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Martin Scharfe

Das Herz der Höhe. Eine Kultur- und Seelengeschichte des Bergsteigens

Berlin 2021, Schwabe, 429 Seiten mit Abbildungen, ISBN 978-3-7574-0064-4


Rezensiert von Helge Gerndt
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 17.08.2023

Vor anderthalb Jahrzehnten, 2007, hat Martin Scharfe eine Kulturgeschichte des frühen Alpinismus vorgelegt, eine grundlegende Darstellung, die die in Europa seit der Mitte des 18. Jahrhunderts bemerkbare „Berg-Sucht“ analysiert, jene damals rasch wachsende und bis heute weiterwirkende Anziehungskraft der zuvor fast nur ängstigenden und, wann immer es möglich war, auch gemiedenen hochalpinen Gebirgswelt. Aufgeklärte Reisende zunächst, Wissenschaftler und Künstler, eroberten sich mit Hilfe der Bergbewohner Hochtäler und Gipfel (später kamen Touristen und Sportkletterer). Die daraus resultierenden Kulturkontakte und Kulturkonflikte sowie numinose Erscheinungen und deren Entzauberung, die Mittel und Wege der Naturaneignung, individuelle und kollektive Seelenbewegungen und irritierende Leibeserfahrungen grundieren den Entwicklungsprozess, der das Bergsteigen als ein inneres und äußeres Kulturphänomen und die Bergwelt als eine, etwa mit Wegen und Gipfelkreuzen, kulturell überformte Landschaft einsichtig macht.

Diesem kulturhistorischen Aufriss hat Scharfe sechs Jahre später, 2013, mit „Bilder aus den Alpen“ eine „andere Geschichte des Bergsteigens“ an die Seite gestellt. Anders insofern, als es hier nicht um längere Entwicklungslinien, sondern um einzelne Bildszenen geht. Aus unterschiedlichsten Bildzeugnissen treten dabei durch subtile „Zwiesprache“ des Interpreten mit dem, „was im Bilde steckt“, selbst wenn dies dem Bildautor nicht bewusst war, nicht nur konkrete Lebensvorgänge und Lebenshaltungen von Bergbewohnern und Bergbesteigern entgegen, sondern auch generelle Stimmungslagen einer Zeitepoche lassen sich manchmal nachempfinden. Nicht zuletzt vermittelt dieses Kaleidoskop alpiner Gebirgsszenen dem einlässlichen Betrachter ein fast unerschöpflich scheinendes Arsenal von Deutungsaspekten und Assoziationshilfen zum eigenen Weiterdenken.

Nunmehr krönt Scharfe mit einem dritten Werk sein Langzeit-Unternehmen alpiner Kulturgeschichtsschreibung. Das Herz ist das Sinnbild für die leibseelische Einheit des Menschen, und so integriert eine Kulturgeschichte des Bergsteigens im „Herz der Höhe“ betont auch eine Seelengeschichte, die aber das „Berg-Sucht“-Thema und den Alpenbilder-Spiegel nicht einfach ergänzt. Sie vertieft vielmehr die kulturwissenschaftliche Analyse des Alpinismus und erweitert zudem den Betrachtungsrahmen punktuell auch auf andere Bergregionen.

Das neue Buch versammelt, die Einführung über „Seelenarbeit“ eingeschlossen, 20 Studien, die bis auf zwei bereits zwischen 1993 und 2018 verstreut publiziert wurden, aber hier, durchweg überarbeitet, unter übergeordneten Gesichtspunkten zu einer „Exempla“-Reihe komponiert und ergänzt, eine respektable Einheit präsentieren. Innerhalb verschiedener Themengruppen werden bei den Gegenstandserörterungen stets zugleich zahlreiche methodische und kulturtheoretische Überlegungen angestellt und entsprechende Begriffe entwickelt.

