Logo der Bayerischen Akademie der Wissenschaften

Kommission für bayerische Landesgeschichte

Menu

Aktuelle Rezensionen


Peter Hinrichs/Martina Röthl/Manfred Seifert (Hg.)

Theoretische Reflexionen. Perspektiven der Europäischen Ethnologie

(Reimer Kulturwissenschaften), Berlin 2021, Reimer, 235 Seiten, ISBN 978-3-496-01667-0


Rezensiert von Beate Binder
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 31.08.2023

Der Band möchte nicht einfach Theorie reflektieren, sondern ein Zeichen setzen: Gezeigt werden soll die Bedeutung von Theoriearbeit für europäisch-ethnologische Wissenschaftspraxis. In der Einleitung konstatieren Peter Hinrichs, Martina Röthl und Manfred Seifert, dass der Vorrang des Empirischen und die damit einhergehende – unterstellte wie tatsächliche – Theorieabstinenz der (Europäischen) Ethnologie überwunden sei, das Fach im Gegenteil auf eine mindestens seit den 1960er Jahren forcierte Auseinandersetzung mit und Produktion von Theorie zurückschauen könne, nicht nur die Rezeption, sondern die (Weiter-)Entwicklung von Theorien einen selbstverständlichen und unhintergehbaren Teil europäisch-ethnologischen Arbeitens darstelle. Um dies zu zeigen, hatten die Herausgeberin und die beiden Herausgeber „theorieaffine Fachvertreter*innen“ eingeladen zu diskutieren, wie sie Theorie als heuristisches Angebot nutzen und sich – auch aus anderen disziplinären Traditionen stammende – Theorieangebote zu eigen machen. Versammelt sind nun neun Beiträge, in denen jeweils einzelne Konzepte beziehungsweise Theoriestränge im Zentrum stehen, durch die zum einen das aktuelle empirische – ethnografische – Arbeiten des Fachs vorangebracht wird und die zum anderen selbst durch die empirische Fachexpertise profiliert werden/wurden. Das in der Einleitung formulierte Plädoyer für ein notwendig plurales, aber keineswegs beliebiges Anknüpfen an Theoriebestände wird mit den eingeworbenen Beiträgen anschaulich eingelöst, dabei aus verschiedenen Perspektiven auch das reflexive kultur- und gesellschaftsanalytische Selbstverständnis des Fachs als kritische Wissenschaft ausbuchstabiert.

Nach der auch in fachgeschichtliche Traditionen ausholenden Einleitung, die einerseits einen Abriss der Auseinandersetzung mit Theoriearbeit leistet, andererseits anbietet, über die heuristischen Potentiale von Theorie nachzudenken, folgen drei Abschnitte mit jeweils drei Beiträgen und einer kommentierenden Zusammenschau.

Im Abschnitt „Reflexionsebenen“ plädiert zunächst Ingo Schneider unter dem Schlagwort „Verantwortung“ für eine engagierte, an gesellschaftlichen Problemlagen orientierte empirische Kulturforschung, die die außenstehende Beobachterposition zugunsten einer reflektierten Positioniertheit in der Welt aufgibt. „Zwischen Aushandlungsparadigma und Kontextualismus“ entwickelt Jens Wietschorke dann einen Rahmen, der es erlaubt, gesellschaftliche Konfliktfelder in ihrer historischen wie gesellschaftlichen Situiertheit zu fassen, zugleich wird beides – Aushandlung und Kontext – theoretisch wie wissenschaftsgeschichtlich profiliert. Der Beitrag von Ira Spieker zu „Übersetzung“ greift ein Konzept auf, das lange unhinterfragt das Selbstverständnis (europäisch) ethnologischer Forschung ausmachte, nämlich zwischen verschiedenen – als Kultur bezeichneten – Bedeutungssystemen zu vermitteln. Ira Spieker zeigt am Beispiel eigener Kooperationsprojekte im Grenzraum zu Polen und Tschechien die Produktivität des auf Reflexivität ausgerichteten Konzepts auf: Übersetzung fordert gewissermaßen, so Ira Spieker, quasi automatisch dazu auf, das eigene Tun aus einer Metaposition zu befragen und feit damit vor Essentialismen aller Art. Der Kommentar von Sabine Eggmann und Friedemann Schmoll greift die Denkangebote der Beiträge auf und diskutiert sie weiter, indem andere Anschlussmöglichkeiten und/oder Interpretationen angeführt werden.

