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Kommission für bayerische Landesgeschichte

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Max Baumann

Als Kaufmann in Triest. Gabriel Schwarz und die Schweizer Kolonie in Triest im 19. Jahrhundert

(Beiträge zur Aargauer Geschichte 20), Zürich 2022, Hier und Jetzt, 155 Seiten mit Abbildungen, ISBN 978-3-03919-543-5


Rezensiert von Esther Gajek
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 28.09.2023

Die Geschichte der Schweiz ist über Jahrhunderte gekennzeichnet durch eine hohe Auswanderung. Das Land, klein und bergig, bot nicht genug Nahrung für eine wachsende Bevölkerung, was dazu führte, dass besonders junge Männer das Land verließen. Sie folgten Verwandten in alle Teile der Welt, arbeiteten in deren Betrieben mit oder gründeten, allein unterwegs, selbst Unternehmen beziehungsweise heuerten dort an, wo ihre Arbeitskraft gebraucht wurde. Einige dieser Auswanderer machten ihr Glück, kehrten reich in die Heimatgemeinden zurück, manche verloren alles und endeten als Schuldner, andere blieben im Ausland. Ein Teil mehrte dort seinen Wohlstand, ein anderer Teil fristete sein Leben, wieder andere gingen unter oder wurden als verschollen gemeldet.

Es ist ein Glücksfall für die Migrations-Forschung, wenn Ego-Dokumente der Auswanderer vorhanden sind und von dem Leben in der Fremde berichten. Der Schweizer Historiker Max Baumann, der bereits 2012 den Band „Ich lebe einfach, aber froh. Erfolge und Misserfolge von Schweizer Ausgewanderten in Amerika“ vorgelegt hat, wertet in seinem neuen Buch – wie schon 2012 – Villiger Familiendokumente aus. Dies sind vor allem die 85, zum Teil viele Seiten langen Briefe von Gabriel Schwarz (1835–1897), die dieser aus Triest an seine Eltern und Geschwister im Aargau geschrieben hat. Sie enthalten detailreiche Schilderungen der Gegend sowie des Arbeitsalltags und der örtlichen Lebensweise, ebenso ausführliche schriftliche Anteilnahmen am Leben in der alten Heimat.

Bei Gabriel Schwarz vollzog sich die Migration innerhalb Europas: vom schweizerischen Aargau in die Hafenstadt am Mittelmeer, Triest. Hier bestand eine Schweizer Gemeinde, die schon 1878 an die 700 Personen umfasste. Ein Teil von ihnen hielt sich dort nur temporär auf (Angestellte, Handwerker, Diener, Mägde), der andere Teil (vor allem Kaufleute) dauerhaft. Der bedeutende Hafen, in dem Schiffe aus Europa, Afrika und Asien anlegten, eröffnete Erfahrungen mit dem Welthandel.

Der Autor beginnt mit einer Geschichte der Hafenstadt Triest, ihrem 1719 begründeten Privileg als Freihafen, verbunden mit einem Zollfreigebiet. Waren konnten „zollfrei umgeschlagen, gelagert und weiter transportiert werden“ (12). Durch direkte Zugverbindungen nach Wien, Venedig und Mailand entstand in Triest ein äußerst erfolgreiches Handelszentrum unter anderem für Südfrüchte, Baumwolle, Kaffee, Zucker, Holz und Maschinen. 750 Handelshäuser wurden 1885 gezählt sowie zahlreiche Versicherungen. Weil sich Triest so rasch entwickelte, herrschte ein hoher Bedarf an Arbeitskräften: Innerhalb des 19. Jahrhunderts vervierfachte sich die Bevölkerung, die nun sehr international wurde. Schweizer sind seit dem 17. Jahrhundert in der Hafenstadt vertreten, vor allem als Zuckerbäcker und als Gastwirte. Ein starker Zusammenhalt prägte die Schweizerkolonie, was eng mit der reformierten Konfession zusammenhing. So entstand eine Enklave in der katholisch dominierten Stadt. Eigene Kirche und Schule sind baulicher Ausdruck des Zusammenhaltes, eine Art Armenfürsorge ein tatkräftiges Kennzeichen der Solidarität.

Auf die Einleitung folgen historisch fassbare Beispiele von Männern aus dem Aargau, die sich in Triest als Kaufleute niedergelassen haben. Aus Taufbüchern, Fremdenverzeichnissen, Empfehlungsschreiben, Scheidungsdokumenten und anderen Archivalien rekonstruiert der Autor Firmengeschichten von „Triestschweizern“ wie Isaak Schwarz (1814–1890). Er war in der Mitte des 19. Jahrhunderts nach Triest gekommen und in eine Schweizer Firma eingetreten, deren Teilhaber er wurde. „Cloetta und Schwarz“ handelte vorwiegend mit Baumwolle, die aus England beziehungsweise Indien oder Amerika kommend nach Osteuropa und in die Schweiz verhandelt wurde oder in der firmeneigenen Spinnerei und ab 1854 auch in der hinzugekommenen Weberei weiterverarbeitet wurde. Eigene Kohlegruben gewährleisteten den Rohstoff zum Antrieb der Dampfmaschinen für die industrielle Textilproduktion. Auch Wechselgeschäfte, Speditionsdienste und Spekulationen gehörten zum Aufgabengebiet von „Cloetta und Schwarz“.

