Aktuelle Rezensionen
Marie Fröhlich/Ronja Schütz/Katharina Wolf (Hg.)
Politiken der Reproduktion. Umkämpfte Forschungsperspektiven und Praxisfelder
Bielefeld 2022, transcript, 316 Seiten, ISBN 978-3-8376-5272-7
Rezensiert von Felix Gaillinger
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 17.08.2023
Auf ihrer Kritik aufbauend, dass Reproduktionsfragen „meist als privat ausgehandelte Erfahrungswelten gerahmt“ (14) würden, adressieren Marie Fröhlich, Ronja Schütz und Katharina Wolf mit ihrer Publikation sowohl Praktikerinnen und Praktiker in den thematisierten Feldern als auch eine breite (nicht) wissenschaftliche Leserschaft. Der Band versammelt insgesamt zwanzig, thematisch in fünf Kapitel gegliederte Beiträge, die historisch informierte feministische Perspektiven auf aktuelle Reproduktionspolitiken und damit zusammenhängende Kämpfe um „Reproduktive Gerechtigkeit“ („Reproductive Justice“) werfen.
Die Beitragenden teilen einen Reproduktionsbegriff, der sich „nicht allein auf den Prozess der Fortpflanzung in einem biologistischen Sinne beziehen“ möchte, „sondern auch auf die damit einhergehende emotionale und mentale Auslastung sowie die Ausgestaltung von Beziehungs- und Reproduktionsarbeit“ (15) abzielt. Mit einem ebenso breiten Begriff des Politischen, der neben (Bevölkerungs-)Politik und Gesetzgebung auch „gewachsene Normen und Standards, individuelle Praktiken, öffentliche Diskurse und Repräsentationen“ (15) einbezieht, gelingt es den Autorinnen und Autoren eindrücklich, Reibungspunkte zwischen makrostrukturellen Vorgaben und der lebensweltlichen Zugänglichkeit zu perspektivieren. Dabei verzichten sie keineswegs auf klare Positionierungen und Forderungen, um das Gemeinsame der oftmals individualisierten Kämpfe zu betonen und „Relevanzen“ und „Potentiale“ für Veränderungen aufzuzeigen, von denen in nahezu allen Beiträgen die Rede ist.
„Regulierungen von Reproduktion in Recht und Arbeitsmarkt“: In ihrem provokant betitelten Beitrag „The state’s hands in our underpants“ zeichnet Theresa Anna Richarz nach, wie unterschiedlich reproduktive Rechte wie die Möglichkeit, überhaupt als Elternteil anerkannt zu werden, noch immer verteilt sind. Dabei bricht sie unter anderem mit dem weit verbreiteten Bild, die sogenannte „Ehe für alle“ habe bestehende Hürden gänzlich nivelliert, stehe eine umfassende Eltern-Kind-Reform und eine Anpassung des heteronormativen Abstammungsrechts doch noch immer aus. In Ihrem Beitrag „Feministische gewerkschaftliche Zeitpolitik“ verfolgt Janina Glaeser das Anliegen, Gewerkschaften im DGB auf ihr „feministisches zeitpolitisches Potential hin“ (70) zu prüfen. Glaeser, selbst im Bundesvorstand der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) aktiv und damit wie einige andere Beitragende unmittelbar in das Feld der thematisierten Reproduktionspolitiken involviert, argumentiert, dass es Gewerkschaften, die sich dem Care-Dienstleistungssektor widmen, teilweise misslingt, „professionell Sorgende auch als privat Sorgende anzusprechen“ (75). Standards der Erwerbsarbeitswelt gelte es stets in Abhängigkeit von unbezahlten Care-Arrangements zu diskutieren. Im gleichnamigen Beitrag widmet sich Lisa Yashodhara Haller „Politiken der Reproduktionssicherung“ und diskutiert staatliche Steuerungsinstrumente, die darauf abzielen, die Versorgungspflichten von Personen untereinander (in Verwandtschaftsbeziehungen) zu definieren.
