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Kommission für bayerische Landesgeschichte

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Esther Hürlimann/Ursina Largiadèr/Luzia Schoeck

Das Fräulein vom Bahnhof. Der Verein Freundinnen junger Mädchen in der Schweiz

Zürich 2021, Hier und Jetzt, 211 Seiten mit Abbildungen, ISBN 978-3-03919-480-3


Rezensiert von Esther Gajek
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 31.08.2023

Vereinsjubiläen ziehen oft Publikationen nach sich. Im vorliegenden Fall ist es aber die Auflösung eines Vereins, die zur Rückschau Anlass gibt. „Freundinnen junger Mädchen in der Schweiz“ (FJM) wurde 1886 gegründet und bestand bis 2021. Der von protestantischen bürgerlichen (Pfarr-)Frauen ins Leben gerufene und weitgehend ehrenamtlich geführte Verein setzte sich zum Ziel, junge Frauen (im Sprachgebrauch der Zeit „Mädchen“), die vom Land in die Stadt, über den Bahnhof, zu ihren neuen Arbeitsplätzen unterwegs waren, vor Mädchenhandel und Prostitution zu schützen, sie zu informieren und zu betreuen. Damit handelten sie pionierhaft. Im Deutschen Reich wurde die Bahnhofsmission mit dem gleichen Aufgabenspektrum erst 1894 gegründet. Schon nach wenigen Jahren kamen für den FJM weitere Aufgaben hinzu: unter anderem das Beherbergen und die Ausbildung der jungen Frauen. So entstand über die 135 Jahre Vereinsgeschichte eine sich immer wieder verändernde Schweizer Institution, die international vernetzt federführend daran beteiligt war, den Frauenhandel, Prostitution und Missbrauch unterwegs und am Arbeitsplatz einzudämmen und damit die Rechte von Frauen zu schützen.

Die Vereinsgeschichte, die hier von einem Autorinnen-Team aus Geisteswissenschaftlerinnen nachvollzogen wird, gliedert sich in vier Teile: Der Einleitung über die Akteurinnen des ersten weiblichen Dachverbandes der Schweiz folgt ein Kapitel zu dem weitreichenden internationalen Netzwerk, das abgeschlossen wird mit Texten zum christlich-diakonischen Selbstverständnis der geleisteten Arbeit als „stille, aber aufopferungsvolle und zielbewusste Tätigkeit“ (19). Den Abschluss bilden Erläuterungen zu den speziellen Räumen und Liegenschaften für junge Frauen, die vom Verein geschaffen beziehungsweise erworben wurden: Räumlichkeiten am Bahnhof, „Töchter-Pensionen“ in dessen Umkreis mit „Sonntags-Stuben“ zum regelmäßigen Treffen, aber auch dort agierenden Stellenvermittlungsbüros (zunächst für Dienstmädchen, ab ca. 1950 für Au-Pairs), Haushaltungs- und Dienstbotenschulen, Mädchenklubs, Kinderheime, Fürsorgestellen und Ferienhäuser. 1957 wurde unter Mitwirkung des FJM sogar das „Swiss Hostel for Girls“ in London eröffnet, wo sich sonntags die Schweizerinnen, die in London arbeiteten, einfinden konnten. Ein Anhang informiert über das Fortleben des Vereins in einer neuen Institution, der Compagna, die in mehreren Städten der Schweiz die Arbeit des FJM im Geiste von dessen Gründerinnen fortführt. Hier lässt sich die Kontinuität auch örtlich festmachen: Arbeit rund um den Bahnhof bildet nach wie vor den Ausgangspunkt vieler Tätigkeiten.

Warum lohnt es sich, diesen Band zu lesen? Zum einen ist es die interessante Geschichte des Vereins, der in der Pionierzeit der Frauenbewegung entstand und emanzipatorisch und damit progressiv wirkte. Zum anderen wird die konservative, erzieherisch-behütende Stoßrichtung in Argumentation und Handeln sichtbar, wenn (Haus-)Frauen aus den Städten, gut situiert, für junge Frauen vom Land, die einer Berufstätigkeit nachgingen, kämpften und immer wieder sittliche Argumente ins Feld führten: zum Beispiel die „Sonntags-Stuben“ mit Bibellesung und Singen als FJM-Freizeitangebot, um die „Mädchen“ vom Kino-, Tanzlokalbesuch oder gar Sozialismus abzuhalten. Der FJM wollte jenen weiblichen Jugendlichen etwas anbieten, die „entweder aus schlechten Einflüssen entfernt werden müssen oder die, als lasterhaft beanlagt, einer liebevollen, aber strengen und konsequenten Leitung übergeben werden sollten“ (148), wie es in einer vereinsinternen Schrift von 1892 heißt. Diese thematische Ambivalenz des Vereins zwischen Progressivität und Konservatismus durchzieht seine gesamte Geschichte. Es ging weder um Stimmrecht, noch um rechtliche Gleichstellung; das System einer patriarchalen Gesellschaft mit einem deutlichen Dualismus von Geschlechtern, Aufgaben und Wirkungsräumen wurde nicht grundsätzlich in Frage gestellt. Stand zunächst das Recht auf Unversehrtheit und der Schutz vor Zugriffen, vor allem am Bahnhof, dem damals neuen Sozialraum, im Vordergrund, so erstreckte sich der Aktionsraum des FJM bald auch auf die Behandlung am Arbeitsplatz sowie Ausbildung und Beschulung der jungen Frauen. So lassen sich die vielen verschiedenen neuen Räume und Institutionen erklären, die von diesem Verein betrieben wurden. Auch hier manifestiert sich – übrigens bis in die Gegenwart – das Fortleben der Ideen der Gründerinnen in Gedanken und Gebäuden.

Besonders beeindruckend ist das breite Quellenmaterial, das für „Das Fräulein vom Bahnhof“ gesichtet und ausgewertet wurde. Seit der Gründung haben sich Statuten, Briefe, Plakate, Mitgliedskarten, Broschüren, Plaketten, vor allem die Vereinszeitschrift („Aufgeschaut! Gott vertraut!“, die von 1886 bis 1947 bestand) sowie hunderte von Fotografien in einem Vereinsarchiv und bei Mitgliedern erhalten. Gerade die Fotos sind eine gute zeitgenössische Quelle, die junge Frauen in den Vereinsräumlichkeiten oder bei -aktivitäten zeigt: beim sonntäglichen Beisammensein, bei Wanderungen, im Unterricht oder im Ferienheim. So ist mit dem „Fräulein vom Bahnhof“-Band nicht nur eine überzeugende Vereinsgeschichte gelungen, sondern auch ein anschaulicher Bildband zur Sozialarbeit für und mit jungen Frauen über einhundert Jahre.