Aktuelle Rezensionen
Dietmar Schiersner (Hg.)
Augsburg – Stadt der Medizin. Historische Forschungen und Perspektiven
Regensburg 2021, Schnell & Steiner, 511 Seiten, zahlreiche Abbildungen
Rezensiert von Susan Splinter
In: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte
Erschienen am 21.07.2023
Im September 2021 fand in Augsburg ein medizinhistorischer Kongress statt, der anlässlich des 500-jährigen Jubiläums der Fuggerʼschen Stiftungen die Augsburger Medizingeschichte von vielen Seiten beleuchtete. Der hier vorzustellende Sammelband entstand in diesem Kontext und bietet einen reichhaltigen Überblick zur Geschichte der Medizin in Augsburg vom Mittelalter bis ins 21. Jahrhundert. Das mehr als 500 Seiten umfassende Werk ist in fünf Kapitel unterteilt, auf die die 33 Aufsätze gleichmäßig verteilt sind. Nicht alle Beiträge können hier besprochen werden. Abgerundet wird das Buch von einem Gesamtverzeichnis zu Quellen, Literatur und Abbildungen sowie einem Personen- und Ortsregister.
Nach zwei informativen, einleitenden Artikeln zum Stand der Forschung zur Medizingeschichte in Augsburg von Dietmar Schiersner und zum Zusammenhang von Medizin- und Stadtgeschichte im Allgemeinen von Robert Jütte schließt sich das Kapitel „Überlieferung und Quellen“ an, das in sieben Beiträgen über Quellenbestände und einzelne gedruckte Quellen informiert. Objektüberlieferungen und gegenständliche Quellen fanden in diesem Überblick bedauerlicherweise keine Berücksichtigung. Den Auftakt macht eine Präsentation Barbara Rajkays zu bisher wenig beachteten Materialien im Augsburger Stadtarchiv zu Themen der Gesundheitspolitik, zu stationären Einrichtungen und zu Akteuren. Sie weist z.B. auf Totenscheine aus den Jahren 1811 bis 1963, das Decretenbuch, eine Zusammenstellung von Entscheidungen des Collegium Medicum aus dem 18. Jahrhundert und eine Sammlung von mehr als 30 erfolgreichen Behandlungen eines Chirurgen aus dem Jahr 1442 hin. Neben zwei Überblicksartikeln finden sich Aufsätze zu einzelnen Quellen, wie z.B. des aus der Mitte des 16. Jahrhundert stammenden handschriftlichen Arzneimittelbuchs der Augsburger Patriziertochter Philippine Welser, Ehefrau des Erzherzogs Ferdinand II. von Tirol. Sehr detailliert nimmt Mathias Wolfbeis eine äußere und innere Quellenkritik vor, die zu Tage fördert, dass vermutlich Philippines Mutter, Anna Welser, Hauptverfasserin dieser 258, der Selbstmedikation dienenden Rezepte war, die hauptsächlich aus pflanzlichen Bestandteilen hergestellt wurden. Während in diesem Beitrag die medizinhistorische Einordnung fehlt, kontextualisiert Frank Ursins Aufsatz zum Stadtarzt Bartholomäus Metlinger dessen Leben und Wirken sowie sein „Kinderbüchlein“, eine erste gedruckte, deutschsprachige Schrift zur Säuglings- und Kinderpflege.
