Aktuelle Rezensionen
Bernd Jürgen Warneken
Intersoziale Begegnungen im Großstadtraum. Drei Berliner Zeitbilder
Tübingen 2022, Tübinger Vereinigung für Empirische Kulturwissenschaft (EKW-Verlag), 267 Seiten mit Abbildungen, ISBN 978-3-947227-12-9
Rezensiert von Michaela Fenske
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 24.08.2023
Die weltweit wachsende soziale Ungleichheit drückt sich auch politisch aus. In immer mehr Staaten etwa gewinnen populistische rechtslastige Parteien an Gewicht. In der Türkei bestätigten die Menschen in weitgehend freien Wahlen im Frühjahr 2023 einen zunehmend autokratisch regierenden Präsidenten, und in Deutschland lebende türkeistämmige Wahlberechtigte haben ihren Teil dazu beigetragen. Nicht zuletzt der Altmeister der Erforschung popularer Kulturen, Bernd Jürgen Warneken, hat diese Entwicklungen selbst früh vorhergesagt. Bereits in seiner nach wir vor überaus lesenswerten „Ethnographie popularer Kulturen“ aus dem Jahr 2006 forderte er zur dauerhaften Bewahrung demokratischer Verhältnisse, dass Forschende sich mit wachsender Dringlichkeit bemühen müssten, gerade die aufgrund ihrer politischen Haltung eher unbequemen sozialen Milieus zu verstehen (325). Zugleich hat Warneken 2016 in seinem Werk „Fraternité!“ unermüdlich die „schönen Augenblicke in der europäischen Geschichte“ betont, die langanhaltende Wirkkraft einmal ermöglichter positiver Veränderungen. In einem vergleichbaren Duktus ist auch sein 2022 erschienenes Buch über intersoziale Begegnungen im Großstadtraum geschrieben. Das Beispiel Berlin ergibt sich aus Warnekens profunder Berlinkenntnis, lebt der „Teilzeit-Berliner“ (267) doch inzwischen fast 40 Jahre in der Stadt. Warneken will seine hier vorgelegten drei Zeitbilder trotz oder eingedenk der in den Zwischenüberschriften klar formulierten begrenzten Effekte insgesamt als „Fortschrittsgeschichten“ (245) verstanden wissen. Denn er möchte zeigen, wie die Möglichkeiten sozialer Teilhabe und gesellschaftlicher Offenheit gegenüber Diversität im Zuge der Moderne beträchtlich gewachsen sind. Dazu analysiert er vor allem Begegnungsmöglichkeiten an solchen Berliner Orten, „an denen neue Entwicklungen, etwa ein neues Publikum oder neue Treff-Anlässe“ gegeben sind (11).
Das erste Zeitbild „Begrenzte Entgrenzung: Das Berliner Stadtpublikum um 1800“ (14–82) wirft einen Blick in das Berliner Sozialleben der preußischen Feudalherrschaft kurz vor dem Einmarsch der französischen Truppen. Obgleich formal streng nach Rechten und Pflichten getrennt, wird im Berlin dieser Zeit in Vereinen und in öffentlichen Räumen zunehmend eine Kopräsenz verschiedener Sozialmilieus und eine offenere Geselligkeit möglich. Im Tiergarten etwa sind am Sonntag ebenso Handwerksgesellen unterwegs wie prachtvoll gekleidete Frauen der bürgerlichen Oberschicht oder Angehörige aus Arbeiterfamilien. Überhaupt kommuniziert die Kleidung die neuen Möglichkeiten besonders deutlich: Wer es sich leisten kann, kleidet sich über seinem Stand, und gerade die Ärmeren achten besonders auf den schönen Auftritt. Doch während sich einerseits neue Vermischungen ergeben, verhärten sich andererseits auch Grenzen, etwa zwischen den Geschlechtern sowie zwischen der christlichen und der jüdischen Bevölkerung.
