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Aktuelle Rezensionen


Bernd Kasparek

Europa als Grenze. Eine Ethnographie der Grenzschutz-Agentur Frontex

(Kultur und soziale Praxis), Bielefeld 2021, transcript, 382 Seiten mit Abbildungen, ISBN 978-3-8376-5730-2


Rezensiert von Jens Adam
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 17.08.2023

Im Sommer 2021 rückten die Grenzen Polens, Litauens und Lettlands zu Belarus in den Fokus der Diskussionen zu europäischen Grenzschutzpolitiken. Eine wachsende Anzahl von Migranteninnen, Migranten und Flüchtenden, zunächst primär aus dem Irak, Syrien und Afghanistan, versuchte hier, durch irreguläre Grenzübertritte Zugang zur Europäischen Union zu erlangen. Die polnische Regierung reagierte mit repressiven Maßnahmen, die sie explizit als Ausdruck nationalstaatlicher Souveränität verstand. Die Angebote europäischer Akteure, Polen in der Sicherung der EU-Außengrenze zu unterstützen, schlug sie aus. In dieser Konstellation forderten auch polnische Grenzaktivistinnen und -aktivisten sowie regierungskritische Medien eine stärkere Präsenz von Frontex im Grenzgebiet. Von der Anwesenheit dieser europäischen Agentur erhofften sie sich eine größere Transparenz und auch die Beachtung von europäischen und internationalen Rechtsgrundsätzen, welche die polnischen Autoritäten in ihrem Umgang mit irregulären Migrantinnen und Migranten in wachsender Selbstverständlichkeit brachen.

Auf Basis von Bernd Kaspareks exzellenter Studie „Europa als Grenze“ lässt sich sehr gut nachvollziehen, warum solche Hoffnungen polnischer Aktivistinnen und Aktivisten schnell verflogen sind, aber auch, warum die polnische Regierung so vehement auf ihrer nationalstaatlichen Zuständigkeit beharrte. Denn das Buch ist sehr viel mehr als eine empirisch dichte und analytisch überzeugende Untersuchung der Entstehungszusammenhänge, Organisationslogiken und Arbeitsweisen von Frontex. Vielmehr bietet die europäische Grenzschutzagentur den Einstiegspunkt, um die Verwebungen zweier großflächiger Dynamiken, der „Transformation Europas“ und der „Transformation von Grenze“ (15) zu untersuchen. Das Fazit ist im Hinblick auf diesen Zusammenhang düster. Frontex ist letztlich Ausdruck der „fundamentalen Misere der europäischen Migrationspolitik“ (338). Diese besteht für Kasparek in dem „Bruch [...] zwischen Politiken und Praktiken der Grenzkontrolle als Migrationskontrolle einerseits und des Reichtums an Erfahrungen, Träumen, Begehren und Projekten, welche andererseits die Migration auszeichnen“ (ebd.). Die Reduktion menschlicher Mobilität auf Begrenzung und Abwehr, auf biopolitische Problemstellungen und „technologische Herausforderungen“ rührt demnach an der „demokratischen Verfasstheit der europäischen Gesellschaften“ (ebd.). Die Untersuchung einer Agentur innerhalb der zunehmend repressiven europäischen Grenz- und Migrationspolitiken führt hier also zu den inneren Gefährdungen der europäischen Demokratien. Eine Diagnose, von der die jüngeren Entwicklungen in Polen ein beredtes Beispiel liefern.

