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Thomas Nußbaumer/Raymond Ammann (Hg.)

Alpenstimmen. Beiträge zum Jodeln und mehrstimmigen Singen

(Schriften zur musikalischen Ethnologie 8), Innsbruck 2022, Universitätsverlag Wagner, 466 Seiten mit Abbildungen, ISBN 978-3-7030-6543-9


Rezensiert von Armin Griebel
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 21.09.2023

Der Band enthält Vorträge zweier Innsbrucker Tagungen, gehalten von Vertreterinnen und Vertretern aus Wissenschaft und Musikpraxis aus der Schweiz, Österreich und Italien zu den Themen: „Jodeln. Zur Geschichte und Praxis des registerwechselnden Singens“, 2016, und „Mehrstimmigkeit im Alpenraum“, 2018. Die Herausgeber sind Thomas Nußbaumer, zuständig für Volksmusikforschung am Innsbrucker Sitz der Universität Mozarteum Salzburg, und Raymond Ammann, Schweizer Musikethnologe, der an der Hochschule Luzern Musik und am Institut für Musikwissenschaft der Universität Innsbruck lehrt. Beide sind mit Forschungsprojekten zum Thema hervorgetreten, deren Ergebnisse mit einfließen.

Ton- und Filmbeispiele, vor allem Feldforschungsaufnahmen, können mithilfe der im Buch wiedergegebenen DOI-Links vom Internet-Repositorium der Universität Mozarteum Salzburg heruntergeladen werden, ebenso die digitale Fassung der Publikation als PDF, nützlich auch um mittels Stichwortsuche Querverbindungen zwischen den Beiträgen herzustellen. Ohne diese PDF wäre die Benutzung der vielen Beispiele aus dem Internet (220 Web-Adressen!) schlicht unpraktikabel. Wie sinnvoll ein gedrucktes Buch da noch ist, ist eine andere Frage.

