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Kommission für bayerische Landesgeschichte

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Katharina Wolf

Die Theorie der Seuche. Krankheitskonzepte und Pestbewältigung im Mittelalter

Stuttgart 2021, Franz Steiner, 445 Seiten


Rezensiert von Klaus Bergdolt
In: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte
Erschienen am 21.07.2023

Daß sich Theologen und Philosophen auf hohem Niveau mit der Covid-Pandemie auseinandersetzten, läßt sich, dieses Zwischenresümee sei (im Januar 2022) erlaubt, nicht gerade behaupten. Während letztere in Feuilletons und Talkshows zunehmend die sozialen und kulturellen Folgen beklagen, die in der Regel – die Schwarz-Weiß-Skizzierung des Wissenschaftsbetriebs erinnert auf verblüffende Weise an das 19. Jahrhundert – herzlosen „Virologen“ bzw. Naturwissenschaftlern in die Schuhe geschoben werden, sind erstere geradezu verstummt. Katharina Wolfs ausgezeichnete Studie zeigt, daß das in der Vergangenheit anders war. Ihre „Theorie der Seuche“ teilt die historischen Krankheitskonzepte und Bewältigungsstrategien zunächst in drei Kapitel auf: eine „historische Loimologie“, in der vor allem theologisch-religiöse Implikationen zusammengefaßt werden, eine weitere umfangreiche Darstellung („Konzept und Kollektiv“), in deren Mittelpunkt – im weitesten Sinn – Maßnahmen zur Seucheneindämmung in Nürnberg, Augsburg und München stehen und schließlich eine „kurze Geschichte der Mikrobiologie“, wo medizinische Erklärungsmodelle von der Antike bis ins 20. Jahrhundert präsentiert werden. Ein kleineres, aber wichtiges Kapitel analysiert solche Fragen auf der Basis unterschiedlichster „Pestschriften“ vom 14. bis zum 16. Jahrhundert. Diese sind im Anhang (S. 338-415) nicht nur aufgelistet, sondern stellen dank einer ausführlichen Kontextualisierung (mit Inhaltsangaben) einen beachtlichen Quellenschatz zur Mentalitätsgeschichte überhaupt dar.

Schon im Mittelalter bewirkten Seuchen existentielle Diskussionen, die angesichts hoher Opferzahlen – Ole Benedictow geht allein für 1348 von einer Mortalitätsrate von 60 Prozent aus (2021) – mehr als verständlich erscheinen. Die theologischen Deutungsmuster (vgl. S. 43-85) waren vielfältig. Zweifel an Gottes Gerechtigkeit, wie sie 1348 Petrarca geplagt hatten, werden selten geäußert. Magische Vorstellungen und die Abwehr von Dämonen spielten, wie die Analyse der Pestschriften zeigt, eine weitaus wichtigere Rolle als astrologische Deutungen (S. 51). In theologischen Kreisen dominierte über Jahrhunderte das Bild der Pest als göttlicher Strafe. Wallfahrten nach Andechs wurden – um nur ein Beispiel herauszugreifen – von der Münchner Stadtverwaltung mitfinanziert (S. 410)! Es ging darum, Gott durch Gebete, „gute Werke“, Prozessionen und die Fürbitten von Heiligen umzustimmen und an seine Barmherzigkeit zu appellieren. Die Madonna und weitere Schutzheilige wie Sebastian und Rochus, aber auch die „sancti protectores“ der jeweiligen Kommunen stellten letzte Hoffnungen dar. Die Pest galt als kollektives Schicksal, weniger als individuelle Bestrafung (S. 59), was individuelle Gebete natürlich nicht ausschloß. Logischerweise hielt man auch an der (heute längst in Konzertsäle verbannten) „Missa contra pestilentiam“ fest, die im 14. Jahrhundert durch Clemens VI. institutionalisiert wurde.

Vergleiche zur Gegenwart liegen nahe, obgleich die Pest bis ins 19. Jahrhundert hinein ungleich infektiöser und aggressiver war als die Covid-19-Pandemie. Das Bild eines strafenden Gottes (der immerhin noch im Kontext des Zweiten Weltkriegs diskutiert wurde) gilt in Theologenkreisen weitgehend als obsolet. Dies hängt mit einem völlig veränderten Bild Gottes zusammen, das im europäischen Protestantismus seit dem 18., im Katholizismus spätestens seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil vorherrscht. Ist er nicht völlig entpersonalisiert, erscheint Gott in Predigten und Feuilletonbeiträgen als absolut gütiges Wesen. Alles Negative, ob Kriege, Krankheiten, Erdbeben, Erderwärmung, Flutkatastrophen oder eben die Covid-Pandemie gilt deshalb als „menschengemacht“. Einer beliebten neu-pantheistischen Argumentation zufolge ist die Pandemie dagegen Folge ökologischer „Sünden des Westens in der Dritten Welt“. Strafen darf allein die beleidigte Natur. „Schuld“ wird hier zum „Ermächtigungsnarrativ“ (Wolf) für eine politisch-kulturelle Transformation, welche die Vermeidung von „Umweltsünden“ zum Ziel hat (S. 283), die auch Millionen zur Migration gezwungen hätten. Argumente sucht man auch in der Psychologie und den Sozialwissenschaften, wobei man sich gerne auf die „Nächstenliebe“ beruft (infizierte Patienten dürfen nicht vereinsamen, Ungeimpfte nicht ausgegrenzt werden usw.). Fragen der Transzendenz, angesichts der tödlichen Bedrohung vieler Patienten eigentlich naheliegend, werden so gut wie nie thematisiert. 

