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Kommission für bayerische Landesgeschichte

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Aktuelle Rezensionen


Dominik Heringer

Kirche im Konflikt. Das Bistum Aachen als Hotspot des Rheinischen Reformkreises

Freiburg im Breisgau 2022, Herder, 608 Seiten


Rezensiert von Thomas Marschler
In: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte
Erschienen am 07.06.2023

Die vorliegende Studie wurde 2021 als Habilitationsschrift für das Fach „Mittlere und Neuere Kirchengeschichte“ an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Mainz angenommen. Thema ist der „Rheinische Reformkreis“, der, mit einem Schwerpunkt im Bistum Aachen, von 1941 bis Mitte der 50er Jahre „mindestens 35 Priester und kirchlich engagierte Laien“ (28) umfasste, die im intellektuellen Austausch miteinander das Ziel einer radikalen, die Impulse des Modernismus aufgreifenden Reform der katholischen Kirche verfolgten. Eine zweibändige Dokumentenedition durch Hubert Wolf und Claus Arnold hat bereits 2001 den Kreis mit seinen Akteuren und Themen einer breiteren Öffentlichkeit bekannt gemacht. In der Zwischenzeit sind neue Quellenbestände aus dem Aachener Ordinariat und dem Archiv der römischen Glaubenskongregation zugänglich geworden, die eine vertiefte Untersuchung rechtfertigen.

Der Darstellungsteil entfaltet sich nach der Einleitung in vier Hauptkapiteln, die insgesamt einer chronologischen Ordnung folgen. Im ersten Schritt (S. 46–116) wird die Errichtung der Aachener Diözese im Jahr 1930 beleuchtet. Die Frage, ob ein „Identitätsdefizit“ des jungen Bistums dazu beigetragen hat, dass sich gerade hier ein „Hotspot“ kirchlicher Reformer ausbilden konnte, erweist sich als kaum sinnvoll beantwortbar. Ein Abschnitt zur frühen kirchlich-theologischen Biographie des 1916 für das Kölner Erzbistum geweihten Priesters Josef Thomé (1891–1980), der Schlüsselfigur des späteren Reformkreises, fügt sich thematisch nur schlecht in das Kapitel ein (85–116). 1922 hatte Thomé versucht, mit einer beim Bonner Fundamentaltheologen Arnold Rademacher angefertigten Arbeit über die theologische Relevanz von Hans Vaihingers „Philosophie des Als-ob“ das theologische Doktorat zu erwerben. Dies wurde durch ein negatives Zweitgutachten des Dogmatikers Gerhard Esser vereitelt (rätselhaft bleibt, weshalb Heringer keine Einsicht in Thomés Promotionsakte im Bonner Fakultätsarchiv nehmen konnte; vgl. S: 108, Anm. 256). Thomé publizierte seine Studie schließlich unter Pseudonym. Zeitlebens sollte sein theologisches Denken um die schon hier entwickelte scharfe Trennung zwischen dem zeitgebundenen Wortlaut und dem verbindlichen Inhalt kirchlicher Glaubensaussagen kreisen.

Ein zweites Kapitel (S. 117–221) richtet den Blick auf wichtige Ereignisse im Bistum Aachen zur Zeit des Nationalsozialismus (Heiligtumsfahrt 1937, Vortrag Karl Adams 1939) und verfolgt in Zusammenhang damit die weitere biographische Entwicklung Thomés. Ein Schwerpunkt liegt auf Entstehung und Inhalt seiner Reformschrift „Der mündige Christ“, deren Publikation 1942 vom Aachener Ordinariat verboten wurde. 1949 konnte das Buch mit Imprimatur aus Limburg doch noch erscheinen. Auch wenn Thomé selbst keinen rassischen Antisemitismus vertrat, griff er dennoch auf den klischeehaften Gegensatz zwischen jüdischer Gesetzes- und christlicher Liebesreligion zurück und ließ auch nach dem Krieg problematische Stellen über eine „Eindeutschung“ des Christlichen unverändert. Thomés Verhältnis zum Nationalsozialismus erweist sich somit als ambivalent.