Der Titel „Alpenstimmen“ evoziert zweihundert Jahre alte Klischeevorstellungen, nach welchen die registerwechselnden Vokalisen-Praktiken Ausdruck der Alpennatur sind. Neuere Forschungen relativieren dies. Selbst das Wort „Jodeln“ scheint nicht alpinen Ursprungs. Hermann Fritz bringt Belege, die wahrscheinlich machen, dass die Bezeichnung von Wiener Theaterleuten stammt, geprägt für den registerwechselnden Gesang von Tiroler Figuren. Und er fragt, ob nicht Repertoire und Musikstil des „urbanen Bühnenjodelns“ (123) von da zu den Alpenbewohnern gelangt seien (121). Die Neubewertung historischer Quellen ist Gegenstand mehrerer Beiträge. Andrea Kammermann und Yannick Wey untersuchen, ob es wechselseitige Einflüsse zwischen Jodel- und Alphornmusik gab, wie es Quellen der Zeit vor 1800 und die „Instrumentalhypothese“ der Vergleichenden Musikwissenschaft suggerieren. Eva Maria Hois unternimmt den Versuch, Beschreibungen von Reiseschriftstellern und Musikern gleichzeitigen Melodieaufzeichnungen zuzuordnen. Sie konstatiert für die Steiermark Entwicklungen im 19. Jahrhundert weg von der gejodelten Ländlermelodik, welche die enge Verwandtschaft des Jodlers mit der Tanzmusik anzeigt, hin zu einem in Melodik und Stimmführung eigenständigen Genre im 20. Jahrhundert (240). Evelyn Fink-Mennel vergleicht die Notationen publizierter Jodlersammlungen mit den als Feldforscherin erlebten Gepflogenheiten der nicht notengebundenen Singpraxis. Ihre Hypothese, bezogen auf Josef Pommers um 1900 publizierte Sammlungen: Die Aufzeichnungen sind „komprimierte Darstellungen von Prozessabläufen“ (140). Pommer war die Darstellung eines „richtigen“ Stimmsatzes offenbar wichtiger, als die Abbildung der realen Singpraxis, wo dem Einsatz der Ansängerstimme eine Orientierungsphase und ein gestaffelter Einsatz der Stimmen folgt. Als engagierte Musikvermittlerin möchte Fink-Mennel, dass das Cross-Culture-Publikum ihrer Jodelkurse nicht Noten reproduziert, sondern Jodeln als „improvisationsbasiertes Handlungs- und Interaktionsmodell“ verstehen und anwenden lernt (157). Es ist ein Publikum, das „im Selber-Tun aktiv teilhaben will am Wissen zu traditionellen Musikpraktiken“ (135). Eva C. Banholzers Beitrag basiert auf mehrjährigen Feldforschungen zu Biografie, Repertoire und Gesangsstil von Grete Steiner und Heli Gebauer. Das am Dachstein in der Steiermark beheimatete Duo fand Anschluss an die Szene der Neuen Volksmusik (Duo Attwenger, Hubert von Goisern u. a.), wo es mit seinen „bewusst ungeprobten Bühnenauftritten“ (279) als authentisch wahrgenommen und zum Vorbild der neu entstehenden „Jodel-Communities“ wurde (280). Hörgenuss und Erkenntnisgewinn vermitteln Banholzers in die feinsten Details führenden Analysen, die man an Tonbeispiel und Transkription nachzuvollziehen kann. Max Peter Baumann, der Grandseigneur der neueren Jodelforschung, hat 1976 mit seiner Untersuchung zum Funktionswandel des Jodels ein methodisches Konzept der Ethnomusikologie vorgelegt und den neuen Forschungsansatz am Schweizer Beispiel erprobt. Seither hat er das Thema nicht aus dem Blick verloren. Sein erster Beitrag, ein Überblick zu Terminologie, Geschichte und Narrativen des Jodelns, berücksichtigt Entwicklungen der letzten 50 Jahre und analysiert aktuelle Phänomene im interkulturellen Kontext. Auf Langzeitbeobachtungen basiert auch sein zweiter Beitrag zu den jodelähnlichen Lobe-Rufen und zum Betruf (Alpsegen). Letzterer, seit 2011 als immaterielles Kulturerbe nach der UNESCO-Konvention auf der Liste der „Lebendigen Traditionen der Schweiz“, hilft noch im 21. Jahrhundert Berglern, den harten Alltag zu bestehen (381). Gleichzeitig erscheint der Segensbrauch im urbanen Kontext „als Musik der Erinnerung und des Heimwehs inmitten einer verschwindenden Älpler-Welt“ (368). Brigitte Bachmann-Geiser und Thomas Nußbaumer berichten von Feldforschungen bei den „Old Order Amish“ und den „Swiss-Amish“, mennonitischen Auswanderergruppen in den USA. Sie versuchen zu ergründen, welche Bedeutung die wortlosen Jodler und Jodlerlieder in der religiös orientierten amischen Kultur haben. Als musikalisches Symbol der „Swissness“ verstärkt dieses Liedrepertoire nach Meinung von Nußbaumer die Idee der „separation from the world“ (358). Sie dienen der Erleichterung der Arbeit, der Erheiterung und dem Zusammenhalt der Familien, meint Bachmann-Geiser (325). Ihr zweiter Beitrag „Zur Entwicklung der Mehrstimmigkeit in der Schweizer Volksmusik“ benennt sozialhistorische Bedingungen instrumentaler Mehrstimmigkeit. Besondere Schweizer Aspekte behandeln Andrea Kammermann (Mehrstimmigkeit im Naturjodel verstärkt Emotionen), Yannick Wey („Gradhäbe“: Mehrstimmige Begleitung im Appenzeller Naturjodel) und Ammann, Kammermann und Wey (Die Kunst, einen Naturjodel zu memorieren) in einem gemeinsamen Beitrag. Elmar Walter, damals Leiter der Abteilung Volksmusik beim Bayerischen Landesverein für Heimatpflege, muss feststellen, dass das „Alpenländische Jodeln“, das vor bald 100 Jahren durch die Kiem-Pauli-Volksmusikpflege in Bayern in Mode kam, ein Repertoire verbreitet, das fast durchweg österreichischen Sammlungen entstammt. Dagegen singt man im Nordosten Altbayerns (wieder) die „Ari“. Zur Ari, wie überhaupt zu älteren bayerischen Jodel-Überlieferungen fehlen Forschungen. Sie dürfte wie das Jodeln überhaupt dem Bedürfnis nach klanglicher Darstellung entsprungen sein (211) und ist im Rahmen der vorliegenden Publikation die einzige nicht in den Alpen verortete Singform. Ersatzweise referiert Walter Beobachtungen und Aufzeichnungen seiner Kollegin Dagmar Held für das Allgäu (213) und seines Amtsvorgängers, Erich Sepp. Letzterer sieht sich mit regelmäßigen Jodelkursen und der seit 2005 laufenden Seminarreihe „Jodler singen“ als Mitinitiator des (urbanen) Jodelbooms in Bayern (217). Vier italienische Beiträge sind in deutscher Übertragung abgedruckt, übersetzt von der Musikwissenschaftlerin Vanessa Maria Carlone. Das Thema „Trallalero in Genua“ behandeln Giuliano d’Angiolini und Mauro Balma. Dessen Mehrstimmigkeit mit fünf Stimmen, eine erklingt im Falsett, eine zweite bewegt sich kontrapunktisch und imitiert ein Begleit-Instrument (181), entwickelte sich Ende des 19. Jahrhunderts. Der Trallalero ist aus dem „canto d’osteria“ (Wirtshausgesang) entstanden. Den Einfluss städtischer Genres (Oper, Salonmusik) auf das Repertoire kann man in den Tonbeispielen von Mauro Balma nachverfolgen, so im Vergleich einer spanischen Romanze, gesungen vom Schallplatten-Tenor Enrico Caruso, mit ihrer Adaption im Trallalero-Stil. Im Aostatal, so Carlo A. Rossi, sind die mündlichen Gesangstraditionen verloren gegangen. Auch das als Kirchengesang mündlich überlieferte Faux-Bourdon-Singen (287).

