Aktuelle Rezensionen
Johannes Pietsch
Hauptsache. Hüte, Hauben, Hip-Hop-Caps. Begleitband zur Ausstellung im Bayerischen Nationalmuseum vom 20. Oktober 2022 bis 30. April 2023
München 2022, Volk, 276 Seiten mit 600 Farb-Abbildungen, ISBN 978-3-86222-442-5
Rezensiert von Nina Gockerell
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 24.08.2023
Von Oktober 2022 bis April 2023 war im Bayerischen Nationalmuseum in München (BNM) die Ausstellung „Hauptsache“ zu sehen, in der etwa 250 Kopfbedeckungen von byzantinischer Zeit bis zu Kreationen zeitgenössischer Modistinnen gezeigt und von einer großen Zahl von Gemälden, Grafiken, Fotos und anderen Dokumenten begleitet wurden. Der reich bebilderte, äußerst sorgfältig erarbeitete Katalog des Konservators für Textilien am BNM und Kurators der Ausstellung Johannes Pietsch kann unabhängig von der Museumsschau als umfassendes Handbuch zu Gestalt und Bedeutung von Kopfbedeckungen für Männer und Frauen sowie zu deren Herstellung, den verwendeten Materialien und Anfertigungstechniken gelten. Grundlage für Ausstellung wie Katalog bildete die einzigartig umfangreiche Sammlung des Museums, lediglich für die Veranschaulichung jüngster Tendenzen wurde auf Leihgaben aus Privatbesitz zurückgegriffen.
Viele unserer Kleidungsstücke haben neben ihrer praktischen Bestimmung als Schutz und ihrem ästhetischen Wert auch eine symbolische Bedeutung oder weisen auf soziale, Lebens- oder Standessituationen der Trägerinnen und Träger hin. Am ausgeprägtesten dürften diese Zusatzfunktionen bei Kopfbedeckungen sein. Auch solchen heute oft nicht mehr selbstverständlich bekannten Bedeutungen detailliert nachgegangen zu sein, ist ein besonderes Verdienst dieser Publikation. Neben den perfekt arrangierten und sensibel ausgeleuchteten Fotos der Objekte besticht die Überfülle an Bildquellen, die Trageanlässe, Trageweisen, Standes- und Alterszuordnung der unterschiedlichen Kopfbedeckungen dokumentieren.
Frank Matthias Kammel, Generaldirektor des Bayerischen Nationalmuseums, hat einen umfangreichen, mit vielen Zitaten aus der Belletristik sowie Hinweisen auf Kunstwerke und Künstler gespickten, schön bebilderten Einführungsaufsatz „Von Menschen und Hüten“ beigesteuert, in dem die ikonische Bedeutung bestimmter Kopfbedeckungen für bestimmte Träger behandelt wird. Der Aspekt „Hut und Prominenz“ versammelt Hinweise auf Politiker und Künstler, deren Hüte zu unveränderbaren Markenzeichen wurden, „Zeichen und Normen“ erinnert an Kopfbedeckungen von Künstlern, Professoren, Klerikern, „Gesinnung und Gefühle“ behandelt politische und religiöse Bedeutungen, den Topos der Freiheit, die bürgerliche Konnotation des Hutes, „Metapher und Kritik“ spricht von Luxuskritik und Eitelkeit. Bei der äußerst anregenden Lektüre mag allerdings der Eindruck entstehen, es handle sich bei Katalog (und vergangener Ausstellung) ausschließlich um das Thema „Hut“ und im Besonderen „Männerhut“ – doch dieser Eindruck täuscht, denn es geht um die ganze Fülle von Kopfbedeckungen für beide Geschlechter.
Das Bayerische Nationalmuseum besitzt eine der weltweit qualitätvollsten Sammlungen an Kopfbedeckungen. Etwa 250 Objekte wurden für die Ausstellung ausgewählt und im Katalog beschrieben. Dabei sind die Objekttexte und -abbildungen nicht, wie vielfach üblich, in einem Katalogteil zusammengefasst, sondern in die Abfolge der thematischen Aufsätze integriert – ein Kunstgriff, der den Lesegenuss erheblich steigert und einem wahrhaftigen Ausstellungsbesuch sehr nahekommt.
Den „Kopfbedeckungen als Zeichen von Herrschaft und Autorität“ gilt das erste Kapitel, in dem Kronen, Mitren und Kardinalshüte versammelt sind. Sensationell und einer der größten Schätze des Museums ist die Seligenthaler Mitra, eine in England um 1180–1200 in der Technik des Opus Anglicanum bestickte Seidenmitra mit der Darstellung der Ermordung des Thomas Beckett und der Steinigung des Stephanus. Sie war bald nach ihrer Entstehung über Herzog Ludwig I. von Bayern in das Kloster Seligenthal in Landshut und schließlich ins BNM gelangt.