Umfassender illustriert wird dieser Befund in Kapitel drei (S. 222–313). Thomé geriet 1936 mit der Gestapo in Konflikt und wurde sogar für sechs Monate in Schutzhaft genommen. Andererseits stand er in Austausch mit dem nationalsozialistischen Priester Richard Kleine und dem Theologen Karl Adam, dessen Programm einer „Kirchenreform mit Hilfe des Nationalsozialismus“ (L. Scherzberg) er leidenschaftlich teilte. „Nationalsozialistische Affinitäten“ findet man auch bei anderen Akteuren im Freundeskreis wie Oskar Schroeder. Während der Kreis in der Amtszeit des Aachener Bischofs Johannes Joseph van der Velden (1943–1954) weithin unbehelligt blieb, ergriff der von 1947–1961 in Münster amtierende Bischof Michael Keller gleich mehrfach die Initiative gegen einzelne Mitglieder. Sein Antrag zur Indizierung von Thomés Buch hatte 1955 Erfolg, weil er u.a. durch ein Votum von P. Augustin Bea SJ, Konsultor des hl. Offiziums, unterstützt wurde, der Zugang zu Nachlassmaterialien eines verstorbenen Reformkreismitglieds erhalten hatte.

Als die Selbstauflösung des Kreises bereits weit fortgeschritten war, weckte er das intensivere Interesse des hl. Offiziums. Aus Rom wandte man sich diesbezüglich an den 1954 in Aachen installierten Bischof Johannes Pohlschneider, aber auch an den Kölner Erzbischof Joseph Frings. Kapitel vier (S. 314–447) zeichnet vor allem die Vorgänge der Jahre 1955/56 detailliert nach; zentrale Quellen sind zudem im Anhang der Studie dokumentiert (S. 458–572). Prominente Mitglieder des Reformkreises wurden zu Verhören nach Aachen geladen. Ausgestaltung und Protokollierung lagen in den Händen des konservativen Tromp-Schülers und Seminarprofessors Heribert Schauf (1910–1988), dessen spätere Tätigkeit als Peritus auf dem Zweiten Vatikanum mittlerweile durch die Edition seines Konzilstagebuchs (Münster 2022) zugänglich ist. Bei ihren Befragungen wählten die Vorgeladenen unterschiedliche Strategien. Die kirchlichen Maßnahmen (Unterwerfungserklärungen, erneute Einforderung des Antimodernisteneids, Publikationsvorbehalte) waren kaum geeignet, das Denken der Reformkatholiken zu verändern. Der Konflikt mit Thomé flammte nochmals auf, als dieser 1967 eine Neuauflage von „Der mündige Christ“ plante. Die innerkirchlichen Bedingungen hatten sich radikal verändert. Der römische Index existierte nicht mehr, manche der vom Reformkreis geforderten Veränderungen wurden im Gefolge des Zweiten Vatikanums Wirklichkeit. Thomé erhielt nun öffentliche Unterstützung aus der akademischen Theologie (u.a. durch die junge Uta Ranke-Heinemann); der Versuch des Bistums, den Pfarrer zu einer Umarbeitung seines Werkes zu nötigen, versandete. Heringer übernimmt Ranke-Heinemanns Mutmaßung, dass Schauf der Verfasser des maßgeblichen Gutachtens war (S. 420), ohne den Gegensatz zur Aussage des Aachener Generalvikars auflösen zu können, wonach ein „jüngerer theologischer Universitätslehrer“ den Text verfasst habe (S. 412). In seinen späten Jahren wurde Thomé für seine progressive Theologie mehrfach geehrt (u.a. 1971 durch ein Münsteraner Ehrendoktorat, über dessen Hintergründe man gerne mehr erfahren hätte), während sich seine konservativen Gegner in eine Minoritätsposition zurückgedrängt sahen. Der 1959 zum Kardinal erhobene Jesuit Bea hatte sich dem neuen Kurs rasch angepasst.

Zwar distanziert sich Heringers Studie mehr als einmal von den restaurativen Tendenzen, die im Bistum Aachen unter dem Einfluss von Pohlschneider und Schauf vorgeherrscht hätten (vgl. S. 456 u.ö.). Der Verfasser moniert aber gleichfalls die unkritische Übernahme der von Thomé erfolgreich propagierten Selbstdarstellung des Reformkreises, von dessen Positionen sich „die Theologie des Konzils wesentlich unterschied“ (S. 457). Hier deutet sich an, dass divergierende kirchenpolitische Standpunkte bis heute bei der Bewertung der in der Studie untersuchten Phänomene maßgeblich bleiben.