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Aktuelle Rezensionen


Fatma Sagir (Hg.)

Rocking Islam. Music and the Making of New Muslim Identities

(Freiburger Studien zur Kulturanthropologie 4), Münster 2021, Waxmann, 190 Seiten, ISBN 978-3-8309-4396-9


Rezensiert von Brigitte Frizzoni
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 14.09.2023

Der vorliegende, überaus anregende interdisziplinäre Sammelband der Kulturanthropologin Fatma Sagir fragt nach der Rolle populärer Musik – insbesondere Hip-Hop – für die Identitätsfindung junger Musliminnen und Muslime, die in so unterschiedlichen Ländern wie Ägypten, Indonesien, Marokko, Tunesien, Großbritannien, den USA, Deutschland und der Schweiz leben. Musik ist ein bis heute kontrovers beurteiltes Feld im Islam, trotz reicher Musikkultur, wie Fatma Sagir einleitend umreißt. Denn je nach Auslegung des Korans und der Hadithe wird Musik – und der öffentliche weibliche Gesang und Tanz – als vereinbar mit den moralischen Werten des Islams und somit erlaubt („halal“) eingeschätzt oder als unvereinbar und somit verboten („haram“). Wie vielfältig junge Musliminnen und Muslime sich selbst und ihre Einstellungen zu Religion, Politik, Kunst, (Populär-)Kultur sowie traditionellen und modernen Lebensstilen mittels unterschiedlicher musikalischer Formen, Stile und Repertoires zum Ausdruck bringen, zeigen die hier versammelten Beiträge aus der Empirischen Kulturwissenschaft, Sozialanthropologie, Musikethnologie, Soziologie, Politologie sowie Religions- und Islamwissenschaft eindrücklich. Sie basieren auf einer internationalen Tagung, die im Herbst 2018 von der Herausgeberin zusammen mit dem Zentrum für Populäre Kultur und dem Institut für Kulturanthropologie an der Universität Freiburg im Breisgau ausgerichtet wurde.

Die dreizehn Forscherinnen und Forscher widmen sich den Fragen in zwei einführenden Beiträgen zu jungen Musliminnen und Muslimen und populärer Musik generell und in elf anschaulichen, erhellenden Fallanalysen. Sie sind in vier Kapitel zu „Musik und Jugendkultur“ (1), „Sounds, Texte und Zuschauerschaft“ (2), „Hip Hop lslam?“ (3) und „Musik, Religion, Identität“ (4) gruppiert.

Im ersten Kapitel „Music and Youth Culture“ sensibilisiert Kamaludeen Mohammed Nasir einführend dafür, dass die Rede über „muslimische Jugend“ eine Homogenität suggeriert, die der Lebensrealität mit religiösem Pluralismus, Deterritorialisierung des Islams, Migration, Modernisierungs- und Globalisierungsprozessen widerspricht. Diese Komplexität gilt es bei der Analyse von Identitätsfindung und -darstellung junger Musliminnen und Muslime zu berücksichtigen, zusammen mit deren lokaler und sozialer Situierung in der jeweiligen Mehrheits- und Minderheitsgesellschaft. Für einen transdisziplinären Zugang zu populärer Musik als kultureller Praxis und Aktion plädiert Christofer Jost. Er stellt Trends, Konzepte und Methoden vor, um Anziehungskraft, Vergnügen und Bedeutungspozentiale sowie die identitätsstiftende Koalition von Musikerinnen und Musikern und Publikum erfassen zu können. Silvia Ilonka Wolfs Fallstudie zum „political turn“ der indonesischen Band Sabyan Gambus, die traditionelle indonesische islamische Musik mit Popsound mischt und eine große Fancommunity hat, analysiert die Bühnen-Persona der Band als gläubige, tolerante Musliminnen und Muslime und trendige Millennials. Wolf zeigt auf, was geschieht, wenn diese Bühnen-Persona sich in einem ganz anderen Feld, der Politik, bewegt: Heftige Kontroversen zur (Un-)Vereinbarkeit von Popmusik und Politik werden unter Fans im Internet ausgefochten, als die Band während der Präsidentschaftskampagne 2019 den Gegenkandidaten unterstützt, der zudem durch Intoleranz auffällt, was mit der musikalischen Persona konfligiert.