Ebenso hochbedeutend sind vier frühbyzantinische Frauenhaarnetze des 4. bis 6. Jahrhunderts aus Ägypten, die hier erstmalig vorgestellt werden. Der Akribie und Kunstfertigkeit der Textilrestauratorin Dagmar Drinkler ist es zu verdanken, dass die „Sprang“ genannte Flechttechnik entschlüsselt, am eigens konstruierten Rahmen nachgearbeitet und so neben der Musterung der Haarnetze auch ihre Trageweise rekonstruiert werden konnte.
Hauptsächlich anhand von Porträtgemälden erschließt sich die Entwicklung von Frauenhaube und Schleier im späten Mittelalter. Herrenhauben und das von beiden Geschlechtern getragene Barett überraschen im 16. Jahrhundert, auch eine Frauenhaube der Zeit um 1500 konnte, wiederum in der Sprangtechnik, rekonstruiert und sogar mit einer etwa zeitgleichen Holzschnittdarstellung von Maria, am Sprangrahmen sitzend, illustriert werden. Im 17. Jahrhundert lösten neue Hutformen die bis dahin üblichen aus der Spanischen Hoftracht ab. Der Soldatenhut wurde Vorbild für die Männer, Frauen höherer Stände trugen die Fontange, eine Pracht aus gefältelter Spitze, für deren Modellierung es eines Drahtgestells bedurfte. Ein solches Originalteil besitzt das BNM, interessanterweise lange Zeit fälschlich als „Unterkragen“ inventarisiert und vermutlich eines der wenigen, wenn nicht das einzige erhaltene Exemplar.
Auch das 18. Jahrhundert entwickelte wieder ganz ähnliche Kopfbedeckungen für beide Geschlechter, nämlich den Hut mit aufgebogener Krempe, den die Frauen allerdings reich zu verzieren wussten. Etwas ganz Besonderes leisteten sich die Herren im Rokoko: die Hausmütze, die, bisher in der Forschung kaum beachtet, hier in einigen exquisiten Exemplaren aus Damast und mit Seidenstickereien vorgeführt wird. Frauen trugen nun zierliche Spitzenhauben, die oft aus Einzelteilen bestehend täglich neu auf dem Kopf gesteckt wurden. Die breitkrempigen Strohhüte der Zeit wurden üppig mit Seidenzier besetzt. Das Rokoko war auch die Zeit der heiteren Verkleidungen und der theatralischen kirchlichen Aufzüge. Nur selten haben sich die dafür oft nur recht flüchtig hergestellten Kopfbedeckungen – etwa für die „Engel“ der Fronleichnamsprozession – erhalten; im BNM wurden sie bereits im 19. Jahrhundert gesammelt.
Ein umfangreiches, mit zahlreichen Gemäldereproduktionen ausgestattetes Kapitel widmet sich, dem Sammlungsbestand des Museums entsprechend, den Hüten und Hauben süddeutscher Frauen des 17. bis 19. Jahrhunderts, zunächst der Bewohnerinnen Nürnbergs und Augsburgs, dann den Hauben und Jungfernkronen für unterschiedliche Konfessionen und Standeszugehörigkeiten in den ländlichen Gebieten. Herausragend hier eine Nürnberger Flinderhaube der Mitte des 17. Jahrhunderts – davon existieren nur noch drei Exemplare weltweit – mit beweglichen Metallplättchen und eine kaum weniger beeindruckende Goldhaube mit Pailletten; für beide Hauben konnte Dagmar Drinkler die Herstellungstechnik samt den dafür nötigen Arbeitsmitteln rekonstruieren. Sehr schön ist der Einfluss städtischer Mode auf die ländliche Kleidung anhand der Münchner Riegelhaube nachzuvollziehen; es folgen Goldhauben, Radhauben, Reginahauben, „Jungfernkranln“ und Brautkronen aus verschiedenen Gegenden Bayerns, stets begleitet von Porträts, Kupferstichen und Aquarellen, die besonders überzeugend das harmonische Zusammenspiel von Kleidersilhouette und Kopfputz zeigen. Zeitgleich trug der Mann Zylinder, fein geflochten oder aus Seide, aber auch Samtbarett und Schirmmütze. Äußerst vergnüglich zu betrachten ist die Parade von knapp 20 Zylindern, Hüten und Mützen, die König Ludwig I. von Bayern dem Museum geschenkt hat, nicht ohne zuweilen exakte eigenhändige Beschriftungen im Inneren anzubringen, ganz deutlich in der Absicht, sich selbst der Nachwelt als äußerst modischer Mann in Erinnerung zu halten. Zum ersten Mal wird dieser Sammlungsbestand nun ausführlich bearbeitet. Wie sehr Kopfbedeckungen stets symbolhaft gesehen wurden für ihre ehemaligen Träger zeigen sowohl Ordensritterhüte bayerischer Herrscher wie auch ihre Jagdhüte, die schon bald nach ihrem Ableben als museumswürdig angesehen wurden. Letztere unterschieden sich kaum von den ländlichen Hüten, die von Männern und in manchen Gegenden Bayerns in leicht flacherer Form auch von Frauen getragen wurden.
