Logo der Bayerischen Akademie der Wissenschaften

Kommission für bayerische Landesgeschichte

Menu

Aktuelle Rezensionen


Kathrin Yacavone/Bernd Stiegler (Hg.)

Erinnerung, Erzählung, Erkundung. Fotoalben im 20. und 21. Jahrhundert

(Fotogeschichte. Beiträge zur Geschichte und Ästhetik der Fotografie 42, H. 165), Ilmtal-Weinstraße 2022, Jonas, 80 Seiten mit Abbildungen, ISSN 0720-5260


Rezensiert von Martin Beutelspacher
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 24.08.2023

Nachdem sie bereits 2021 in der Zeitschrift „Fotogeschichte“ die Fotoalben des 19. Jahrhunderts unter die Lupe genommen hatten, gaben Kathrin Yacavone und Bernd Stiegler nun das Heft zu den Fotoalben im 20. und 21. Jahrhundert heraus. In ihrem Editorial zeichnen sie profund die Geschichte der Fotoalben nach, die sich mit dem Aufkommen der Amateurfotografie zu Anfang und ihrer massenhaften Verbreitung im Verlauf des 20. Jahrhunderts weit ausdifferenziert. In einem Fotoalbum werden viele Fotoabzüge in einem größeren, meist chronologischen Zusammenhang geordnet aufbewahrt und im sozialen Umfeld präsentiert. Wie der Hefttitel andeutet, sind die Alben ein Ort persönlicher Erinnerung, der denen, die nicht dabei waren, vielfältige Chancen der Erkundung bietet. „Im Hinblick auf seine erfinderische Vielfältigkeit ist das 20. Jahrhundert sicherlich das Jahrhundert des Fotoalbums.“ (4) Familien-, Kinder- und Urlaubsalben kommen auf, spezifische Alben etwa zum Krieg, zu einzelnen Betrieben oder Projekten kommen hinzu.

Die digitale Fotografie verändert die Situation beträchtlich. Die Menge der bereits vorher massenhaften Fotografien nimmt noch einmal stark zu. Ihre Aufbewahrung, Aufbereitung und Präsentation wird noch vielfältiger und sprengt jeden bisherigen Rahmen. Dennoch bleiben auch die neuen, dynamisch sich entwickelnden Formen „Fenster auf soziale Formationen“ (6).

Von den sechs Beiträgen des Heftes widmen sich fünf dem Fotoalbum im 20. Jahrhundert. Verena Gamper präsentiert Ludwig Wittgensteins Fotoalbum. „Ein Ort des reinen Zeigens“ – so der Titel ihres Beitrags – ist ein kleines Notizbuch, dessen Seiten mit Fotoabzügen beklebt sind. Wittgenstein, der auch in seinen philosophischen Schriften wiederholt die Fotografie thematisiert, zeigt sich hier als Praktiker, der eine „grundlegende analytische Auseinandersetzung mit den methodischen Möglichkeiten der Beschreibung und Darstellung der Welt“ (7) leistet. Die Anordnung ist vielgestaltig, Fotos sind beschnitten, Formate sind verschieden, es gibt motivische Sprünge zwischen Porträts, Gruppenbildern und Landschafts- oder Architekturfotografien. Das Album stellt sich als „ein Archiv von Geschichten und Gesichtern“ (14) dar, in dem Personen und Orte in streng ausgewählter Form ohne jeglichen Kommentar präsentiert werden.