„Ambivalente Begriffe und politische Schauplätze“: Im zweiten Kapitel demaskieren die Autorinnen die teilweise verschleierte oder – nüchterner betrachtet – nicht thematisierte Voraussetzungshaftigkeit prominenter Begriffe in rechtlich-politischen Zusammenhängen. In ihrem Beitrag „Emanzipative Selbstbestimmung?“ geht Kirsten Achtelik grundsätzlichen Prämissen nach, die die tatsächliche Entscheidungsfreiheit im Kontext von Schwangerschaftsabbrüchen einschränken. Es gelte, gesellschaftlich vorgeprägte Ideen gelungenen Lebens kritisch zu hinterfragen, was Achtelik in der zugespitzten These pointiert, „dass der Wunsch nach einem genetisch eigenen, nicht behinderten Kind kein selbstbestimmter Wunsch im emanzipativen Sinne sein kann, weil er Frauen dazu bringt, den behindertenfeindlichen Anforderungen der Gesellschaft zu entsprechen und dafür auch noch körperliche und psychische Leiden auf sich zu nehmen“ (110). Anschließend plädiert Birte Christ dafür, den elterlichen Status als Kategorie in Analysen sozialer Ungleichheit stets neben anderen Faktoren wie Geschlecht und Klasse mitzudenken, um konkrete Fördermaßnahmen bedürfnisgerecht zu gestalten. Abschließend arbeitet Katharina Wolf essayistisch heraus, wie das Kindeswohl einerseits als plausibles Argumentationsmuster herangezogen wird, bestimmte Entscheidungen im Sinne eines Kindes zu treffen, dabei aber häufig von Erwachsenen definierte Interessen auf „dieses vermeintliche Wohl des Kindes“ (140) projiziert werden, ohne die eigentliche Perspektive der Adressierten zu berücksichtigen.
„Strukturelle Ungleichheiten – individuelle Kämpfe?“: Den dritten Teil des Bandes leitet Marie Fröhlich ein, die sich damit beschäftigt, wie sich der Ankunfts- und Aufnahmeprozess ab der Eingliederung in die Behördenlogiken des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF) für geflüchtete Familien gestaltet. Sie plädiert dafür, auch auf jene politischen und gesellschaftlichen Bedingungen zu blicken, die darüber entscheiden, wie und ob bestimmte reproduktive Projekte überhaupt angegangen werden können. In ihrer Lesart wird etwa das Thema der Unterbringung nicht nur zu einer verwaltungs- und migrationspolitischen Frage, sondern zugleich zu einer Frage nach den Zugeständnissen bestimmter Reproduktionsmöglichkeiten. Anschließend an Fröhlichs Beitrag – einer der wenigen mit ethnografischem Fokus – bespricht Mirjam Peters aufbauend auf einer „repräsentativen Klumpenstichprobe“ (173), dass (in NRW) zwar grundsätzlich hohe Versorgungsstandards für Schwangere und Gebärende festzustellen sind, dass die Qualität aber dennoch stark von soziodemografischen Merkmalen abhängt und damit schon in dieser Phase der Reproduktion ungleichverteilte Chancen auf ein gesundes Leben vererbt werden können. In ihrem Beitrag „Doing Queer Reproduction“ fordert Miriam Hecht eine stärkere Betrachtung von Reproduktionsarrangements jenseits heterosexueller Normen, wenn sie untersucht, wie Frauenpaare mit Kinderwunsch einerseits einen höchst komplexen Prozess der Wissensaneignung durchlaufen müssen und dabei andererseits mit Mehrfachdiskriminierung aufgrund ihres „cultural health capitals“, ihres Bildungsgrades oder auch ihrer finanziellen Lage konfrontiert sind. Ebenso wie Hecht arbeitet auch Alina Rörig mit qualitativen Interviews und identifiziert zur Norm gemachte Argumentationsmuster, denen werdende Mütter begegnen, die sich dazu entscheiden, die Geburt ihrer Kinder außerhalb klinischer Kreißsäle als „Normalitätsraum in der Geburtshilfe“ (198) zu planen. In seinem „Manifest zu Reproduktiver Gerechtigkeit“ stellt das 2019 gegründete Netzwerk Reproduktive Gerechtigkeit abschließend konkrete Forderungen und Visionen selbstbestimmter Reproduktion vor und betont, dass auch der Wunsch zur Nicht-Reproduktion als eine Frage reproduktiver Rechte gedacht werden müsse. In ihrer Entscheidung, jenem Dokument aktivistischer Praxis Raum zu geben, verfolgen die Herausgeberinnen überaus erfolgreich das Ziel „eine produktive Störung in der wissenschaftlichen Lesegewohnheit“ (308) zu erzeugen; zugleich spiegelt sich hierin eine deutliche reproduktionspolitische Selbstpositionierung des Bandes, die auf wissenschaftlicher Ebene sonst häufig implizit bleibt.