Konzeptionell ist Kaspareks Studie, die als Dissertation an der Universität Göttingen entstanden ist, an den Schnittpunkten der kritischen Migrations- und Grenzregimeforschung, der anthropologischen Europäisierungsforschung sowie der Anthropology of Policy angesiedelt. Im Anschluss an den ersten Diskussionsstrang versteht Kasparek „Grenzregime“ als Ko-Produktionen von menschlicher Mobilität und staatlichen Politiken. Migrantinnen und Migranten verfügen über ihr eigenes Handlungsvermögen, das Migrations- und Grenzpolitiken so häufig scheitern lässt. Diese Perspektive führt den Autor zu der Frage nach dem „,Wie‘ des Regierens“ der Migration, also zu den „konkreten Regierungsrationalitäten und Machttechnologien“ (32), die im Zuge solche Politiken entwickelt und angewandt, gleichfalls aber in den Kämpfen von Migrantinnen und Migranten um Zugänge herausgefordert werden. Die Anthropology of Policy eröffnet einerseits den Blick auf politische Papiere und intergouvernementale Vereinbarungen als ethnografische Quellen, zum anderen auf die Produktivität von Policies. So gelingt es Kasparek, das Auftauchen neuer „territorialer Assemblagen“ (Kapitel „Grenze“), von Netzwerken und Zirkulationsräumen im Zuge der sukzessiven Herausbildung von europäischen Grenzpolitiken nachzuzeichnen. Das Interesse an den unterschiedlichen „Modi“, in denen Europäisierung innerhalb der Grenzschutz-Agentur, aber auch in den Konstellationen, Hotspots und Zonen entlang der EU-Außengrenze verläuft, ist hierbei wegweisend und anschlussfähig für anthropologische Forschungen zur EU als einem wandelbaren, machtdurchzogenen politischen Gefüge.

In methodischer Hinsicht liegt der besondere Beitrag dieser Studie in der ethnografischen Umsetzung eines genealogischen Ansatzes zur Erforschung supranationaler politischer Dynamiken. „Genealogie“ versteht Kasparek im Anschluss an Michel Foucault als eine Perspektive, welche die Gegenwart nicht als „von Anfang an angelegtes Ergebnis einer historischen Entwicklungslinie“ untersucht, sondern als „eher zufälliges [...] Resultat einer Abfolge von Kontingenzen, Rationalitäten, Problematisierungen und Verschiebungen“ (43). Entsprechend werden hier für eine „lange Genealogie des Projektes Europäischer Grenzschutz“ (13) diskursive Formierungen und auftauchende Problematisierungen von „Grenze“ und ihrem „Schutz“, genommene und übergangene Abzweigungen, sich überlappende Regierungslogiken europäischer und nationalstaatlicher Akteure, plötzliche Brüche und gelegentliche Beschleunigungen in Zeiten von „Krisen“ rekonstruiert. Die empirische Basis bildet hierzu zunächst ein über Jahre aus vielfältigen Quellen zusammengetragenes „Archiv der Europäisierung des Grenzschutzes“ (45), das politische Dokumente, Vereinbarungen und Diskussionspapiere zur europäischen Innen-, Justiz-, Migrations- und Grenzpolitik aus mehreren Jahrzehnten enthält. Im Anschluss an Ann Stolers Überlegungen zur Arbeit in (post-)kolonialen Archiven entwickelt Kasparek eine dezidiert ethnografische Perspektive auf diese Materialien. Dabei geht es nicht so sehr um Ideologiekritik oder um die Unterfütterung einer Argumentationslinie, sondern darum, den mitunter widersprüchlichen Rationalitäten und Verständnisweisen der beteiligten Akteurinnen und Akteure nachzuspüren. Kaspareks Ansatz und Umsetzung sind hier zweifelsohne beispielhaft. Die sehr akribische Analyse politischer Dokumente mag für manche Leserinnen und Leser eine Herausforderung darstellen; aber jeder Anthropologe und jede Anthropologin, die sich politischen Feldern über „Genealogien“ und „Archive“ nähert, sollte diese Studie konsultieren.

Die Archivarbeit wird ergänzt durch Sequenzen, die auf Kaspareks ethnografische Forschungen an Orten des europäischen Grenzregimes zurückgehen: Beobachtungen und Gespräche im Warschauer Hauptquartier von Frontex sowie an den Orten von Frontex-Einsätzen an der türkisch-griechischen Landgrenze sowie auf der Insel Chios machen Topografien, Infrastrukturen, Interaktionen und Alltage des Projektes „Europäischer Grenzschutz“ plastisch.