Die Wertung von Musikstilen, Gender und Klassenzugehörigkeit der muslimischen Musikerinnen und Musiker wird im zweiten Kapitel „Sounds, Lyrics, Audiences“ in drei Fallanalysen betrachtet. Carl Morris nimmt die zentrale Gatekeeperfunktion von britischen Fernsehsendern wie dem Islam Channel und British Muslim TV für die muslimische Musikszene in den Blick, nicht nur bezüglich Repertoire und Musikstil, sondern insbesondere auch hinsichtlich Gender, aufgrund der Kontroversen um (Un-)Vereinbarkeit von Islam und öffentlichem weiblichem Auftritt und Gesang. Während British Muslim TV muslimischen Musikerinnen eine Plattform bietet, schließt der Islam Channel sie aus. Die Musikerinnen reagieren darauf mit unterschiedlichen Strategien, vom zustimmenden Rückzug in private Räume über pragmatische Aushandlungen von Bedingungen bis hin zum kompromisslosen Kampf für bedingungslose Auftrittsmöglichkeiten. Klassenspezifische Zuschreibungen beobachtet Gisela Kitzler in der Bewertung des populären ägyptischen Unterhaltungsmusikgenres Mahraganāt. Hier singen junge Männer aus Kairos Arbeitervierteln in kolloquialem Arabisch über alltagsrelevante – und damit durchaus auch religiöse – Themen. Dass die Abwertung dieses beliebten Genres als moralisch fragwürdig weniger mit den Inhalten der Songs als der Klassenzugehörigkeit der Musiker zu tun hat, weist Kitzler in ihrer Analyse der Liedtexte überzeugend nach. Der ethnografische Einblick des Musikers und Anthropologen Daniyal Ahmed in Musiksessions in einem Heim für Asylsuchende in Heidelberg stellt die Vorstellung der brückenschlagenden Integrationskraft von Musik über alle Unterschiede hinweg in Frage. Das vom Heim organisierte, wöchentlich stattfindende Musizieren für alle zieht Kinder, aber keine Erwachsenen an. Gemeinschaftsstiftender sind die selbst organisierten Musiksessions ethnischer Gruppierungen. Denn es sind die vertrauten Klänge, der geteilte Musikgeschmack und die gemeinsamen Erinnerungen und Emotionen, die Zusammengehörigkeitsgefühl schaffen.

Die vier Beiträge im dritten Kapitel „Hip Hop Islam?“ sind dem Einfluss politischer und religiöser Instanzen auf den Hip Hop, seinem politischen und identitätsstiftenden Potenzial sowie seiner Funktion als Aushandlungsraum gewidmet. Martin A. M. Gansinger zeichnet Einflüsse der religiösen und politischen Organisationen Moorish Science Temple, Nation of Islam und Five Percent Nation auf die schwarze Hip-Hop-Kultur nach. Unter dem Begriff „hybrider Gnostizismus“ fasst er diese Rekontextualisierung islamischen Glaubens zusammen. Rachida Yassine fokussiert Beginn und Ausdifferenzierung der marokkanischen Hip-Hop-Kultur im Kontext staatlicher Förder- und Zensurpolitik. Während junge muslimische Musikerinnen und Musiker Hip Hop im Vorfeld des Arabischen Frühlings gezielt als Strategie des Widerstands gegen soziale und politische Unterdrückung einsetzen, erfahren sie massiven Gegenwind durch die neue Förder- und Zensurpolitik, die nur noch monarchiefreundliche Musik zulässt. Amy F. Makota widmet sich der Rapperin Ebow, die sich mit ihren Songs, Covers und Musikvideos als kritische, deutsch-kurdisch-türkisch-amerikanisch geprägte Musikerin mit fluider hybrider Identität künstlerisch inszeniert. Auch die ethnografischen Porträts von Akbar Nour über die beiden muslimischen Westschweizer Rapper Shah Rick und Mel-K, die in ihren Raps Zuwanderungs- und Diskriminierungserfahrungen sowie ihren Glauben thematisieren, machen deutlich, dass Rap einen dynamischen Musikraum zur Aushandlung hybrider Identitäten in einem mehrsprachigen und multikulturellen Umfeld bietet.