Einen Kerngedanken bildet die „kulturelle Szene“, ein theoretisches Konstrukt, das Worte und Bildelemente miteinander verflicht und so verschiedene Faktenkonstellationen auf eine einheitliche Vergleichsebene hebt. Anhand der Erstbesteigung des Watzmann im Jahr 1800 durch einen gewissen Valentin Stanig, die dieser selbst schriftlich festgehalten hat, erkennt Scharfe drei „weit über das Individuum hinausweisende Kulturgebärden“, die quasi Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft verbinden (67), nämlich eine „neue“ Geste (das Messen, zum Beispiel der Höhe), eine „alte“ Praxis (etwas auf dem Gipfel hinterlassen, als „Opfer“) sowie eine „künftige Gebärde“, wenn etwa Stanig in einer brenzligen Situation (statt eines Stoßgebets) Kaltblütigkeit zeigt, worin Scharfe eine „Suspension des Glaubens als kulturelle Präfiguration“ erkennt (77). Eine kulturelle Szene, die sich im Falle von Stanigs Watzmann-Besteigung aus einzelnen Gebärden zusammensetzt, wird nicht erdacht oder geplant, sondern „getan“; sie ist unreflektierter „Ausdruck“ (83). Sie ist das Brennglas, mit dem der inspirierte Interpret „tiefenhermeneutische“ Entdeckungen entzünden kann.

Am Beispiel des Gipfel-„Siegs“ mit seinen Triumph-Gebärden erarbeitet Scharfe ein tief verborgenes Phänomen: die „seelische Ambivalenz“ bei frühen Bergbesteigungen. Hinter den Zeichen des Siegesgefühls auf der Bergspitze (hochgerissene Fäuste, Hut schwenken, Fahne schwingen) entdeckt er eine „kulturelle Schattengebärde“: das Erschrecken und seine Zeichen. Der Sieg ist ambivalent, der Schrecken, gar nackte Angst und blankes Entsetzen sind in ihn eingeschlossen. Ausdrucksformen oder „Gebärden“ dafür bilden etwa der Gipfelschlaf der Bergführer („sie gebärden sich, als ob sie nicht da wären“) oder die auffällig häufige metaphorische Rede vom „Opfer“ in den Bergberichten (wenn auf dem Gipfel etwas Wein verschüttet, etwas Gegenständliches deponiert wird). Schließlich konstatiert Scharfe: „Das unübersehbarste Zeichen der (um es paradox zu sagen) unbewussten Absicht der Buße oder Wiedergutmachung, also der symbolischen Tilgung einer Freveltat (freilich einer gleichsam heuchlerischen Tilgung, man will die Tat ja nicht wirklich ungeschehen machen!), ist das Gipfelkreuz, dessen Geschichte nicht uralt ist, sondern erst mit der Bezwingung der höchsten Berge beginnt.“ (249)

Das Gipfelkreuz versteht Scharfe als eine „konkrete Kulturgebärde“ (193), als „Pathosformel“ (mit dem Begriff von Aby Warburg), der er zwei besonders eindringliche Tiefenlotungen widmet: das „Kruzifix mit Blitzableiter“ auf dem obersteirischen Erzberg sowie das Luisenburg-Felsenkreuz im Fichtelgebirge. Beide Analysen sind höchst detailliert in ihren historischen Ursprungs- beziehungsweise Wahrnehmungskontext eingeordnet. Beim Erzberg-Kreuz geht es speziell um die kulturellen Stimmungen und Affekte seiner Entstehungszeit, um ein „Exempel für das Schwinden der Religion bei statthabender lauter Beschwörung“, um ein „Zeichen des Glaubens, das zugleich den Verfall dieses Glaubens anzeigen kann“, um die „Kränkung Gottes“, dass man mit dem Blitzableiter „dem Gott, wie man ihn ‚gelernt‘ hatte, ins Handwerk pfuschen konnte“ (216). Und anhand des Luisenburg-Kreuzes werden speziell die Deutungsmöglichkeiten der Gipfelzeichen in einer weit ausgefächerten Spurensuche erhellend durchgespielt, um gleichwohl mit „Aussagen über das Unsagbare“ und einem Paradoxon zu enden: „Obwohl hinten und vorne nichts zusammenstimmte, galt den Zeitgenossen das Kreuz als ‚stimmig‘. Obwohl keiner abzuklären versuchte, wofür denn nun das Zeichen stand und was an ihm hätte abgemessen werden können, fanden alle das Kreuz ‚angemessen‘.“ (235) Auch und gerade solche (und so formulierte!) Forschungs- und Denkergebnisse demonstrieren die Subtilität und Qualität kulturwissenschaftlicher Arbeit.