Ganz anders als Wittgenstein verfährt Kurt Schwitters! Er sortiert in vier gleichartigen Heften, die Judith Riemer unter der Überschrift „‚Beste‘, ‚mittlere‘ und ‚schlechte‘ Fotos“ vorstellt, 203 Kontaktabzüge im Format 6 x 6 cm aus der Zeit um 1930. Es sind vor allem Sachfotografien (Straßen, Landschaften, Fassaden) sowie Detailfotografien von Eis oder Gestein, Blättern und Bäumen. Sie sind als „Beste“, „Mittlere“ und „Schlechte“ Fotos auf drei querformatige Zeichenhefte verteilt, das vierte trägt den Titel „Fotokompositionen“. Die wertende Aufteilung scheint vor allem bei der Anlage der Hefte relevant gewesen zu sein. Mit dem vierten Heft wird diese Systematik durchbrochen. Riemer verweist auf den typografischen Aufbau der Hefte, in denen die Abzüge streng in senkrechten Spalten und waagrechten Zeilen angeordnet sind. Die Zahl und Anordnung der Fotografien pro Seite variiert, wobei Bilderblöcke dominieren, in denen die Motive gleichwertig wirken. „Insgesamt gestaltet er die Alben weniger von den Motiven als von der leeren Seite ausgehend und weniger mit dem Blick des Fotografen als dem des Typografen“ (25), resümiert Riemer ihre Analyse von Schwittersʼ Bemühen um Ordnung.

Jürgen Matthäusʼ Beitrag „Opa im Osten“ thematisiert private deutsche Fotoalben zum Zweiten Weltkrieg. Er fragt auf Basis der Untersuchung von über 300 einschlägigen Fotoalben: „Welche Sicht- und Erzählweisen über den Krieg dominieren und welche Rolle spielt Gewalt?“ (27) Einige Alben stellt er vor. Viele erinnern an Familien- oder Kinderalben. Mehr an Urlaubsalben lassen die häufigen Bildfolgen von „Ostjuden“ und „Roma“ denken, die wie „Touristenattraktionen“ (29) wirken. Durch Bildunterschriften wird oft eine rassistische oder sexistische Tendenz deutlich. Insgesamt stehen aber die soldatische Umgebung und das gemeinsame Erleben im Vordergrund. Hier zeigt sich eine gesellige, positiv aufgeladene Welt, die sich in ihrer Emotionalität nicht um die besetzten Gebiete der Umgebung kümmert. Wenn sich aber doch „gewaltgeladene Szenen“ finden, „dürfte dieser Kontrast die positive Erinnerungswirkung noch verstärkt haben“ (29). Die meist verharmloste kriegerische Gewalt wirkt zwischen den Gelage- und Kantinenszenen der Soldaten eher beiläufig. Im Kommunikationsprozess zwischen dem Fotografen und seinem in der Regel familiären Publikum steht das Bemühen um „Selbstvergewisserung und Konsensherstellung“ (33).

Thematisch dicht dabei bleibt Arno Gisinger mit seinem visuellen Essay „ALBUM/ATLAS. Fotografien aus dem Zweiten Weltkrieg mit historischer Latenz“. Farbige Vergrößerungen und die detaillierte Würdigung von Albumumschlägen und -seiten rahmen einen sehr persönlichen Beitrag zur Rezeption eines vom Vater hinterlassenen Kriegsbilderatlas’ mit 220 Fotoabzügen sowie eines völlig leeren, dienstlich empfangenen Kriegsbilderalbums mit Blech-Reichsadler und aufwändiger Ausstattung. Das Gespräch zwischen Vater und Sohn über das Kriegserleben viele Jahre später anhand des Atlas’ ist Auslöser für die biografische Erzählung. Auch wird hier deutlich, dass der Krieg für die Soldaten oft die bis dahin größte Entfernung von ihrer Heimat und damit auch ein touristisches Erlebnis war.

