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Irene Wirthlin

2610 m ü. M.: Irma Clavadetscher – ein Leben auf der Coaz-Hütte

Zürich 2021, Hier und Jetzt, 228 Seiten mit Abbildungen, ISBN 978-3-03919-524-4


Rezensiert von Esther Gajek
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 14.09.2023

nmitten von drei- und viertausend Meter hohen Bergen der Bernina-Gruppe steht auf 2610 Metern über dem Meeresspiegel eine Berghütte des Schweizer Alpen-Clubs (SAC), die temporär bewirtschaftet wird. Sie ist nach dem ehemaligen Bergsteiger und Gelehrten Johann Coaz benannt, der 1850 als erster auf den Piz Bernina stieg. Irene Wirthlin, Schweizer Gymnasiallehrerin und Autorin, hat die ehemalige Hütten-Wirtin, Irma Clavadetscher, befragt und aus den zahlreichen Gesprächen ein Buch verfasst, dass inzwischen schon in der dritten Auflage erschienen ist.

Das Engadin, wo die Coaz-Hütte steht, gehört zu den schönsten und populärsten Ferienregionen der Schweiz, wenn nicht der Welt. Schon nachweislich seit der Bronzezeit existiert durch die Entdeckung von Heilwasser in St. Moritz-Bad eine Attraktion, die ab dem 16. Jahrhundert noch bekannter wurde. Im 19. Jahrhundert durch den beginnenden Alpinismus im Sommer und ab circa 1870 auch durch den Wintertourismus haben die Reisenden in dieser Region innerhalb weniger Jahrzehnte sehr stark zugenommen – ein Boom, der bis heute anhält. Seither haben Millionen von Männern, Frauen und Kindern Berge bestiegen und befahren. Unter einem Teil der „Engadin-Fans“ besteht ein hohes Interesse an der Region; Bücher über diese Gegend haben Konjunktur.

Aber auch wer dem Engadin nicht verbunden ist, liest den Band mit Gewinn. Die Autorin zeichnet subtil die Lebensgeschichte einer Engadinerin nach: Irma Clavadetscher, 1940 geboren, streng erzogen, im Flachland aufgewachsen, also nicht in den Bergen, sucht einen eigenen, neuen Weg. Sie bricht aus der für sie vorgesehenen kleinbürgerlichen Welt aus, die Schneiderlehre und dann Ehe vor Ort vorsah, zieht aus ihrem Kanton weg und lernt ihren späteren Mann Hitta kennen, der Hüttenwart im Engadin ist. Gemeinsam bewirtschaften sie ab 1963, bald auch mit eigenen Kindern, in der Sommer-Saison die Coaz-Hütte. Im Winter, wenn die Hütte geschlossen ist, lebt die Familie im Tal vom Unterricht an der Skischule.

