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Laura Gozzer
Sich und anderen gerecht werden. Ethische Selbstentwürfe ehrenamtlicher Patinnen und Paten
Frankfurt am Main/New York 2022, Campus, 432 Seiten mit Abbildungen, ISBN 978-3-593-51629-5
Rezensiert von Felix Gaillinger
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 21.09.2023
Ethnografischen Arbeiten einen klaren, aber der Facettenvielfalt eines Feldes angemessenen Titel zu geben, der einen eindeutigen inhaltlichen Fokus durchblicken lässt, aber in seiner Komplexitätsreduktion nicht fehlgedeutet wird, ist ein durchaus schwieriges Unterfangen, das Laura Gozzer mit ihrer Dissertation bestens gelungen ist: Sich und anderen gerecht zu werden bezeichne einerseits eine Zielmarke. Sie sei gekoppelt an und bedingt durch strukturelle, institutionalisierte und aktivierungspolitische Imperative (aber eben nicht nur!) und könne nicht abschließend erreicht werden. Andererseits beschreibt der Titel einen Werdungsprozess, welchen im Rahmen von Gozzers Studie ehrenamtliche Patinnen und Paten durchlaufen, dem aber auch sie selbst sich als Ethnografin stellen muss: Wie werde ich meinen Forschungspartnerinnen und -partnern gerecht? Zwischenmenschliche Beziehungen, so Gozzer, würden in der Europäischen Ethnologie nur selten tiefgreifender analysiert: „ihre ganz eigene Wirkmacht wird manchmal, so mein Eindruck, verkannt“ (289).
Im Zentrum der Analyse stehen zwei überaus heterogene Patenschaftsprogramme in München, die Gozzer als urban-ethische Projekte interpretiert, „die städtische Sozialität auf spezifische Weise problematisieren und persönliche Beziehungen als Lösung vorschlagen“ (202). Es handelt sich einerseits um ein Projekt für Kinder psychisch erkrankter Eltern und andererseits um ein Projekt, in dem (volljährige) geflüchtete Menschen begleitet werden. In beiden Feldern greift die Annahme, Beziehungen zu Patinnen und Paten würden den Begleiteten helfen, autonom und unabhängig(er) von Hilfe zu werden. Zwar kommen dabei individualisierende sozialstaatliche Politiken zum Tragen, die sich auch in den beforschten Programmen und ihren Förderlogiken nachzeichnen lassen. Allerdings sei dies nicht die einzige Erklärung für das Engagement der Patinnen und Paten, welches „ebenso eine Praxis der urbanen, liberalen und akademischen Mittelklasse dar[stellt], um die eigene Deutungshoheit zu stützen“ (201). Die Patinnen und Paten sind damit nicht unmittelbar in eine Versorgungsstruktur eingebunden und bieten keine Alternativen zu zentralen wohlfahrtsstaatlichen Absicherungen.
Wie sich die Patinnen und Paten in diesen Prozessen als ethische Subjekte entwerfen, und wie sie im urbanen Sozialgefüge des teuren und im Zuge des „langen Sommers der Migration“ politisch nur vorübergehend in den Fokus gerückten Münchens das „Gute“ für sich und die Gesellschaft entwerfen, um es sodann in ihre Beziehungsarbeit einzuflechten, beleuchtet Laura Gozzer in ihrer Studie überaus überzeugend und konkret kontextualisiert. So fokussiert sie aufbauend auf einer kursorischen Analyse der Jahre 2015 bis 2020 den von zwei Zäsuren gerahmten Zeitraum migrationspolitischer Krisen und der Covid 19-Pandemie. München spiele eine symbolisch große Rolle, weil sich hier ein Wandel der sogenannten „Willkommenskultur“ hin zu einer Abschottungspolitik nachzeichnen lasse, während aus urban-ethischer Analyseperspektive gleichwohl sozialer Zusammenhalt und das Leben in der Großstadt ausgehandelt werde und betrachtet werden sollte. Eine „politische Polarisierung, sozio-ökonomische Segregation, gesellschaftliche Vereinsamung und Verrohung“ in dieser Zwischenphase stehe – dies gelte es dringend zu berücksichtigen – dem „Ruf nach mehr sozialem Zusammenhalt [gegenüber], mit dem sich gegenwärtig ein politischer Anspruch verknüpft“ (118). Dieser politische Ehrgeiz ist es, der neue Subjektivierungsangebote hervorbringt und damit auch eine objektivierbare Grundlage, in der sich das von Gozzer gewählte Feld situieren lässt: „Damit verbunden sind nicht nur eine völlige Veränderung des Verständnisses von Individuen als abhängig statt unabhängig, als für andere verantwortlich statt selbstverantwortlich, sondern auch die Rufe nach einem anderen gesellschaftsgestaltenden Prinzip jenseits wirtschaftlicher Profitmaximierung.“ (118)
Unter Bezugnahme auf Judith Butler, Simon Critchley und Michel Foucault versteht die Autorin Ethik als den „Versuch der Selbstwerdung im Ringen mit gesellschaftlichen Normen“ (57) auf der Ebene körperlicher Praxis, in Emotionspraktiken und im Sprechen. Den zunächst asymmetrischen Hilfebeziehungen widmet sich die Studie vor allem aus der Perspektive von Geflüchteten- und Kinderpatinnen und -paten sowie jener Institutionen, die grundlegend am Beziehungsstiften beteiligt sind, indem sie bestimmte Programme etablieren und koordinieren. In diesem Sinne nimmt die Autorin zwischen 2018 und 2020 einerseits am Institutionenalltag der Ehrenamtskoordinatorinnen und -koordinatoren und an Informationstreffen für interessierte Patinnen und Paten teil, führt aber auch insgesamt 19 narrative Interviews mit Ehrenamtlichen und beobachtet punktuell arrangierte Ersttreffen. Mit einer Ausnahme haben alle Patinnen und Paten einen akademischen Abschluss, sind erwerbstätig, überwiegend weiblich und gehören – so argumentiert Gozzer mit Andreas Reckwitz – tendenziell einer „urbanen Akademiker*innenklasse der Spätmoderne“ (94) an. In den beiden Projekten wird grundsätzlich davon ausgegangen, dass Beziehungen zwischen Fremden gestiftet werden, die sich im urbanen München aufgrund beispielsweise klassenbedingter Scheidelinien im Alltag informell eher nicht begegnen. Gleichwohl sei die Patenschaft auch ein Modell, „in dem sich die urbane Akademiker*innenklasse – gerade weil die ökonomischen und politischen Strukturen unveränderbar erscheinen – als wirksam erleben kann“ (381).