Nach diesem kleinen Exkurs, den die Lektüre des Buches nahelegt (vgl. auch S. 62), fallen organisatorische Maßnahmen ins Auge, die verblüffende Parallelen zum heutigen Pandemie-Alltag zeigen. Die in Nürnberg, Augsburg und München angewandten Strategien lassen sich keineswegs nur humoralpathologisch (also mit dem Ziel der Verhinderung von Miasmen) begründen, sondern verraten eine über Jahrhunderte gewachsene praktische Expertise, die das proto-utilitaristische Ziel hatte, die Gesundheit eines höchstmöglichen Anteils der Bevölkerung zu erhalten. Die infizierte Minderheit hatte das Nachsehen. Das Verbot von Trauerfeiern und Trauergeläut, von Tanzfesten, Brett- und Kugelspielen, die Schließung von Geschäften und Märkten, die Isolierung Infizierter, aber auch z.B. der Totengräber, strengste Einreisekontrollen, die Eröffnung von „Pestfriedhöfen“ außerhalb der Mauern, einschneidende Quarantänemaßnahmen, ja ein allgemeiner „Ausnahmezustand“ waren seit dem 14. Jahrhundert im Seuchenfall fast selbstverständlich. 

Die „kurze Geschichte der Mikrobiologie“ (inklusive von der Miasmentheorie abweichender Vorstellungen) bietet aus Sicht der klassischen Pestgeschichte zwar kaum neue Erkenntnisse, ergänzt aber die geistesgeschichtlichen Ausführungen eindrucksvoll. Überraschenderweise erscheint hier auch Avicenna, der in der Tradition Varros kleine „schlechte Körper“ als Erreger von Seuchen postuliert hat (S. 232 f.). Fracastoro, Kircher und Leewenhoeck entwickelten diese Vorstellung weiter, wobei ihre Methodik immer noch viele Fragen aufwirft. Daß sie sich nicht durchsetzen konnten, wird mit der Theorie Ludwig Fleks begründet, zeitgenössische Denkkollektive hätten neue Ansätze nicht zugelassen. In diesem Kapitel beschreibt Frau Wolf auch die Welt des 19. Jahrhunderts, die letztlich die Entdeckung des Pesterregers ermöglichte. Erfreulicherweise werden auch „alternative“ Krankheitstheorien eingearbeitet, die im „Zeitalter des Positivismus“ ebenfalls boomten. Daß die Entdeckung von Yersinia pestis (1895) die gesamte Pestgeschichtsschreibung verändert hat, da die Pathogenese der „Pest“ nun allein mit diesem Erreger verbunden blieb, ist bemerkenswert.

Frau Wolfs Buch bietet höchst anregende Lektüre, die viele vertiefende Einsichten ermöglicht. Sie können hier nicht aufgezählt werden. Vieles könnte man zu ihren Thesen zur Covid-Pandemie sagen, die sie nach Abschluß des Buches noch einfügte. Die Wahrheit liegt, wie sie zu Recht betont, nicht allein im Labor, aber eben auch nicht, müßte man ergänzen, in den Geistes- und Sozialwissenschaften (S. 288). Wahr ist, daß die westliche Gesellschaft in den vergangenen Jahrzehnten, was die Seuchengefahr angeht, in einer erstaunlichen Sicherheit gewogen wurde. War dies aber, wie angedeutet wird, Schuld der Naturwissenschaften? Es waren Virologen und Bakteriologen, die seit vielen Jahren vor einem Revival aggressiver Seuchen warnten. Man kann sogar zeigen, wie Politik und Gesellschaft solche Voraussagen immer wieder herunterspielten. Die Autorin hat recht: Kranksein bleibt ein „ungewisser Zustand“ (S. 285). Seriöse Ärzte und Naturforscher haben dies nie in Frage gestellt. Politisch gefärbte Ideologen des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts sollten hier nicht überbewertet werden. Vorsicht ist mit der These geboten, „Seuche ist etwas, was man tut“ (S. 276 ff.). Was sollen Patienten und Pflegepersonal der Intensivstationen dazu sagen. Wenn irgendwo Goethes These, Tugend sei „ein sehr schöner Name“ für Gesundheit, nicht gilt, dann im Alltag von Seuchen.

Frau Wolfs Buch führt auf eindrucksvolle Weise in die wechselnden Denkmuster der Seuchenmedizin und ihrer Kritiker ein und regt sicher zu vielen Diskussionen an.