1854 wirbt Isaak Schwarz seinen Cousin Gabriel (1835–1897), der gerade eine Kaufmannslehre in Vevey absolviert, für sein Unternehmen an. Hier setzt der Band an, wertet die erhaltenen Ego-Dokumente aus der Triestiner Zeit, die mehrere Jahrzehnte umspannen, aus und kontextualisiert diese umfassend. Die Briefe berichten von zeitgenössischen Ereignissen aus Triest und geben tiefe Einblicke in Geschäftspraxen. So ist von „Spekulationswut“ (67), Zinsfuß und Handelskrisen die Rede und auch vom ehrgeizigen Versuch, selbst schnell viel Geld zu verdienen, zum Beispiel durch Geldanlagen der Verwandten in Triest. „Sein Geldhunger war unersättlich“ (94), kommentiert Baumann das Geschäftsgebaren von Gabriel Schwarz. Vor allem aber zeichnen die Briefe das Schicksal eines begabten, jungen Mannes nach, der in der Hafenstadt versucht, erfolgreich zu sein.

Die Geschichte des Gabriel Schwarz ist – bei aller Individualität – exemplarisch für die damalige Zeit zu lesen. Folgende Themen klingen in der Person des Protagonisten und dessen Leben an: die Geschichte eines Erben, der Gasthof und Landwirtschaft übernehmen soll, diese aber dem Bruder aufgrund dessen besserer Eignung überlässt, lieber eine kaufmännische Ausbildung absolviert, Französisch lernt und im weiteren Kreis der Familie, bei seinem erfolgreichen Cousin in Triest, eine Chance erhält, sich zu bewähren und sich – mit einem England-Aufenthalt – fortzubilden; die Sorgen und Unsicherheiten, die mit der Auswanderung und dem Neuanfang in einem anderen Land und mit einer anderen Sprache verbunden sind; eine gewisse lebenslange Unsicherheit, weil es trotz eines guten Auskommens und sparsamen Lebens nicht zum Erwerb einer eigenen Firma gereicht hat, nicht zu vergessen das Ausgeliefertsein an den Cousin und die äußeren Umstände (Krieg, Krisen, Konjunkturen, Fehlleistungen anderer). Den Briefeschreiber erfüllt ein gewisser Stolz, aufgebrochen zu sein, andererseits ist er immer wieder in Gedanken an die Heimat, die Familie, deren Schicksal und in Sehnsucht an die Landschaft und das dortige Klima verhaftet.

Durchgängig webt Max Baumann in die Geschichte des jungen Gabriel Schwarz die Geschicke des 20 Jahre älteren Cousins Isaak Schwarz ein, führt das Leben dessen Sohnes wie auch dessen Compagnons Wilhelm Cloetta vor – ein Geschäftsmann, der ständig investierte, neue Tätigkeitsfelder erschloss, bis hin zur Gründung einer bis heute bestehenden Versicherungsgesellschaft. Diese Liga der Auswanderer genoss vor Ort und in der Heimat höchstes Ansehen; sie wirkten in der Handelskammer und Cloetta sogar als Schweizer Konsul. Erfolge dieser Art, auch das macht der Autor deutlich, waren nur einem kleinen Kreis vergönnt und konnten auch von einem Moment zum anderen gefährdet sein: Cloetta und Schwarz meldeten 1875 überraschend Konkurs an. In der Ambivalenz zwischen größtem Erfolg, durchschnittlichem Verdienst und Absturz haben sich die meisten Auswanderergeschichten bewegt – auch davon zeugt die hier dargestellte Geschichte des Handelshauses Cloetta und Schwarz wie dessen Mitarbeiter Gabriel Schwarz.

In die Briefe von Gabriel Schwarz, die breit zitiert werden, sind ausführliche zeitgeschichtliche Informationen eingewoben: zu den Konflikten zwischen Sardinien-Piemont und Österreich, zum Transport der Soldaten, zum Stocken des Handels angesichts des Kriegsgeschehens, zu den Schlachten rund um Triest wie allgemein zu den politischen Unsicherheiten, zur wirtschaftlich überhitzten Lage und dem Einfluss militärischer Handlungen weltweit auf den örtlichen Handel. Zudem wird das „ständige Auf und Ab der Konjunktur“ (131) deutlich, wie auch die Bedrohungen des Lebens und des Handels durch Seuchen. Auch freudige Ereignisse klingen an, vor allem in Schilderungen von Auftritten der Monarchen oder über die Eröffnung der Eisenbahnlinie, die Inbetriebnahme der Stadtbeleuchtung oder in Erzählungen von Festen. Max Baumann kommentiert und kontextualisiert diese Darstellungen umfassend und gekonnt – auch das macht den Band lesenswert.

Der Autor betritt mit seiner Publikation ein nahezu unbekanntes Terrain; während bereits zum Beispiel Publikationen über Graubündner (Zuckerbäcker) und ihre Auswanderung in weite Teile Europas erschienen sind, ist die Berufsmigration nach Italien, besonders nach Triest, noch kaum untersucht worden. So schließt sich mit diesem vorzüglich gestalteten, durchgängig gut zu lesenden, reich mit historischen Aufnahmen der Stadt wie der Triestschweizerinnen und -schweizern bebilderten, exakt nachgewiesenen und insgesamt sehr erhellenden Buch eine Forschungslücke.