Die modische Haube des 19. Jahrhunderts dagegen schwelgte in Seidenrüschen und Spitzen und nahm damit die Auszier der üppigen Damenkleidung unmittelbar auf, wie neben den Originalstücken Porträtgemälde und zahlreiche Modekupfer beweisen. Neben Biedermeier-Strohhüte traten einmal wieder breitkrempige Hüte, die mit verzierten Hutnadeln befestigt werden mussten.
Das 20. Jahrhundert brachte der Herrenmode eine Fülle neuer Anregungen, bevorzugt aus Amerika, wofür der Name Stetson steht. Neben Fedora, Trilby und Porkpie tritt jetzt elegante Werbegrafik und -fotografie. Die Damen schmückten ihre Köpfe nun gerne mit Kopfbedeckungen, deren Auszier bald in Verruf kam; die Verwendung von Federn exotischer Paradiesvögel, ja halber ausgestopfter Tiere, rief Naturschützer auf den Plan und so wurde dieses Material schon vor dem Ersten Weltkrieg verboten. Man behalf sich mit kunstvoll gefärbten Federn heimischer Nutztiere. Besonders reich ist das Bildmaterial natürlich für die Hutkreationen der Damen der ersten Jahrhunderthälfte – man sieht Filmschauspielerinnen, Mannequins und dazwischen auch die Bürgerin in Mantel und Hut, denn ohne Kopfbedeckungen ging man nicht auf die Straße. Das änderte sich in den 1960er Jahren und es bedurfte einer Prinzessin und Stilikone – Diana Spencer – und ihrer hocheleganten Hutmode, um zumindest ein kurzes erneutes Aufblühen der Hutmode für Damen anzuregen. Lang hat es nicht angehalten.
Den Abschluss des großartigen Gangs durch die jahrhundertelange Geschichte der Hutmode bilden fantasievolle Kreationen aus den Händen junger Modistinnen in leuchtenden Farben und ungewöhnlichen Formen; wenig überraschend sind die immer gleichen Materialien: Stoff, Strick, Stroh, Perlen, Pailletten, Federn.
Nicht übergangen werden sollen hier sehr aufschlussreiche, an bestimmten Stellen eingeschobene Kapitel über die Sammlungsgeschichte der Textilabteilung des Bayerischen Nationalmuseums und über die Berufsgeschichte des Hutmachers, der Herrenhüte herstellt, und der Putzmacherin oder Modistin, deren Kreationen Frauenköpfe schmücken; unnötig zu sagen, dass Werkzeuge, Materialien und Handwerkstechniken ausführlich beschrieben, abgebildet und durch Bildquellen erläutert werden. Ein Anhang versammelt Zeichnungen von Hauben- und Huttypen, ein Glossar sowie ein umfangreiches Literaturverzeichnis.
Mit dieser inhaltsreichen, einfühlsam gestalteten Publikation ist es Johannes Pietsch gelungen, anhand der reichen Museumssammlung einen fundierten, allgemein gültigen Überblick über die Entwicklung der Kopfbedeckungen für Frauen und Männer vom Spätmittelalter bis in die unmittelbare Gegenwart zu bieten. Dabei beschäftigt sich der Autor nicht nur mit Aspekten modischer Bewegungen und geschichtlicher Einflüsse, sondern erläutert ebenso die Zeichenhaftigkeit und den Umgang mit Kopfbedeckungen (vor wem wurde der Hut gezogen, vor wem nur angetippt). Die akribische Beschreibung der Hüte und Hauben zeugt von fundierten Kenntnissen der Anfertigungstechniken sowie der verwendeten Materialien und gibt anschauliche Einblicke in die Berufsbilder der Hersteller und Herstellerinnen.