„Best Practice? Einblicke in Versorgungszusammenhänge und Professionen“: Das vierte Kapitel widmet sich den Perspektiven und Arbeitskontexten professioneller Praktikerinnen und Praktiker im Bereich der Reproduktion. Alicia Baier betrachtet den Stellenwert, den Fragen des Schwangerschaftsabbruchs in der Aus- und Weiterbildung von (werdenden) Ärztinnen und Ärzten haben. Ob und wie Wissen über Schwangerschaftsabbrüche vermittelt würde, sei ein elementarer Bestandteil von Reproduktionspolitiken, den es – nicht zuletzt aufgrund der von ihr identifizierten Klassismen, Sexismen und Vorurteilen unter den Medizinerinnen und Medizinern – zu fokussieren gelte. Taleo Stüwe, der seinen Beitrag ebenso wie Baier durch die Brille eines ausgebildeten Mediziners gestaltet, setzt sich mit dem Einfluss der Beratungspraxis in der Pränataldiagnostik auseinander. Der Autor plädiert dafür, immer auch nach den übergeordneten gesellschaftlichen Leistungsanforderungen zu fragen, in denen beispielsweise ableistische Hierarchisierungen bereits tief eingeschrieben sind. Ihnen begegnen die betrachteten Beratenden im Feld der Pränataldiagnostik zwar reflektiert, doch können sie die strukturell forcierten Ungleichheiten nicht selbst aufheben. Franka Stroh betrachtet in ihrer ethnografischen Mikrostudie die formal verpflichtende „Schwangerschaftskonfliktberatung“ für Personen, die überlegen, einen Schwangerschaftsabbruch in die Wege zu leiten. Sie zeichnet nach, wie die Beratenden sowie der Verpflichtungscharakter des Gesprächs selbst implizit kriminalisieren. Den vierten Buchteil abschließend, diskutiert Clara Eidt die Art und Weise, in der Hebammen Sexualität und Partnerschaft in der Zeit kurz nach einer Geburt betrachten. In einer von Eidt organisierten Gruppendiskussion wird deutlich, dass sich die Hebammenperspektiven im Spannungsfeld zwischen machtvoller Normierung der Sexualität ihrer Klientinnen und Klienten unter gleichzeitigen Beratungsunsicherheiten bewegen und dabei eng an die jeweiligen persönlichen Vorurteile der Hebammen und die äußerlichen Idealzuschreibungen an den Hebammenberuf gekoppelt sind.