Das zweite Kapitel „Mittelalter und Frühe Neuzeit“ präsentiert sechs Aufsätze zu Seuchen in Augsburg, zu einzelnen Augsburger Persönlichkeiten und zum Umgang mit Ertrunkenen im 18. Jahrhundert in Augsburg. So beschreibt Mitchell Hammond anhand von Quellen aus dem Stadtarchiv die Entstehungsgeschichte des Almosenhauses im 16. Jahrhundert und bettet diese in die städtische Entwicklung Augsburgs ein. Der Aufsatz Magnus Ulrich Ferbers zum Verhältnis von Medizin und Humanismus präsentiert Lebensläufe dreier Persönlichkeiten aus der Augsburger Ärztefamilie Occo, verpasst es aber, Wechselwirkungen zwischen medizinischem Denken, ärztlichem Handeln und humanistischen Vorstellungen herauszuarbeiten. In dem vom Narrativ des wissenschaftlichen Erkenntnisfortschritts geprägten Beitrag von Helmut Gier zu Johann Wiesel und seinen optischen Instrumenten, in dem neuere Forschungen zur vermeintlichen wissenschaftlichen Revolution, zum Stellenwert von Experiment und Erfahrungswissenschaft in der Frühen Neuzeit sowie zum Zusammenspiel von Handwerk und Wissenschaft nicht zur Kenntnis genommen wurde, erscheint die Verbindung zwischen Wiesel und der Medizin doch arg konstruiert – ein Problem, das bei Artikeln in Sammelbänden nicht ungewöhnlich ist. Dagegen füllt Barbara Rajkays Artikel zum Umgang mit Ertrunkenen – im Übrigen einer der wenigen zum 18. Jahrhundert – eine lokale Forschungslücke, in dem sie biographische Begebenheiten und institutionelle Entwicklungen vor Ort mit dem zeitgenössischen medizinhistorischen Diskurs und der Volksaufklärung verbindet, um Gründe und Ausgestaltung der Augsburger Vorreiterrolle bei der Rettung Ertrunkener auszuleuchten.
Das dritte Kapitel „Die Fugger und die Medizin“ geht auf Augsburgs besondere Situation ein, in dem hier die Fugger und deren Stiftungen medizinhistorisch ausgeleuchtet werden. So informiert Regina Dauser sehr fundiert über verschiedene medizinische Sachverhalte in der Korrespondenz Hans Fuggers (1531–1598), die Einblick gewähren in die medizinische Versorgung in Augsburg, in die Beschaffung therapeutischer Exotika und in die weitreichenden Netzwerke und Patronageverhältnisse. Dieser Beitrag verdeutlicht eindrücklich, wie gelehrtes, praktisches, soziales und kaufmännisches Wissen und Handeln miteinander verwoben waren. Die anderen sechs Beiträge beschäftigen sich vor allem mit Orten, Akteuren und Interaktionen der Stiftungen der Fugger; fünf davon konzentrieren sich auf Aspekte aus dem 16. Jahrhundert. Auf den Überblick und die Neubewertung der medizinischen Stiftungen der Fugger von Dietmar Schiersner folgend bieten zwei Aufsätze von Annemarie Kinzelbach und Marion Ruisinger Einblicke in das von den Fuggern gestiftete, auf chirurgische Eingriffe spezialisierte Schneidhaus. Kinzelbach erklärt konzise die Entwicklung, Verortung und das Leistungsangebot des Schneidhauses, skizziert quellenbasiert verschiedene Akteure und bietet eine überzeugende Interpretation für die Anlage und den Unterhalt des Schneidhauses. Claudia Stein kontextualisiert in ihrem Aufsatz über die Behandlungsmethoden und -orte der Franzosenkrankheit deren Krankheitssymptome und zeigt, wie es den akademischen Ärzten gelang, ihre Einfluss- und Kontrollmöglichkeiten auf dem medizinischen Markt auszuweiten und welche Vorbildrolle das städtische Blatternhaus für die von den Fuggern gestifteten Holzhäuser hatte. Auch im Beitrag von Sarah Schmid zur Choleraepidemie 1854 und den daraus resultierenden Maßnahmen werden kommunale und stiftungseigene Wechselwirkungen sehr instruktiv in den Blick genommen. Bei den als Medikalisierungsvorgang interpretierten Auseinandersetzungen versuchte die Fuggerei-Stiftung ihre Autonomie gegen gesundheitspolizeiliche Eingriffe zu verteidigen.
