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Jaya Bowry

Ethnografische Erkundungen im Fußballstadion. Kulinarische Fanfreuden zwischen Genuss, Gemeinschaft, Gewissen und Gesundheit

(Mainzer Beiträge zur Kulturanthropologie/Volkskunde 24), Münster 2022, Waxmann, 310 Seiten mit Abbildungen, ISBN 978-3-8309-4543-7


Rezensiert von Sebastian Gietl
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 21.09.2023

Jaya Bowry studierte Kulturanthropologie und Anglistik an der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz, wo sie 2011 mit Magister abschloss. Bereits zu dieser Zeit wurde der Grundstein für ihren weiteren forscherischen und beruflichen Lebensweg gelegt, indem sie  Projektmitarbeiterin bei „KarmaKonsum“ wurde, einem Unternehmen, das sich immer wichtiger werdenden Themen rund um Nachhaltigkeit, Innovation, Gesundheit und Achtsamkeit verschrieben hat. Dieser Schwerpunkt führte sie direkt weiter zur „Trifolium Beratungsgesellschaft“ und zusätzlich als Projektleiterin zu „Faktor 10 – Institut für nachhaltiges Wirtschaften“. Weiterhin ist Jaya Bowry als wissenschaftliche Mitarbeiterin für das „Institut für Zukunftstechnologien und Technologiebewertung“ tätig und engagiert sich im Team von „Lust auf besser Leben“ ebenfalls im Kontext des Themenfeldes Nachhaltigkeit und Ernährung.

Vor diesem Hintergrund verwundert der Titel ihrer Dissertation „Ethnografische Erkundungen im Fußballstadion“ zunächst einmal. Verortet man das Thema Fußball doch eher weniger im Kontext von Nachhaltigkeit, Gesundheit und Ernährung. Ein weiterer Blick auf den Untertitel des Buches schafft dann jedoch Klarheit: „Kulinarische Fanfreuden zwischen Genuss, Gemeinschaft, Gewissen und Gesundheit“. Diese geschickt gewählte Alliteration offenbart sehr eindrücklich unter welcher Prämisse Jaya Bowry sich dem Thema Fankulturen genähert und damit ein wichtiges Forschungsdesiderat in den wissenschaftlichen Fokus gerückt hat.

In Zeiten, in denen Nachhaltigkeits- und Umweltdiskurse in Zusammenhang mit einer zunehmend medial präsenteren Klimakrise nahezu alle Lebensbereiche zu berühren scheinen, versuchen nicht nur global agierende Weltstars, wie etwa die Rockband Coldplay, durch ihr Vorhaben ihre Konzerte „klimaneutral“ erscheinen zu lassen, auf das Thema aufmerksam zu machen. Das globale Phänomen Fußball wurde unter der Prämisse Nachhaltigkeit und Ernährung noch sehr rudimentär ausgeleuchtet, was der nur eine halbe Seite umfassende Forschungsstand der Dissertation eindrücklich unterstreicht.

Nicht zuletzt mehrere Länder umfassende Fußball-Europa- oder Weltmeisterschaften, wie die EM 2020, die in zehn Ländern Europas gleichzeitig ausgetragen wurde, lassen andere Schwerpunktsetzungen bei den Veranstaltern vermuten. Derartige Konzepte lassen allein durch die vielen entstehenden Flugbewegungen und all den damit zusammenhängenden organisatorischen und logistischen Aufwand wenig Raum für Nachhaltigkeit. Es ist daher davon auszugehen, dass Aspekte wie „Gemeinschaft“, „Europäischer Gedanke“ oder „kultureller Austausch“ hier als wichtiger bewertet wurden. Diese Tendenz unterstreicht auch die Vergabe der Weltmeisterschaft 2026; sie wird in Mexiko, den USA und Kanada gleichzeitig ausgetragen.

Umso lobenswerter ist die von Jaya Bowry gewählte Schwerpunktsetzung: Ihre gut 300 Seiten umfassende Dissertation stellt einen ernährungsoptimierten Hochleistungssport, wie es der Profifußball des 21. Jahrhunderts wohl ist, und die Imbissangebote in deutschen Stadien gegenüber, die mit Bier und Stadionwurst heute in der öffentlichen Wahrnehmung nicht weiter von ersterem entfernt sein könnten.