„Beziehungsweise – Geschlechternormen und Sorgearbeit“: Den letzten inhaltlichen Komplex des Bandes, der sich zugeschriebenen Fürsorgenormen kritisch entgegenstellt, leiten Juliane Lang und Marie Reusch mit ihren Überlegungen zu „Vereinbarkeitsfragen in der autoritären und extremen Rechten“ ein. Ihr Beitrag basiert auf Perspektiven, die weiblich (gelesene) Akteurinnen und Akteure dieser politischen Lager vertreten. Als ein zentrales Ergebnis ihrer politikwissenschaftlichen Studie heben die Autorinnen hervor, wie stark kritische Fragen nach der Vereinbarkeit von Berufs- und Familienleben delegitimiert und individualisiert werden. Dies spiegle sich beispielsweise in der Anrufung neoliberaler Sozialfigurationen wie jener der „Macherin“ in (re)traditionalisierten Geschlechterverhältnissen wider. Anschließend spürt Alicia Schlender dem Modell der postromantischen Co-Elternschaft nach und betont, dass die Interviewpartnerinnen und -partner ihre Alltagspraxis zwar teilweise entlang des heterosexuellen Normalfamilienbildes ausrichten, aber dennoch auf massive Hürden und prekarisierende Umstände stoßen, wenn es um die Absicherung bestimmter Rechte und Pflichten in selbstgewählten Verantwortlichkeitsarrangements geht. Der Frage nach gesellschaftlich und individuell zugeschriebener Verhütungsverantwortung widmet sich der abschließende Beitrag von Louisa Lorenz. Trotz erhöhter Verhütungsflexibilität aufgrund neuer Methoden stünden Frauen nach wie vor unter deutlich höherem Druck, weil sich die patriarchale Norm, Frauen seien hier alleinige Verantwortungsträgerinnen, tief in sie eingeschrieben habe. In ihrem Ausblick „Wissenschaft herausfordern“ plädieren die Herausgeberinnen dafür, auch Strukturen und ungleich verteilte Privilegien am Ort der Wissenschaftsproduktion selbst herauszufordern, sind doch auch akademische Karrieren und die Qualität wissenschaftlicher Erkenntnisgenerierung maßgeblich beeinflusst von Reproduktionspolitiken und Forschende immer auch Privatpersonen, die von ihnen unmittelbar betroffen sein könnten.
Mit ihrem Sammelband, der nur teilweise im Vielnamenfach beheimatete Perspektiven abbildet, leisten die Beitragenden dennoch einen nicht zu unterschätzenden Beitrag zu ganz grundsätzlichen Fragen, die Ethnografinnen und Ethnografen interessieren müssen. In eindrücklicher Manier gelingt es vor allem jenen Beiträgen, die nah an den Perspektiven der Feldvertretenden ansetzen, lebensweltliche Unzugänglichkeiten, aber auch damit zusammenhängende argumentative Muster, Gegenentwürfe und Umgangsweisen sichtbar zu machen. Ähnlich wie in rechtsethnografischen und -soziologischen Forschungen werden die Einzelperspektiven in ein analytisches Verhältnis zu Strukturen, Gesetzeslogiken und Politiken gesetzt, die darüber entscheiden, unter welchen Bedingungen reproduktive Rechte zugesprochen und gelebt werden können. Das in den Beiträgen immer wieder aufgegriffene Konzept der „Reproduktiven Gerechtigkeit“ ist relational und zwingt notwendigerweise zu konkreten ethischen Positionierungen. In ihren Appellen und expliziten Kritiken durchkreuzen die Autorinnen und Autoren die Illusion wissenschaftlicher Positionsneutralität im Elfenbeinturm. Dies geschieht häufig genährt durch persönliche Zugänge und selbst gemachte Erfahrungen mit den thematisierten Bereichen, auf die bedauerlicherweise im Gros der Fälle nur oberflächlich eingegangen wird. Nichtsdestotrotz lässt sich der Band über Reproduktionspolitiken gleichsam auch als ein beispielhaftes Lehrwerk über grundsätzliche Möglichkeiten engagierter feministischer Forschung lesen, das theorie- und empiriegeleitete Zugänge in eine überaus nahbare und ertragreiche Lektüre überführt.