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Marc Meißner

Greif zur Feder, Chemiearbeiter! Eine empirisch-historische Fallanalyse zum künstlerisch-kulturellen Zirkelwesen im VEB Chemiekombinat Bitterfeld

Münster 2022, LIT, 172 Seiten, ISBN 978-3-643-25066-7


Rezensiert von Sönke Friedreich
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 07.09.2023

„Greif zur Feder, Kumpel, die sozialistische Nationalkultur braucht dich!“ war die bekannte Formel, mit der auf der 1. Bitterfelder Konferenz 1959 eine engere Verbindung staatlich geförderter Literatur mit der Lebens- und Arbeitswelt des Industriestaates DDR propagiert wurde. Dass die im Fachbereich Soziologie der Universität der Bundeswehr in Hamburg entstandene Abschlussarbeit von Marc Meißner über das Zirkelwesen im VEB Chemiekombinat Bitterfeld dieses Zitat aufgreift, ist naheliegend, war der 1959 eingeschlagene „Bitterfelder Weg“ doch von zentraler Bedeutung der DDR-Kulturpolitik der 1960er Jahre und darüber hinaus. Meißner geht es um die Beleuchtung der „mikroperspektivische[n] Dimension der Amateurkunstkollektive“ (7), die in diesem Rahmen eine Eigengeschichte entwickelten. Er versucht eine Neubewertung der Zirkelarbeit aus der Perspektive der Teilhabenden und damit letztlich eine Neueinschätzung der „Volkskunst“ in der DDR insgesamt. Zudem gelte es, einen neuen Blick auf die Stadt und den Betrieb zu werfen, da die öffentliche Wahrnehmung in „Bitterfeld“ bislang lediglich das Symbol für eine raumgreifende und umweltzerstörende DDR-Industriepolitik sowie für den grauen Alltag in der Diktatur sehe.

In seiner Analyse greift der Verfasser auf diverse schriftliche Quellen, eine Auswahl von in der Zirkelarbeit entstandenen Kunstwerken sowie auf Oral History-Interviews mit ehemaligen Zirkelmitgliedern zurück. Letztere spielen allerdings im Vergleich zu dem umfangreichen schriftlichen Quellengut (darunter programmatische Schriften, Brigadetagebücher, Kulturpläne, Werkszeitungen und Korrespondenzen der Zirkel) eine untergeordnete Rolle, hat der Verfasser doch lediglich acht (handschriftlich aufgezeichnete) Gespräche mit Zeitzeuginnen und Zeitzeugen geführt, von denen er vier auswertet. Diese unausgewogene Ausgangslage lassen das Vorhaben, Zugang zu den subjektiven Deutungen der Alltagsgeschichte der DDR-Bürgerinnen und -Bürger zu erlangen, zweifelhaft erscheinen. Auch ist die Einordnung in das altbewährte, allerdings etwas ausgereizte Lüdtkesche Konzept „Herrschaft und Eigensinn“ weniger originell als der Autor meint.

Die auf die Einleitung folgende, auf 25 Seiten dargelegte Geschichte der betrieblichen Volkskunst in der DDR beruht vorwiegend auf dem offiziellen Schrifttum der DDR und liest sich streckenweise wie die Beschwörung eines kulturpolitischen Paradieses, in dem sich die „Massen“, angeleitet und gefördert von einem wohlmeinenden und großzügig-paternalistischen Staat, als freie Kulturschaffende über die Tiefen des schnöden Alltags erheben konnten. So werden etwa unhinterfragt das „neue kulturelle Engagement der Arbeiter“ (57), die „künstlerische Selbstbetätigung“ (66), die „massenwirksamen Volksfestformate“ (62), die „Anhebung des künstlerisch-qualitativen Niveaus“ (60) und andere Perlen der DDR-Phraseologie reproduziert. Weder zu den ideologischen und machtpolitischen Motiven der DDR-Granden noch zu deren rabiatem Vorgehen gegen kulturelle „Abweichlerinnen“ und „Abweichler“ findet sich ein Wort, und auch die generelle Frage des Verhältnisses von Politik und Kunst unter den Bedingungen der Diktatur wird nicht gestellt, geschweige denn, wer denn das „Volk“ in der „Volkskunst“ eigentlich sein sollte.

Differenzierter wird im Hauptteil des Buches das künstlerische Zirkelwesen im Bitterfelder Chemiekombinat dargestellt. Hier sind zahlreiche Informationen zur Arbeit der künstlerischen Kollektive, zur Kooperation mit Berufskünstlerinnen und -künstlern und zu den entstandenen Kunstwerken zu finden, wodurch sich ein klares Bild von den Dimensionen dieses Teilsystems der DDR ergibt. Allerdings liest man auch in diesem Abschnitt vorwiegend Beurteilungen aus der Sicht der DDR-Funktionärinnen und -Funktionäre, sodass die Schmähung der freien Kunst in den nichtsozialistischen Staaten ebenso kritiklos zitiert wird wie die Überhöhung der „Volkskunst“ zum „Seismografen des zeitgenössischen Lebens“ (86). Die Interviews finden wiederum nur sehr sporadisch und in kurzen, affirmativen Zitaten Verwendung. Von einer „bottom-up-Perspektive“ (11), wie sie der Autor in der Einführung propagiert, kann hier kaum die Rede sein.

Die von Meißner vorgelegte Studie bietet einen die bisherigen Arbeiten ergänzenden Blick auf das betriebsgebundene „Volkskunstschaffen“ in der DDR sowie die Motive der aktiven Zirkelmitglieder und zeigt in den Details des Bitterfelder Kombinates die internen Logiken und offiziellen Interpretationen des staatlich propagierten und geförderten Kulturschaffens auf. Ihre Stärke liegt vor allem in der Aufarbeitung der überregionalen Bedeutung des Bitterfelder Kulturpalastes und seiner Rolle in der Volkskunstarbeit. Kritisch ist anzumerken, dass die Arbeit nicht nur die fragwürdige These vom freien, politisch unbelasteten künstlerischen „Volksschaffen“ in der DDR-Industrie in den Mittelpunkt stellt, sondern diese auch noch mit ungeeigneten Mitteln zu belegen versucht. So werden die aus den DDR-Organisationen überlieferten Schriften keiner ausreichenden Quellenkritik unterzogen und oftmals lediglich reproduziert. Die Zahl der Interviews wiederum ist viel zu gering, um ein auch nur annähernd differenziertes Bild von der Praxis des Volkskunstschaffens und seiner Rezeption zu erhalten, zumal drei der vier zitierten Interviewpartnerinnen und -partner als langjährige Kulturfunktionärinnen und -funktionäre im Chemiekombinat tätig waren und damit eine recht einseitige (verklärende) Sichtweise (re)präsentieren. Die Anlage der Studie nimmt damit logischerweise ihr Ergebnis vorweg: dass nämlich die betriebliche Kulturarbeit in Bitterfeld und letztlich der DDR insgesamt uneingeschränkt positiv zu bewerten sei. So schießt der Verfasser mit dem gut gemeinten Versuch, eine Gegenerzählung zum angeblich weiterhin so dominanten „Meisternarrativ“ von der repressiven DDR zu schaffen, deutlich über das Ziel hinaus.