Im zweiten Abschnitt „Alltagsdimensionen“ stehen eher praxis- und erfahrungsbezogene Theoriedimensionen im Zentrum. Ove Sutter führt unter den Schlagworten „Erzählen, Wissen, Hegemonie“ die Traditionen der (volkskundlichen) Erzählforschung weiter, indem er auf die narrative Formierung von Sozialität fokussiert. Kaspar Maase plädiert mit dem Konzept des ästhetischen Erlebens für eine alltags- und subjektbezogene – und damit eben empirische – Auseinandersetzung mit gegenwärtigen Ästhetisierungsprozessen. Schließlich diskutiert Silvy Chakkalakal die poietischen – das heißt aktivierenden und wirklichkeitsschaffenden – wie auch temporalen Dimensionen figurationaler Analysen. Dafür liest sie Norbert Eliasʼ Figurationsanalyse durch die Brille intersektionaler Ansätze der Geschlechterforschung sowie queerer Auseinandersetzungen mit Imagination und Kunst(schaffen) und betont den inhärent politischen Charakter relationaler Analysen, die das Denken für neue Möglichkeitsräume öffnen. In der Diskussion zeigen Monique Scheer und Brigitta Schmidt-Lauber, in welcher Weise die drei Texte zu Schärfung wie Problematisierung der Alltagskulturforschung beitragen, insbesondere indem sie Erfahrungen, (emotionales) Erleben und Verbundenheit als Teil wissenschaftlich reflektierter Praxis wie als Dimensionen des Alltags zulassen.

Im dritten Abschnitt werden unter der Überschrift „Heterogene Relationen“ drei Konzepte diskutiert, die in den letzten Jahren für das Nachdenken über soziale Dynamiken und die Kontingenz kultureller Prozesse unerlässlich geworden sind. Gisela Welz fokussiert das Konzept der Assemblage, mit dem Prozessuales, Widersprüchliches und ‚Zufälliges‘ gegenwärtiger Entwicklungsdynamiken zur Untersuchungseinheit gemacht werden. Am Beispiel von Stadt- und Policy-Forschung und mit Blick auf Analysen des „more than human“ zeigt sie die Produktivität dieses Konzepts auf, das sich von vorgegebenen Untersuchungseinheiten wie Ethnie oder Gesellschaft verabschiedet. Moritz Eges Beitrag zu „Konjunktur/Konstellation“ schließt hier sehr gut an, indem er die Relevanz machtkritischer Perspektiven für die Zeitdiagnostik und die Notwendigkeit mehrdimensionaler Zugriffe für die Analyse gegenwärtiger wie historischer Krisenphänomene darlegt. Auch die „conjuncture“ zeichnet sich durch Überdeterminierung aus, die sich nicht in der einen Logik, Erfahrung und Erklärung auflösen lässt, sondern zur differenzierten Analyse sozialer Kämpfe wie Krisenkonstellationen auffordert. Schließlich möchte Sabine Eggmann durch die Befragung (moderner) Subjektkonzepte zu einer kritischen Gegenwartsanalyse beitragen. Sie zeigt, wie die Verschiebung der Frageperspektive vom Wesen des Subjekts hin zu Prozessen der Subjektivierung zu einer (notwendig) empirischen „relationierende[n] Subjektivierungsforschung“ (203) auffordert, durch die Prozesse der Vergesellschaftung mit ihren vielen Variablen sichtbar gemacht werden können. Im abschließenden Kommentar skizzieren Johanna Rolshoven und Ingo Schneider nochmals die besondere Herausforderung für Forschende in der Europäischen Ethnologie, den ebenso vielfältigen wie komplexen Dynamiken gegenwärtiger gesellschaftlicher Prozesse gerecht zu werden. Sie fordern zu einem verflechtungssensiblen und Europa dezentrierenden Blick auf und verknüpfen die Rekapitulation der Konzepte Assemblage, Konjunktur und Subjektivierung mit der Aufforderung, diese erstens im Kontext interdisziplinärer Forschungsaufträge zu positionieren, die auch auf die Krise der disziplinär organisierten Universität reagieren, zweitens die Situiertheit europäischer Wissens- und Erkenntnisinteressen (stärker) zu problematisieren, sich drittens auch prognostischen, theorie-determinierende Weltsichten hinter sich lassenden Forschungsaufträgen zu stellen, die sich viertens der weltmachenden Effekte der eigenen Forschung stets bewusst bleiben.