Der Musikethnologe Renato Morelli, der für den Sender RAI ethnografische Filme realisiert hat, stellt seine filmische Dokumentation der traditionellen Gesangspraxis „tìir“ im Bergdorf Premana vor. Sie erklingt nur bei bestimmten kirchlichen Festen (Dreikönig, Fronleichnam, Almfest „Past“). Alle Anwesenden nehmen am Gesang teil. Dabei entsteht eine in der Stimmenzahl offene Mehrstimmigkeit (447). Der Film „Voci alte – Tre giorni a Premana“ (auch im Internet) vermittelt einen Eindruck von Gesangsstil und Interaktion der Sängerinnen und Sänger. Die erwähnten Untersuchungen gehen von regionalen oder nationalen Beschreibungen aus. Europäisch ausgerichtet ist dagegen das seit 2003 bestehende Forschungszentrum für europäische Mehrstimmigkeit (Research Centre for European Multipart Music, abgekürzt EMM), über dessen Arbeit der Mitbegründer Ardian Ahmedaja berichtet. Es ist an der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien angesiedelt und versteht sich als Netzwerk seiner Mitglieder, die meist Spezialisten mit Feldforschungserfahrung sind. Kommuniziert und publiziert wird auf Englisch (63). Ahmedaja plädiert für grenzübergreifende Beobachtungen, die geeignet sind, in lokalen Musikpraktiken „sowohl das jeweilige kulturelle Selbstverständnis jeder Gemeinschaft als auch die Vielschichtigkeit ihrer gegenseitigen Beziehungen“ wahrzunehmen. Ein Beispiel: Mehrstimmige Gesangstraditionen im synagogalen Gebrauch der Juden auf Korfu (54).

Die 19 Beiträge bieten unterschiedliche Zugänge und Perspektiven, in der Mehrzahl zum Thema Jodeln. Der Band leistet einen guten Überblick zum Stand der Forschung. Zu empfehlen ist der Sammelband, über das Fachpublikum hinaus, den Mitgliedern der traditionellen wie auch Anhängern der „Neuen Jodel-Szene“, die sich mit den gängigen Narrativen nicht begnügen.