Sie skizziert in ihrer klar strukturierten und absolut logisch aufgebauten Arbeit das Forschungsfeld und bereitet das Spannungsfeld zwischen Ernährungs-, Körperlichkeits-, Gesundheits-, Medien- und Nachhaltigkeitsdiskursen entsprechend auf, so dass auch Fußball-Laien einen leichten Einstieg in diese tiefgehende, komplexe Analyse finden. Die ethnografisch angelegte Arbeit nähert sich dem Untersuchungskomplex in einem Methodenmix aus qualitativen und quantitativen Verfahren. Dafür führte Bowry qualitative Interviews und setzte auf teilnehmende Beobachtung. Die Befunde unterfüttert sie wiederum mit Beispielen aus analogen und digitalen Quellen. Diese Methodentriangulation ermöglichte ihr durch gegenseitiges Ergänzen beziehungsweise Bestätigen (fehlender) Informationen eine möglichst umfassende und zielgerichtete Forschung.

Ihre empirischen Erkenntnisse präsentieren sich daher sehr breit gefächert: Neben dem ganz allgemeinen „Essen und Trinken im Fußballstadion heute“ (66) finden sich weitere Kategorien wie „Weltmeisterschaft 2018 – Kulturanthropologischer Spaziergang durch den Supermarkt“ (87), die „Konstruktion von Identität im Stadion und Alltag qua Essen“ (133), „Auswärtsfahrt nach Mailand“ (82), „Essen und Trinken im Stadion: Zeitfaktoren, Tradition und Ritual“ (95), „Good Food – Bad Food: Narrative und Bewertungen von Stadionmahlzeiten“ (171) oder drei qualitativ dichte exemplarische Fanportraits.

Die sehr umfangreiche, diversifizierte Quellenbasis ermöglicht der Autorin einen detaillierten Blick auf das Forschungsfeld. Dieser Umstand schlägt sich dann auch nicht zuletzt in einer sehr breiten Ergebnislese nieder, die einerseits Befunde bisheriger Untersuchungen auf dem Feld des Fußballs bestätigen, aber auch ein sehr hohes Anschlusspotential sowohl im Bereich der Fankultur-, der Ernährungsforschung und auch der Erforschung populärer Religiosität bieten. Dabei zeigen sich sowohl Spiegelungen kultureller Transformationsprozesse in Form einer höheren Bedeutung von Regionalität, die inzwischen durchaus zum Fan-Thema geworden ist, als auch die zunehmende Tabuisierung von Fleischkonsum im Alltag und damit verbundene Rechtfertigungsnarrationen. Die Autorin kann auch Prozesse der Alltagsmystifizierung in ihren Ergebnissen identifizieren, wenn neben Vergangenheitsbezügen, „Ritual und Religion“, „Vergemeinschaftung und Verszenung“ auch eine recht allgemein gehaltene – aber eben nicht nachhaltig gelebte – „Kommerzialisierungskritik“ identifiziert wird, sich aber der Großteil der Fans dennoch dem Fußball-Business und all seiner Kommerzialisierungsbemühungen hingibt.

Insgesamt gelingt es Jaya Bowry auf perfekte Art und Weise den Mikrokosmos Fußball und Ernährung zum Leben zu erwecken und Einblicke in den postmodernen Fanalltag zu gewähren. Gleichzeitig zeigt sie die Diskrepanzen auf, in der heutige Fan-Existenzen zu leben versuchen müssen. Nachhaltigkeits-, Gesundheits- und auch Ernährungsdiskurse machen auch (oder gerade) nicht vor dem Fußballstadion halt. Das musste seinerzeit schon Klaus Augenthaler, der Weltmeister-Libero von 1990 spüren, als er sich direkt nach seinem Abschiedsspiel 1992 vor laufender Kamera eine vom damals übertragenden Privatsender geschenkte Zigarette anzündete und ein Weißbier genoss.

Nicht nur allen, die sich näher mit dem Thema Fußball und Ernährung beschäftigen wollen, sei das Buch ans Herz gelegt. Es erschließt den Leserinnen und Lesern ein ganzes Panoptikum an Details, Erfahrungen und Erkenntnissen, die den nächsten (forscherischen) Stadionbesuch sicherlich zum ganz besonderen Erlebnis werden lassen.