Das zweite Zeitbild „Begrenzte Entgrenzung: Die Arbeiter:innen setzen sich in urbane Bewegung“ (83–164) behandelt vor allem die zwei Jahrzehnte vor dem Ersten Weltkrieg. Während sich mit dem Anwachsen der in den Industrien arbeitenden Bevölkerung einerseits die Soziotopografie Berlins in Gestalt monosozialer Wohngegenden festigte, sorgten andererseits neue Möglichkeiten der Fortbewegung wie die zunehmend elektrifizierten Stadtbahnen oder neue Orte der Vergesellschaftung wie das Warenhaus für wachsenden intersozialen Kontakt. Dieser gestaltete sich durchaus nicht immer zur allgemeinen Zufriedenheit, denn so mancher erfolgreiche Bürger musste dem Raumanspruch von Angehörigen unterer Sozialschichten weichen. Die Arbeiterjugend erwies sich im Vergleich zum Nachwuchs anderer sozialer Milieus als besonders mobil und auch großstadterfahren. Die urbanen Gärten des 19. und 20. Jahrhunderts, Laubenkolonien, neue Unterhaltungsstätten wie Kino oder Sportstätten und Volksbäder wurden zu neuen Orten intersozialer Begegnung. Die erstarkende Arbeiterbewegung erkämpfte sich mit Demonstrationen die Straße als ihr Handlungsfeld. Die Raumnahme der Arbeiterinnen und Arbeiter war derart umfassend, dass gewissermaßen städtische Reservate für Oberschichtsangehörige entstanden: Die Einrichtung einer ersten Klasse im öffentlichen Verkehr und der Besitz eines Automobils und damit der Individualstraßenverkehr können so gelesen werden.
Das dritte und letzte Zeitbild „Das türkeistämmige Berlin verlässt den Hintergrund“ (165–244) endet kurz vor der Gegenwart. Es behandelt „Raumgewinne“ von Berlinerinnen und Berlinern, deren Großeltern als „Gastarbeitende“ ursprünglich aus der Türkei nach Berlin gekommen waren. Warneken stellt ebenso die Herausbildung einiger Kieze wie die Gestaltung des urbanen Raums nach eigenen Bedürfnissen dar, etwa mit dem Bau von Moscheen. Der Entwicklung der Arbeiterjugend vergleichbar zeigt sich auch hier bei Angehörigen der dritten Generation eine stärkere räumliche und soziale Mobilität als bei ihren Eltern. Im Zuge des gemeinsamen Werdens verändert sich wieder die gesamte Stadt, erfährt neue Formen des Miteinanders und gemeinsamen Erlebens. Dass auch hier der soziale Austausch mit Konflikten verbunden sein kann, zeigt sich etwa an der zunächst umstrittenen Grillkultur im Tiergarten. Auch bedingen Erfahrungen von Ausgrenzung und Diskriminierung eine zunehmend aufbegehrende Jugendkultur, in der insbesondere männliche Jugendliche ihr – frei nach Henri Lefebvre − „Recht auf Berlin“ behaupten. Insgesamt aber dominiert gemäß Warneken die erfolgreiche Integration der türkischstämmigen Berlinerinnen und Berliner.
In diesem Band zeigen sich einmal mehr Warnekens profunde Forschungserfahrung und Belesenheit ebenso wie sein sozio-politisches Engagement. Einiges in dem Buch ist aufmerksamen Leserinnen und Lesern von Warnekens früheren Schriften nicht neu, doch wird es hier am Beispiel von Berlin neu zusammengestellt und um weitere Details bereichert. Was einmal mehr beeindruckt, ist Warnekens Vermögen, Zuversicht und Ambivalenz historischer Erfahrung gekonnt zu verbinden: Trotz der Perspektive auf „Fortschritt“ gelingt es ihm, Ambiguität, Differenz und Retardieren historischer Entwicklungen im Blick zu behalten. Wer wie die Rezensentin in Archiven tausende Selbstzeugnisse der 1950er, 1960er und 1970er Jahre gelesen hat, wird Warneken angesichts des sozialen Muffs, der Verstocktheit und Härte dieser Jahre zustimmen in seinem Befund, dass die Anerkennung gesellschaftlicher Vielfalt in der Bundesrepublik Deutschland enorm gewachsen ist. Und doch – die im Buch angelegte Ambivalenz setzt sich auf Seiten der Rezensentin fort − regt sich auch Widerspruch gegen die vom Autor gewählte Perspektive des Fortschritts. Gaukelt sie doch unter Umständen einen möglichen Endpunkt vor, auf den alles zuläuft, um im Gewünschten zu verbleiben. Die historische Erfahrung lehrt dagegen − mit Bertolt Brecht gesprochen −, dass „das Große nicht groß bleibt und klein nicht das Kleine“ (Das Lied von der Moldau, 1943) und dass die Frage, was jeweils was ist, im Auge der Betrachtenden liegt.