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Lubomír Sůva

Der tschechische Himmel liegt in der Hölle. Märchen von Božena Němcová und den Brüdern Grimm im Vergleich

(Zürcher Schriften zur Erzählforschung und Narratologie 6), Ilmtal-Weinstraße 2022, Jonas, 286 Seiten mit Abbildungen, ISBN 978-3-89445-583-5


Rezensiert von Helge Gerndt
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 31.08.2023

Das Buch von Lubomír Sůva untersucht erstmals die Märchendichtung der wohl bekanntesten tschechischen Schriftstellerin Božena Němcová (1820–1862) aus einer betont literaturwissenschaftlichen und komparatistischen Perspektive. Der Autor zeigt in seiner eindringlichen, textimmanent und kontextuell angelegten Analyse, dass Němcovás Werk und speziell ihre Märchen, in denen romantische, biedermeierliche und realistische Züge erkennbar sind, wesentlich auf romantischen Ideen gründen und sich ohne Bezug auf die Programmatik der (deutschen) Romantik nicht fruchtbar interpretieren lassen. Gemeint ist hier speziell die Heidelberger Romantik; Hauptbezugspunkte sind die Märchen der Brüder Grimm einerseits sowie das auch aus Volksüberlieferungssammlungen bestehende oder darauf fußende Werk des tschechischen Dichters und Mythenforschers Karel Jaromír Erben (1811–1870) andererseits. Das verbindende Element zwischen Němcová, Erben und den Grimms bildet das Konzept der romantischen „Volkspoesie“; auf dieser gemeinsamen Grundlage treten charakteristische Unterschiede zwischen den Märchen der Němcová und denen der Grimms deutlich hervor: Während in den „Kinder- und Hausmärchen“ der Brüder das Fantastische dominiert, sind es bei Němcová die Sitten, Bräuche, Rituale und Charaktertypen des tschechischen Dorfes, in die die fantastischen Elemente eingebettet erscheinen; während die Grimms etwa Dorothea Viehmann zu einer typischen „Volkserzählerin“ stilisieren (sowie selbst die „Volkserzähler“-Rolle übernehmen), bezieht Němcová die „Erzählerwelt des Volkes“ in ihre Märchen ein.

Das Buch besteht aus drei Teilen, die aufeinander aufbauen und zugleich je für sich ihr Eigengewicht besitzen. Der erste Teil widmet sich intensiv und mit souveräner Umsicht dem Volksmärchen-Begriff, wie er dann durch die Brüder Grimm literarisch ausgeprägt wurde, expliziert die Frage, inwiefern sich die tschechischen Märchen darauf stützen und skizziert einen knappen, für die sozialistische Zeit kritischen Abriss tschechischer Märchenforschung, wo hingegen an bemerkenswerte Einsichten von Václav Tille (1867–1937) heute angeknüpft werden kann. Der zweite Teil umreißt Leben und Werk der Božena Němcová, zeigt detailliert die generische Verwandtschaft mit der Programmatik und der poetologischen Praxis der Grimm-Brüder am Beispiel Němcovás märchenhafter Geschichte „Das Alabastermännchen“ und überträgt das auf ihre Märchensammlung insgesamt. Der dritte, umfänglichste Teil bietet eingehende Märchenanalysen im Vergleich zu jeweils verwandten Grimm-Fassungen. Inhaltlich handeln vier der Märchen „von tapferen Frauen“: Goldenes Spinnrad / Gänsemagd (KHM 89), Mariška / Marienkind (KHM 3), Sieben Raben / Zwölf Brüder u.a. (KHM 9, 25, 49), Aschenputtel, Drei Schwestern, Prinzessin mit Goldstern / Aschenputtel u. a. (KHM 21, 65); zwei „von sensiblen Männern“: Joza / Bienenkönigin (KHM 62), Prinz Bajaja / Eisenhans (KHM 136); und drei „von guten Teufeln“: Totenwache / Grabhügel (KHM 195), Káča und der Teufel, Teufels Schwager / Teufels rußiger Bruder (KHM 100).

Es ist nicht leicht, die Fülle der Überlegungen und Einzelerkenntnisse (auch in den überaus umfang- und kenntnisreichen Anmerkungen) dieser dichten Studie in Kürze darzustellen. Die Vergleiche sind vielschichtig angelegt. Gefragt wird konzeptuell-programmatisch nach der Verwandtschaft der beiden Volksmärchen-Modelle, erzähltechnisch besonders nach den Aktivitäten von Held oder Heldin (Erfüllung der Aufgaben, Lösung der Konflikte) und typologisch nach den Handlungsstrukturen (motivische und thematische Spezifika der Sammlung Němcovás). Die Analysen bleiben nahe am Text, sind sehr detailliert, präzis und auch methodologisch gut reflektiert; so wird zum Beispiel die Reichweite der typologischen Betrachtung realistisch eingeschätzt: Die Märchentypisierung dient als eine heuristische Hilfe, markiert aber keine generische Verwandtschaft. Der Wert dieser Arbeit liegt in der Umsicht und Differenziertheit seiner inspirierten Einzeluntersuchungen, die von einem modernen Verständnis der Grimmschen Märchentexte (und natürlich auch der Němcovás) als bewusst gestalteter literarischer Zeugnisse getragen sind. Denn beide Märchen bilden intensive Rekonstruktionen einer vermeintlichen „Urpoesie“, in welcher die Grimms wie Němcová einen Impuls zur poetischen Erneuerung einer entfremdeten Moderne suchten; beide fanden diesen beim „einfachen Volk“ und, dem Zeitgeist folgend, beim jeweils „eigenen Volk“. Die Unterschiede der „deutschen“ und „tschechischen“ Märchen aber verdanken sich den stilistisch-literarischen Entscheidungen (und dem individuellen Selektionsprozess) ihrer poetischen Übermittler. Lubomír Sůva summiert überzeugend: „Zusammen mit J.K. Erben schuf Němcová Werke, die in ihrer Qualität mit denen der Grimms konkurrieren können, die einander ergänzen und widerspiegeln, und die bis heute zum festen Kanon der tschechischen Literatur gehören.“ (249) – Das Werk schließt mit einem nützlichen Index aller „tschechischen“ Märchen Němcovás.