Es gibt viele weitere thematische Vertiefungen und neben den strenger analytischen auch eher spekulative, ahnende, vorsichtig austastende Wege der „intellektuellen Spaziergänge“ in diesem Buch, zum Beispiel zu allgemeineren Themen wie „Stürzen und Stolpern“ oder „Übergänge“, sowohl in den Bergen als auch im individuellen Lebenslauf. Doch schon an den Gipfelkreuz-Beispielen dürfte deutlich geworden sein, dass „Das Herz der Höhe“ mit seiner Betonung innermenschlicher Vorgänge im Kulturprozess nicht nur die Alpingeschichte bereichert und Scharfes innovative Leistung auf diesem Gebiet unterstreicht, sondern zugleich übergreifende Fragen aufwirft und weiterführt, die er bereits in „Über die Religion“ (2004) und „Menschenwerk“ (2002) grundlegend skizziert hat.

Insofern krönt „Das Herz der Höhe“ beispielhaft auch das gesamte kulturwissenschaftliche Werk Martin Scharfes. Die Geschichte der menschlichen Seele in Konfrontation mit den Bergen bildet ein Integral von Glaubens- und Wahrnehmungsentwicklungen, ist generell ein Ausschnitt der neuzeitlichen Modernisierung vor dem Hintergrund von Entchristlichung, Entgottung, der sogenannten Säkularisierung, einer sich radikal verändernden religiösen Kultur. Scharfe destilliert seine alpine Kulturgeschichte (history) aus expliziten und bildlich-impliziten Geschichten (stories); methodisch leben seine Deutungen von souveränen Aspektwechseln und der kreativ genutzten Dialektik zwischen Wort und Bild, zwischen Sprachbildern und visuellen Objektivationen (Realbildern) als üppig verwendetem Quellenmaterial sowie von seiner Offenheit für ein mythisches, bildhaft ahnendes Denken. Die Anreger und Referenzpersonen seiner Ideen sind kaum je andere Kultur-Empiriker oder Soziologen, sondern durchweg große Denker und Philosophen der Neuzeit. Wer Scharfes Orientierungen vertiefend folgen will, lese Kant, Schiller, Marx, Freud, Bloch, Blumenberg und Gernot Böhme. Eine besondere Bedeutung besitzt für seine Publikationen die ausgefeilte sprachliche Darstellungsform, eine Art „literarisierten“ Wissenschaftsdiskurses, die das Lesepublikum sanft und genussvoll zum Mitdenken einlädt und inspiriert.

Nicht alles, was Martin Scharfe zur Alpingeschichte zu sagen hat, ist nun in seinen drei Alpen-Büchern vereint. Ein hier fehlendes Thema, zu dem der Autor nur vereinzelt Anmerkungen einstreut, obwohl er auch da größere Vorarbeiten geleistet hat, ist die Komik im Alpinismus, die sich zum Beispiel in Karikaturen äußert, speziell aber die Ironie, die das Pathetische lächerlich macht, etwa das alpine Heldentum ironisch demontiert. Der Humor ist – wie überall im menschlichen Leben – ein durchaus wesentliches und wünschenswertes Element auch des „Herzens der Höhe“, das hier aber, in extenso erkundet, den ohnehin weiten Rahmen gesprengt hätte. Eine gewisse Heiterkeit freilich, die sich feinfühligen Leserinnen und Lesern schon bei einem ruhig-nachdenklichen Durchblättern der 122 mit Akkuratesse ausgewählten Abbildungen erschließen mag, durchzieht dieses Buch. Das „Herz der Höhe“ eröffnet nicht nur überraschende Einsichten und neue Blickwinkel, sondern befriedigt auch den Schönheitssinn und vermittelt Lesegenuss.