Die Untersuchung der Funktionsweisen und Rationalitäten, in denen das „Regieren Europas“ in solchen Konstellationen vonstattengeht, benennt Kasparek als zentrale „Aufgabe der kritischen Europaforschung“ (168). Durch seine Analyse des Auftauchens von Agenturen – am Beispiel von Frontex – als einer neuen Organisationsform europäischer Gouvernementalität leistet er hierzu selbst einen wesentlichen Beitrag. Agenturen stehen demnach für eine sich sukzessive herausbildende exekutive Ordnung der EU, die zwar einerseits im Spannungsverhältnis zwischen nationalstaatlicher Souveränität und Dynamiken der Supranationalisierung operiert, andererseits aber auch neue Felder der Europäisierung öffnet. Denn Agenturen bilden Netzwerke aus lokalen, nationalstaatlichen, europäischen und anderen Akteuren, die dieses Spannungsverhältnis vielfältig durchkreuzen. Sie initiieren – vorgeblich de-politisierte – Prozesse der Wissensproduktion zu Fragen wie einem „integrierten Migrationsmanagement“ oder von Analyseinstrumenten zu dem „Risiko“, das Migration für die Außengrenzen der EU darstellen könnte. Die nationalen Grenzschutzinstitutionen in einen kontinuierlichen „Modus des Austauschs und der Kooperation zu versetzen“ (194), Standardisierungen und Zirkulationen von Expertisen zu ermöglichen, wird hierbei zu der „zentralen Problemstellung der Europäisierung des Grenzschutzes“ (ebd.).

In den letzten beiden Kapiteln untersucht Kasparek, wie sich Einsätze von Frontex als Interaktionen und Kooperationen mit nationalstaatlichen Akteuren und anderen Agenturen ausspielen. Eine längere ethnografische Sequenz führt in dem Kapitel „Hotspot“ zu dem im Oktober 2015 auf der Insel Chios neu eingerichteten „Hotspot Vial“. Dieses in einer ehemaligen Aluminiumfabrik eingerichtete Registrierungszentrum wird als ein Kreuzungspunkt unterschiedlicher Phantasien eines technokratischen Regierens der Migration, von gouvernementalen Logiken und Machttechniken fokussiert und als „intensive Zone“ von Europäisierung (307–328) theoretisiert. In der fließbandmäßigen Aneinanderreihung unterschiedlicher Praxen zur Identifizierung, Registrierung und Kategorisierung von Menschen zeigt sich ein „neuer Modus der Europäisierung“, der punktuelle Verbindungen der Agentur mit nationalstaatlichen Prozederen schafft, temporäre Vernetzungen und Zirkulationen europäischer Expertisen beschleunigt. In der Einschätzung von Kasparek wird hier eine „Version von Europa“ produziert, ein Europa, das „gleichzeitig höchst lokal und dennoch europäisch“ ist (328).

Die These, dass mit den als Reaktion auf die Ereignisse des Sommers 2015 getroffenen Beschlüssen zu Frontex als European Border and Coast Guard Agency ein „Maximum an Europäisierung“ (331) innerhalb des gegenwärtigen Vertragswerkes erreicht und somit das „Projekt europäischer Grenzschutz [...] vorläufig vollendet“ (280) sei, ließe sich im Lichte aktueller Ereignisse neu diskutieren. Russlands Angriffskrieg gegen ein Nachbarland der EU wird neue Problematisierungen von Europas Grenzen und ihrem Schutz mit sich bringen. Die rassifizierenden Logiken europäischer Grenzpolitiken treten in den massiven Ungleichbehandlungen von ukrainischen Kriegsflüchtlingen und Schutzsuchenden aus dem Globalen Süden besonders deutlich hervor. Und das Beispiel Polens zeugt von der Fähigkeit und Bereitschaft von Mitgliedstaaten der EU, europäische Vereinbarungen und Agenturen zu ignorieren und Allianzen zu einer noch repressiveren Grenzpolitik zu bauen. Wenn wir die Einsicht ernst nehmen, dass Europäisierung keine lineare Entwicklungsdynamik zu einer immer stärkeren Supranationalisierung darstellt, sondern auch gegenteilige Effekte hervorrufen kann, so bleibt abzuwarten, wie sich diese krisendurchzogene Gegenwart auf politische Vorstellungen von Europas Grenzen und ihrem „Schutz“, aber auch auf unseren disziplinären, analytischen Begriff von „Europäisierung“ auswirken wird.