In gewisser Weise können diese Aufforderungen als Quintessenz des Bandes gelesen werden, dessen Beitragende allesamt die Bedeutung des Theoretisierens wie auch der Reflexivität für europäisch-ethnologisches Arbeiten sichtbar machen. In der Zusammenschau liefern die Beiträge erhellende Einblicke in theoretische Diskussionsstränge und stellen mehrheitlich konzise Überblicke über Entstehungszusammenhänge und Nutzungsweisen der jeweiligen theoretischen Konzepte bereit, die sich sehr gut auch als erster Einstieg in gegenwärtige Debatten der Europäischen Ethnologie und damit auch für die Lehre eignen, wie ich selbst bereits mehrmals erprobt habe. Die Gliederung ist schlüssig (auch wenn – wie immer – auch andere Sortierungen denkbar gewesen wären). Besonders überzeugt die Kommentierung, die von den Teams erfrischend unterschiedlich genutzt wurde. Die Kommentare machen zweierlei deutlich: Erstens, dass Theorieangebote mit ihren Auslegungen und Gewichtungen ihrerseits positioniert und insofern kritisier- und diskutierbare Lesarten sind, die befragt, umgeschrieben und weiterentwickelt werden können. Zweitens verweisen sie auf den spezifischen Status von Theorie im Verständnis einer empirisch – ethnografisch – arbeitenden Kulturwissenschaft. Theorie lässt sich nicht einfach „anwenden“, sondern entfaltet ihre volle Bedeutung erst in der Auseinandersetzung mit Empirie, steht insofern auch nicht über dieser. Vielmehr ist das Zu-Eigen-Machen von Theorie ein seinerseits stets wieder zu befragender, ebenso kreativer wie reflexiver Prozess. So zieht sich auch wie ein roter Faden durch die Beiträge die Aufforderung, immer auch die weltmachenden Effekte der eigenen Forschung im Blick zu behalten, die Wechselwirkung von theoretischen Konzepten und Wahrnehmungsweisen zu reflektieren und um die Situiertheit der eigenen Problemanalysen zu wissen. Die Rahmung empirischer Forschungen durch Theorie ist immer auch eine Entscheidung, einen spezifischen Blick auf die Welt zu werfen, bestimmte Aspekte ins Zentrum zu stellen.

Doch auch wenn die Hinweise, dass – wie es Sabine Eggmann in ihrer Auseinandersetzung mit Subjektkonzepten formuliert – theoretische Konzepte immer dazu auffordern, die mit ihnen tradierten, meist impliziten Denktraditionen und Erkenntnisinteressen zu befragen, hätte ich mir eine konsequentere Auseinandersetzung mit postkolonialen wie auch queertheoretischen Impulsen gewünscht, durch die diese Form der Selbstreflexivität noch deutlicher hätte akzentuiert werden können. Gerade die Bezeichnung Europäische Ethnologie muss dazu herausfordern, auch die Verankerung in europäischen Praktiken der Wissensproduktion zu befragen und theoretisch wie methodisch eigene Praktiken zu verschieben oder neu zu erfinden. Hier dient die Bezeichnung Europäische Ethnologie als Memento. Im positiven Sinn verweist sie auch auf die in einigen Beiträgen neben den Cultural Studies stehenden dichten Bezüge zur US-amerikanischen beziehungsweise britischen Anthropologie, die für gegenwärtige theoretisch-empirische Auseinandersetzungen im Fach wichtige Impulse liefern. Gerade wenn es um Fragen der Theoriebildung geht, ist das Fach nicht nur Empirische Kulturwissenschaft.