Herausgebern geprägt wird. Im Falle Regensburg ist dies ein katholischer Priester, der Lagerseelsorger Denis Lamy. Dadurch erklärt sich, dass in der Zeitung eine längere Artikelserie und Debattenbeiträge über den Marienwallfahrtsort Lourdes mit seinen Wunderheilungen breiten Raum einnehmen. In der Einleitung zu jedem thematischen Abschnitt skizziert Bohmann die allgemeine Situation und Entwicklung sowie die Berichterstattung in der französischen Presse in den Jahrzehnten vor dem Krieg und arbeitet vor diesem Hintergrund die Sichtweisen und Haltungen in der Regensburger Lagerzeitung heraus. Dadurch entsteht ein breites, in dieser Lagerzeitung gespiegeltes Panorama des geistigen und kulturellen Lebens im Vorkriegsfrankreich, das von der Situation des christlichen Glaubens und der katholischen Kirche, dem Streit um die Schulen, der demografischen Krise Frankreichs, der Auseinandersetzung um die Empfängnisverhütung, Musik, Literatur und Theater bis hin zur Sportgeschichte reicht. Daneben berichtet die Zeitung natürlich auch über die Konzerte, Theateraufführungen und Sportveranstaltungen im Lager selbst. Im Anhang der Studie findet sich eine Übersicht mit biografischen Angaben zu den kulturell engagierten französischen Gefangenen sowie Listen mit den Konzertveranstaltungen und Theateraufführungen im Lager Regensburg.
Mit ihren Forschungsergebnissen bietet die vorliegende Arbeit eine Fülle von Informationen nicht nur zum Regensburger Lager und seiner Gefangenenzeitung, sondern auch zum Phänomen der Kriegsgefangenenschaft sowie der geistigen und gesellschaftlichen Situation Frankreichs zu Beginn des 20. Jahrhunderts, die jeder, der an diesen Themen interessiert ist, mit Gewinn nutzen wird.