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Kommission für bayerische Landesgeschichte

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Johannes Kraus

Tradition und Pragmatismus. Herrschaftsakzeptanz und lokale Verwaltungspraxis im Dreißigjährigen Krieg

(Herrschaft und soziale Systeme in der Frühen Neuzeit 27), Göttingen 2021, Vandenhoeck & Ruprecht, 498 Seiten


Rezensiert von Maria-Elisabeth Brunert
In: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte
Erschienen am 23.05.2023

Der Dreißigjährige Krieg bedeutete für viele Regionen des Reiches chaotisch anmutende Verhältnisse, in denen immer mehr Steuern und sonstige Leistungen zu erbringen waren, während gleichzeitig Land und Leute von Plünderungen und Gewaltexzessen der einquartierten oder durchziehenden Truppen heimgesucht wurden. Was bewog die Untertanen, trotz der großen Belastungen Kriegssteuern zu entrichten und sogar Herrschafts- und Konfessionswechsel zu ertragen? Dieser Frage geht Johannes Kraus in seiner von Birgit Emich betreuten und von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Frankfurter Dissertation von 2020 nach. Er greift dabei auf den Forschungsansatz Alf Lüdtkes zurück, der „Herrschaft als soziale Praxis“ versteht, bei der Herrschaft zwischen Herrschern und Beherrschten ausgehandelt werden muss. Entsprechend nimmt Kraus in seiner mikrohistorischen Studie neben den Herrschaftsträgern und der Administration stets die Untertanen in den Blick. Als Untersuchungsbereich hat er das Schultheißenamt Neumarkt in der Oberpfalz gewählt, das durch seine Lage südöstlich von Nürnberg als Grenzamt strategische Bedeutung hatte und folglich in hohem Maße von Durchzügen und anderen Kriegseinwirkungen betroffen war. Zudem wechselte die Landesherrschaft: 1621 wurde Herzog Maximilian von Bayern zum kaiserlichen Kommissar für die Oberpfalz ernannt und erhielt das Territorium 1623 als Pfand für die kurbayerischen Kriegsausgaben zugunsten des Kaisers. Durch Vertrag vom 22. Februar 1628 wurden ihm Oberpfalz und Kurwürde zu erblichem Besitz übertragen. Herrschaftswechsel gingen mit konfessionellen Wechseln einher: Schien das Luthertum um 1580 in der Oberpfalz bleibend etabliert, so war die Zeit von 1583 bis zum Beginn des Dreißigjährigen Krieges durch Konflikte um die reformierte Konfessionalisierung geprägt. 1628 verfügte Kurfürst Maximilian den offiziellen Konfessionswechsel der Oberpfalz zum Katholizismus, doch ergab sich ab 1633 eine Unterbrechung infolge einer dreijährigen schwedischen Besetzung.