Sandra Starke nennt ihren Beitrag über die Repräsentation der Erwerbsarbeit in Fotoalben aus der DDR „Arbeit im privaten Bild“. Sie fragt, ob und wie weit die Arbeit, der Betrieb, das Kollektiv in privaten Alben vorkamen und neben Urlaub und Geburtstagsfeiern eine Rolle spielten. Bei 71 von 194 untersuchten Alben hat Starke zumindest ein Bild gefunden, das in einem Zusammenhang mit der Erwerbsarbeit steht. So genannte Arbeitsalben wurden sogar extra angefertigt und bei passender Gelegenheit als Geschenk überreicht. Hier stehen soziale Ereignisse oder humorvolle Schilderungen der Arbeit im Vordergrund. Die „Brigadebücher“ mischten Text und Fotoabzüge. Sie waren zwar subjektiv und hatten einen fast privaten Charakter; gleichzeitig waren sie offiziös, weil sie überprüft und im Betrieb aufbewahrt wurden und so auch eine Kontrollfunktion haben konnten. Die Präsenz von Arbeit im privaten Album zeigt und differenziert Starke an einigen Beispielen und fasst dies so zusammen: „Das bürgerlich tradierte Medium Fotoalbum fand in der DDR eine Erweiterung um eigene Perspektiven auf die alltäglichen Arbeitswelten der Besitzer*innen der Alben. Private Alben im Sinne eines arbeiterlichen Selbstverständnisses neu zu definieren, gelang jedoch nicht.“ (58)

Jens Ruchatz thematisiert unter dem Titel „Sag mir, wo das Album ist…“ die „Sammlungen persönlicher Fotografien im digitalen Zeitalter“ (60) und den Umgang damit. Als Album werden häufig in einer „Weiterführung von medial Gewohntem“ (60) auch digitale Sammlungen bezeichnet. Ruchatz fragt, ob diese Übertragung stimmig ist. Er definiert zunächst die vier funktionalen Charakteristika des traditionellen persönlichen Fotoalbums, die er jeweils ausführlich erläutert und begründet: das Aufbewahren, das Sammeln und Selektieren, das Sortieren und Kontextualisieren sowie das Präsentieren. Diese Merkmale bieten in einem traditionellen Fotoalbum die Möglichkeit, sie jeweils persönlich auszugestalten. Nicht nur als nostalgische Praxis haben Fotoabzüge in papierenen Alben auch heute noch ihren Stellenwert. Als „Remediatisierung“ (63) fasst Ruchatz hingegen die Fotobücher auf, die am Computer verfasst und von spezialisierten Anbietern ausgedruckt sowie als Buch per Post zugestellt werden.

Geordnete Sammlungen zum Zwecke des Präsentierens lassen sich an jedem Tablet leicht erstellen. Auf die für das Fotoalbum konstitutiven vier Funktionen hin werden digitale Bildersammlungen untersucht. Obwohl viele digital aufgenommene Fotos für den unmittelbaren Gebrauch gedacht sind, bewahren entsprechende Online-Plattformen Fotos auf, allerdings binär und damit fragil. Hier ist ständige Aktivität notwendig „Ein digitales ‚Album‘ als solches bewahrt Fotos nicht verlässlich auf.“ (64) Die ungeheure Menge von Fotografien führt zur Anhäufung sehr vieler sehr ähnlicher Bilder und verlagert die Selektion zeitlich weit weg von der Erstellung des Bildes. Was als Album bezeichnet wird, ist „in der Regel nicht mehr als ein Container“ (65), was eine lebensgeschichtliche Erzählung mit Hilfe der Bilder eher erschwert als erleichtert. Das Sortieren ist problemlos möglich, die jeweilige Bilderanordnung ist variabel. Das Betrachten als Einzelperson birgt die Gefahr, dass man sich in der Menge verliert, in kleineren Gruppen ist die Kombination von Bild und Kommentar der traditionellen Albumpräsentation ähnlicher. Werden die Fotos online einem größeren Kreis zugänglich gemacht, verliert sich dieser Charakter wieder. Ruchatz hält den Anspruch, digitale Fotos traditionell „im Modus des Albums zu sortieren und zu rematerialisieren“ (69) auf längere Sicht für wahrscheinlicher als eine bislang ausstehende „schlüssige digitale Umsetzung der Form des Albums“ (69).

Mit diesen sechs Beiträgen – zu denen noch die Vorstellung des Fotografen Will Burgdorf und der Künstlerin Om Bori kommt – ist das Thema umrissen. Leider fehlt eine spezifische Auseinandersetzung mit dem von allen Spielarten wohl verbreitetsten und immer wieder erwähnten Familien-, Kinder- und Urlaubsalbum. Vielleicht bald in einem eigenen Heft der „Fotogeschichte“?