Bereits im Feldzugang begegnet Gozzer einer ethischen Grundfrage, die – so die Meinung des Rezensenten – höchst relevante methodologische Implikationen für das ethnografische Feldforschen mit sich bringt. Es geht um die Frage, warum nicht auch der Kontakt zu den Kindern und Eltern beziehungsweise den Geflüchteten gesucht wird, die die Patinnen und Paten begleiten. Hier argumentiert die Autorin überzeugend und differenziert. Es handle sich bei den Begleiteten nicht unbedingt lediglich um eine vulnerable Gruppe, von der durch den Forschungsaufruf Teilhabe in unangemessener Manier eingefordert werden würde. Vielmehr verweigerten auch die Ehrenamtlichen selbst teilweise den Zugang, sich als Schutzbefohlene definierend, aber auch aus eigener Unsicherheit. Argumentatorisch gelingt Gozzer hier ein Kunstgriff: So bedeute dies gerade in einem Ansatz, der an ethischen und ausdrücklich relationalen Subjektivierungsprozessen interessiert sei, nicht automatisch, die Stimmen der Kinder und der Geflüchteten unsichtbar zu machen. Im Gegenteil seien es doch gerade sie, „die mitbestimmen, wie Pat*innen sich subjektivieren können. […] Gegenstand dieser Arbeit ist somit auch, was die Anderen mit den Pat*innen im Rahmen der Pat*innenschaften machen.“ (99)
Die Art und Weise, in der die Patinnen und Paten ihre Rollen internalisieren und leben, ist stark durch Zuschreibungen des begleiteten Gegenübers und jener Initiativen bedingt, die das entsprechende Patenschaftsprogramm verantworten. Vielen Patinnen und Paten sei es dabei schwergefallen, die Diskrepanz zwischen der eigenen tendenziell privilegierten Situation und jener der Begleiteten guten Gewissens miteinander zu vereinbaren. In Folge entsteht beispielsweise die Emotionspraxis des schlechten Gewissens, die teilweise auch einen Rückzug der Ehrenamtlichen aus den Beziehungen bedeuten könne. Hierin wird einmal mehr deutlich, dass es sich um eine „zwischen Professionalität und Emotionalität oszillierenden Form der Hilfebeziehung“ (290) handelt, die allerdings von Beginn an als „(einseitige) Unterstützung“ (290) definiert wird.
Wie ein roter Faden begleitet die Arbeit eine ständige forschungsethische Selbstreflexion, in der Gozzer unter Bezugnahme auf antirassistische und klassismuskritische Ansätze betont, wie auch sie bestimmten (ethischen) Selbst- und Fremdzuschreibungen im Umgang mit Patinnen und Paten nicht gerecht werden kann. Sichtbar wird dies zum Beispiel, wenn sie über ihre Rolle einer nicht widersprechenden Komplizin nachdenkt, die sie in einem Interview einnehmen musste, um dem Forschungsethos gerecht werden zu können, nicht bewertend, sondern verstehend vorzugehen. Dabei untermalt die Autorin ihre stets an eigene Felderfahrungen gekoppelten Überlegungen durch die Abbildung ungewöhnlich langer Ausschnitte aus ihrem Feldtagebuch, aber auch in höchst informativen und verdichtenden Exkursen und ethnografischen Vignetten.
Immer wieder kehrt Gozzer in ihren Überlegungen zum Feld der ehrenamtlichen Patinnen- und Patenschaft auf ihre zentralen Eingangsthesen und Argumente zurück, um sie kontinuierlich aufgrund dichter Beschreibungen der Begegnungen, verschiedener Situationen und Anekdoten und der geführten Interviews einer kritischen Revision zu unterziehen. Aus Rezensentensicht häufige Wiederholungen stören in ihrer glasklaren und erfahrungsnahen Formulierung keineswegs und ermöglichen es über die Leserinnenführung hinaus, einzelne Kapitel auch separat zu lesen und zu verstehen. Mit ihrer Monografie legt Laura Gozzer nicht nur eine ausdifferenzierte ethnografische Erkundung eines Feldes gesellschaftlich hoher Dringlichkeit vor, sondern auch eine bislang vermisste Analyse (urban-)ethischer relationaler Perspektivierungen im ethnografischen Feldforschungsprozess. So eignet sich der Band gleichsam auch als wunderbares Lehrwerk über den Umgang mit Positionen und Situiertheit in (Forschungs-)Beziehungen.