Das vorletzte Kapitel „Vergleiche und Exkurse“ ergänzt den Untersuchungsraum Augsburg, indem dessen medizinische Einrichtungen und Versorgungsstrukturen denen süddeutscher Städte (Regensburg und Würzburg) sowie dem schwäbischen Umland gegenübergestellt werden. Zeitlich konzentrieren sich die Beiträge auf das Mittelalter und die Frühe Neuzeit. Artur Dirmeier bietet einen knappen Abriss zu Hospitälern und Fürsorgeeinrichtungen in Augsburg und Regensburg und Andreas Mettenleiter trägt in dem Aufsatz zum Franzosenhaus in Würzburg wenig systematisierend die spärlichen Informationen zusammen, leider ohne sie mit den Ausführungen Claudia Steins in Beziehung zu setzen. Anders als bei Stein erfährt man hier nichts zu Akteuren und Praktiken, während der Leser in einem zweiten Aufsatz Mettenleitners zur Holzkur im Juliusspital kursorisch über Patienten und Patientinnen, Krankheitssymptome und Behandlungsmethoden informiert wird. Anke Sczesny widmet sich einer Forschungslücke, indem sie sich der Gründung, Finanzierung, Ausstattung und Funktion der Spitäler in Zusmarshausen und Dinkelscherben ländlichen Einrichtungen zuwendet. Es wird deutlich, dass Spitäler im ländlichen Raum als herrschaftsstabilisierende Faktoren anzusehen sind und dass sie viel länger multifunktional der Fürsorge von alten, gebrechlichen und chronisch kranken Personen und weniger der medizinischen Pflege akut kranker Menschen dienten.
Im fünften Kapitel „19. und 20. Jahrhundert“ wird die Entwicklung verschiedener Medizin- und Fürsorgeeinrichtungen Augsburgs vorgestellt. Stefanie Sander Sawatzki schildert überblicksartig die Gründung, den Alltag und den Ausbau der Kinderheilanstalt. Stephan Vogt skizziert die orthopädisch-technischen Therapien Friedrich von Hessings, der in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine orthopädische Heilanstalt in Augsburg betrieb. Die erfolgreiche Anstalt des gelernten Orgelbauers Hessing sorgte für eine ambivalente Wahrnehmung seitens der Ärzteschaft. Anstelle einer Kurzfassung über die Entwicklung der Hessing-Stiftung bis ins 21. Jahrhundert wäre eine Einbettung Hessings und seines Wirkens in die medizinhistorische Forschung wünschenswert gewesen. Mit der linearen Darstellungsweise, die auch die Ausführungen Werner Lenggers über die wichtigsten Etappen des Augsburger Hauptkrankenhauses bestimmt, bricht Carolin Ruther in ihrem Beitrag. Sie deutet die Entstehung des Augsburger Stadtbads im Kontext von Urbanisierung, Industrialisierung, Hygienebewegung, bürgerlicher Ideenwelt sowie kommunaler Begebenheiten.
Zusammenfassend lässt sich konstatieren, dass viele thematisch und methodisch facettenreiche Schlaglichter über die Stadt-, Medizin- und Kulturgeschichte informieren, aber dass zugleich – wie bei Sammelbänden üblich – kein konzises Bild entsteht. Orte, Personen, Objekte, Einrichtungen, Strukturen, Entwicklungen, Diskurse und vieles mehr werden aus verschiedenen Perspektiven untersucht und dargestellt. Unterschiede zeigen sich in der analytischen Tiefe der Beiträge. Während einige vor allem deskriptiver Natur sind (u.a. die Untersuchungen von Marion Ruisinger, Artur Dirmeier, Stefanie Sander-Sawatzki), haben andere eine systematisch-analytische Ausrichtung (z.B. Sarah Schmid, Claudia Stein, Carolin Ruther). Teilweise widersprechen sich die Artikel, ohne dabei aufeinander Bezug zu nehmen; so behauptet Dirmeier, dass Schneidhaus und Holzhaus in Augsburg nur alternierend geöffnet waren (S. 326), während Kinzelbach anhand der Quellen einen ganzjährigen Betrieb nachweisen konnte (S. 257). Obwohl insgesamt einen langen Zeitraum abdeckend, liegt der Schwerpunkt des Bands auf dem 16. Jahrhundert. Gern nimmt man dieses großformatige, ansprechend gestaltete und passend bebilderte Buch immer wieder zur Hand, da es erstmals Beiträge zu verschiedenen Aspekten der Medizingeschichte in Augsburg und Umgebung aus vielen Jahrhunderten präsentiert. Für die Stadtgeschichte wird es sicher zum Standardwerk werden; seine Erkenntnisse fordern geradezu zu weitergehenden Untersuchungen heraus.