Der Band, der keinen wissenschaftlichen Anspruch erhebt, geht weit über das Einzelschicksal hinaus und macht ihn damit auch für Kulturwissenschaftlerinnen und Kulturwissenschaftler interessant. Wirthlin schildert die Auswirkungen des Zweiten Weltkrieges auf das Alltagsleben, den konservativen Wertekosmos der Generation, geprägt von „Ordnung, Disziplin und Wohlverhalten“ (13) und damit das, besonders von den Töchtern eingeforderte Bravsein sowie die vielen Geheimnisse, die vor den Kindern gehütet wurden. Das konventionelle Geschlechterverhältnis, das die Eltern vorleben, zeichnet sich durch große Unterschiede aus: Dem mächtigen und bestimmenden Mann steht eine fast ohnmächtige, stille, gehorchende Frau gegenüber. Eine „kleine Rebellin“ (19) wie Irma kommt hier schnell an die Grenzen und wird entsprechend diszipliniert. Zwei Berufe sind für junge Mädchen dieser Generation nach einer kurzen Schulzeit vorgesehen: Coiffeuse oder Schneiderin, doch selbst die Wahl des Berufes wird vom Vater getroffen. Mangelnde Aufklärung, Prüderie und Strafen prägen die Jugend, und nur das Wegziehen hilft, sich dieser konservativen Welt zu entziehen. Außerhalb dieses Kosmos (bei Irma als junge berufstätige Schneiderin in Arosa, einem mondänen Luftkurort in den Graubündner Bergen) wird „Freiheit, Ungebundenheit und die Leidenschaft fürs Tanzen“ (33) gespürt. Hier ist der räumliche und geistige Platz, sich selber einen Mann zu suchen, sogar entgegen dem Wunsch der Eltern. Das Unkonventionelle von Hitta, dessen Leben als Hüttenwart im Hochgebirge und die Möglichkeit, sich durch die Ehe mit ihm endgültig der beschränkten Welt der Eltern entziehen zu können, reizen die junge Frau. Jahre der Saisonarbeit folgen: im Sommer in den Bergen, im Winter im Tal. Der Alltag in der Hütte wird von Wirthlin beziehungsweise Clavadetscher alles andere als idyllisch dargestellt: Eis muss zu Wasser geschmolzen werden, Elektrizität ist nicht vorhanden, die Gäste sind zahlreich, die Wetterschwankungen extrem und die Arbeit – vom Kochen über das Wäschewaschen – hart. Alles, was benötigt wird, ob Lebensmittel oder Holz, muss zu Fuß hochgetragen werden, zum Teil unterstützt von einem Maultier, zunächst nur einmal im Jahr von einem Flugzeug, ab den 1990er Jahren von Helikoptern. Wochenlang wirtschaftet Irma fast allein, weil Hitta von Gästen als Bergführer gebucht wird. In dieser Zeit hat sie mit der doppelten Arbeit zu kämpfen und der mangelnden Akzeptanz, der sie als Frau ausgesetzt ist. Im konservativ geprägten Schweizer Alpen-Club wird sie in einem Artikel über die Coaz-Hütte als „Hippiemädchen“, dessen „Sitzfläche nur knapp von einem Höschen bedeckt werde“ (100, Quellenzitat) beschrieben und ihre Autorität als Frau auf der Hütte in Frage gestellt. Hier offenbart sich eine Vorstellung von Geschlechtern, die noch 1978 in einem SAC-Dokument weiterwirkt, den „Denkanstößen zum Thema Frauen im SAC“: „Der SAC bleibt der letzte Hort, wo sich die Männer vor der Aggressivität und den Komplexen der Frauen sicher fühlen.“ (100, Quellenzitat). „Erst 1980, neun Jahre nach Einführung des Frauenstimmrechts in der Schweiz auf nationaler Ebene, fusionierte der SAC mit dem Schweizerischen Frauen-Alpen-Club (gegründet 1918), und damit waren auch Frauen im SAC willkommen.“ (100) Weitere Passagen handeln von den Gefahren des Hochgebirges, Unglücken am Berg, von berühmten Gästen, von Festen, Gruppendynamiken und dem unbedingt nötigen Einhalten von Regeln, wie auch dem nötigen Zusammenhalt des Paares, das eine neue Form von Partnerschaftlichkeit lebt, wenn auch mit Einschränkungen. Die Schönheiten des Berglebens, vor allem die Naturerfahrungen kommen vor, genauso wie der Stolz auf das „Familienunternehmen ‚Hütte‘“ (197). Eltern wie Kinder hätten zu dem ungewöhnlichen Konzept gestanden, im Sommer auf der Hütte zu sein, den Winter mit Saisonarbeit zu bestreiten, das der ganzen Familie auch Gerede und wilde Spekulationen eingebracht hat. Man warf ihnen vor, ein „Zigeunerleben“ (207, Quellenzitat) zu führen, und bei Irma hieß es, sie vernachlässige die Mutterrolle. Spätestens hier sah sich Frau Clavadetscher wieder mit gängigen Rollenmustern konfrontiert, die sie meinte hinter sich gelassen zu haben. Konfrontiert mit zunehmender Schwäche und Gebrechlichkeit übergibt das Paar nach fast vierzig Jahren die Aufgabe der Hüttenwirte an andere und bleibt im Tal.

Alles in allem: Ein gut zu lesendes Buch, das Lokalkolorit enthält, exemplarisch eine weibliche Biografie nachzeichnet, durchzogen von ausgezeichneten Fotos, die den Alltag in großer Höhe festhalten wie auch der Natur gerecht werden, die diesen bedingt und beherrscht.