Im vierten Kapitel „Music, Religion, Identity“ stehen Verhandlungen um Vereinbarkeit von populärer Musik und Islam sowie deren identitätsstiftendes Potenzial im Zentrum. Stefano Barone gibt einen differenzierten Einblick in die konflikthaften Dynamiken in der Metalszene im postrevolutionären Tunesien. Die muslimischen Metalheads, die einen modernisierten Islam mit kosmopolitischem Lebensstil befürworten und Metal als aufgeklärt und horizonterweiternd beschreiben, werden – politisch motiviert – als Satanisten verleumdet. Diese Verunglimpfung wird zur selbsterfüllenden Prophezeiung, als tatsächliche Satanisten in der Szene auftauchen, was zur Schwächung der Metalszene führt. Der erfolgreichen Verbindung von populärer Musik und islamischer Frömmigkeit im Genre des Pop-Nasheeds widmet sich Meltem Peranic. Pop-Nasheeds sind ursprünglich a cappella gesungene Lieder, die ab Mitte 2000 zunehmend als Coverversionen internationaler Hits auf YouTube zirkulieren. Die Hits werden mit arabischen Ausdrücken und religiösen Botschaften vermengt und elektronisch bearbeitet. Sie begeistern und setzen den verbreiteten negativen Assoziationen zum Islam (Terrorismus, Rückständigkeit und Unterdrückung von Frauen) positive (Lebensbejahung, Liebe und Toleranz) entgegen. Pop-Nasheeds können als Glaubenspraktiken junger Musliminnen und Muslime verstanden werden, die auch deren Lebensrealität in westlichen Gesellschaften zu integrieren vermögen. Die „multi-sited ethnography“ der Herausgeberin Fatma Sagir widmet sich abschließend der muslimischen weiblichen Verkörperung von „Coolness“ in der digitalen Kultur und im Hip Hop. Westliche Medien reduzieren die Frage nach der Kompatibilität von Islam und modernem westlichem Leben gerne stereotyp aufs Kopftuchtragen als Zeichen der Unterdrückung. Orthodoxe Normierungen von Bekleidung, Körperhaltung, Gesten, Blicken, Stimmen sowie Verhaltensweisen, zum Beispiel Bescheidenheit von Frauen im öffentlichen Raum, erklären den ganzen weiblichen Körper gewissermaßen zum Tabu und „haram“ im Islam. Darauf reagieren muslimische Bloggerinnen und Rapperinnen wie Dina Tokio und Mona Haydar in ihren Posts und Songs auf Social Media mit der Inszenierung neuer Bilder junger, cooler, selbstbestimmter Musliminnen und Muslime mit oder ohne Kopfbedeckung, welche die stereotypen Bilder und orthodoxen Auslegungen mit Humor und „Coolness“ in Frage stellen.

Gerade die beiden letzten Beiträge pointieren nochmals, was viele der versammelten Beispiele auch herausstreichen: Populäre Kultur, populäre Musik bietet jungen Musliminnen und Muslimen einen fruchtbaren Aushandlungsraum für eine Identitätsbildung, die pluralistische Lebensrealitäten in einer modernen, globalisierten Welt und traditionelle, religiöse Werte zu integrieren sucht. Dass dies nicht konflikt- und widerspruchsfrei gelingen kann, zeigen die hier versammelten Beiträge ebenfalls. Doch das vorherrschende Bild muslimischer Jugendlicher im öffentlichen Diskurs, das die Konflikthaftigkeit und Unvereinbarkeit von „islamischen“ und „westlichen“ Werten betont, gilt es zu differenzieren - nicht zuletzt angesichts selbstbewusster, rappender Musliminnen auf Social Media, die islamisch-orthodoxe Normierungen genauso wie westliche Vorurteile und Islamophobie aufs Korn nehmen und singen: „So even if you hate it I still wrap my hijab!“

Die auf dem Cover angekündigte Lesereise ins bisher vernachlässigte Forschungsfeld „muslimische Populär- und Jugendkultur“ ist einer breiten Leserschaft vorbehaltlos empfohlen!