Johannes Kraus hat sich mit der Oberpfalz also ein Territorium als Grundlage für seine Studie gewählt, das während des Krieges besonderen Belastungen ausgesetzt war. Er nutzt für seine Analyse der konkreten sozialen Praktiken vorrangig das Verwaltungsschriftgut des Staatsarchivs Amberg. Seine Untersuchungsfelder sind die Konfessionalisierung, die Versorgung und die Verbrechensbekämpfung im Krieg. Er schildert dabei jeweils vorhandene, ältere Muster für Verfahren und Praktiken, z.B. für die Verbrechensbekämpfung. Sodann schildert und analysiert er anhand von Einzelfällen die Abläufe und die sich ergebenden Probleme. Anschließend beschreibt er, was das zuvor Dargestellte für die Untertanen bedeutete. Er betrachtet aus deren Perspektive die Problemfelder Konversion, Gottesdienstbesuche, Kapazitätsbestimmungen für Quartiere und Kontributionen, Lastenerhebungen, Nachverhandeln, Kontroll- und Abwehrmaßnahmen, Strafverfolgung und Beschwerdewege. Quellengrundlage sind neben Mandaten und Bescheiden von Fürst und Regierung Schreiben von Amtsträgern und Untertanen, Protokolle (z.B. von Rentmeisterumritten oder Verhören), Verzeichnisse, Rechnungen, Suppliken. Er ist sich dabei bewusst, dass die ihnen entnommenen Aussagen interessengeleitet und formalen Vorgaben unterworfen sind, sodass eine eingehende Quellenkritik erforderlich ist, um die Akzeptanzmotive der Untertanen zu ergründen (S. 60 f.). Nach Möglichkeit verweist Kraus auf analoge Untersuchungsergebnisse für andere Territorien oder verwandte Studien, welche die von ihm analysierten Verhaltensstrategien ebenfalls thematisieren. Als Ergebnis seiner Studie resümiert er, dass die Bevölkerung trotz großer Belastungen relativ bereitwillig mit der neuen bayerischen Landesobrigkeit kooperierte, sodass die Verwaltung verhältnismäßig handlungsfähig blieb und kein Zusammenbruch der staatlichen Ordnung zu beobachten ist (S. 443). Sein „Blick von unten“ sowie seine Fokussierung auf die Untertanen und mögliche Alternativen für ihre Entscheidungen in bedrohlichen Situationen erbrachte als Resultat, dass die Untertanen „nicht nur Opfer staatlicher Maßnahmen waren“, sondern sich je nach ihren Interessen „aktiv für oder gegen die Beteiligung an Kriegsbewältigungsmaßnahmen“ entschieden. Eine Motivation war das gemeinsame Ziel von Fürst, Verwaltung und Untertanen: die administrative Bewältigung des Krieges. Es veranlasste die Untertanen, „den Einfluss der fürstlichen Administration in ihrem Alltag zuzulassen bwz. diesen sogar explizit einzufordern“ (S. 458).

Setzte die Administration im Allgemeinen auf partizipative Verfahren und Praktiken, so galt das allerdings nicht bei der Rekatholisierung, bei der Kurfürst Maximilian keine Zugeständnisse machte, zumal nicht nach Veröffentlichung des Regierungspatents vom 27. April 1628, das den oberpfälzischen Untertanen nur die Wahl zwischen Konversion und Emigration ließ (S. 35). Hier wie auch in anderen Fällen ist es vorteilhaft, dass der Verfasser bei der exemplarischen Darstellung von Einzelfällen Quellenzitate einfügt. So lernt der Leser die katholische Argumentationsstrategie kennen: Zur Erlangung der „‘ewigen seeligkeit‘“ sei der Übertritt zur katholischen Kirche unabdingbar (S. 133). Das führte sogar zur Bedrängung Sterbender durch Jesuitenpatres, wobei anzunehmen ist, dass deren Argumentation durchaus ihrer subjektiven Überzeugung entsprach.

Insgesamt hat der Verfasser eine methodisch gekonnte, sinnvoll strukturierte und sorgfältig ausgearbeitete Studie vorgelegt, bei der allerdings die drei Register Wünsche offenlassen. Das Personenregister ist unvollständig; es fehlen z.B. Mansfeld (S. 11 und öfter), Tilly (S. 42 und öfter) und Ludwig XIV. von Frankreich (S. 455). Analoges gilt für das Ortsregister. Besonders bedauerlich ist die Lückenhaftigkeit des Sachregisters, das zwar Hunderte von Nennungen für „Beamte“ oder „Schultheiß“ anführt, aber z.B. die Begriffe „Bücherverbrennung“, „Dragonaden“, „Jachtaufmandat“ oder „Pest“ nicht verzeichnet. Dasselbe gilt für „Placker“: Der Begriff wird auf S. 329 erläutert („marodierende Reitertrupps“), aber schon vorher (S. 39, 327) genannt, fehlt aber im Sachregister.

Von solchen kleineren handwerklichen Mängeln abgesehen hat Johannes Kraus eine lesenswerte Studie mit klarer Fragestellung und gut erläuterten Resultaten vorgelegt, die durch minutiös dargestellte und analysierte Einzelfälle zeigt, dass der Dreißigjährige Krieg zumindest in der Oberpfalz kein Chaos in Regierung und Verwaltung generierte, sondern eine Intensivierung und Verdichtung von Herrschaft.