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Aktuelle Rezensionen


Loreen Dalski/Kirsten Flöter/Lisa Keil/Kathrin Lohse/Lucas Sand/Annabelle Schülein (Hg.)

Optimierung des Selbst. Konzepte, Darstellungen und Praktiken

(Edition Kulturwissenschaft 269), Bielefeld 2022, transcript, 222 Seiten mit Abbildungen, ISBN 978-3-8376-6134-7


Rezensiert von Carolin Pfeuffer
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 07.09.2023

Die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Thema Selbstoptimierung hat Konjunktur. So sind in den letzten Jahren zahlreiche Abhandlungen erschienen, die das Phänomen in den Fokus nehmen. Die Mehrzahl der Darstellungen zeichnet sich durch eine kritische Sichtweise auf Selbstoptimierung aus und führt als Erklärungsversuch häufig neoliberalen Gesellschaften inhärente Steigerungsimperative und -zwänge an (siehe dazu beispielsweise Ulrich Bröckling 2007, Alain Ehrenberg 2015). Mit „Optimierung des Selbst. Konzepte, Darstellungen und Praktiken“ ist jüngst ein Sammelband erschienen, der eine differenziertere Perspektive einnimmt – ganz im Sinne einer kulturwissenschaftlichen Forschungstradition. Er zielt darauf ab, die „Komplexität und Vielseitigkeit des kulturellen Phänomens Selbstoptimierung“ (18) zu ermitteln und vermag aufgrund seines weiten Blicks neue Impulse im gegenwärtigen Selbstoptimierungsdiskurs zu setzen.

Die Publikation ist interdisziplinär angelegt und versammelt zehn Beiträge aus der Empirischen Kulturwissenschaft, Evangelischen Theologie, Neueren Literaturwissenschaft, Soziologie, Rechtswissenschaft, Kunstwissenschaft sowie den Gender Studies. Sie ist das Resultat der Tagung „Optimierung des Selbst“, die 2021 durch das Graduiertenkolleg „Ethnographien des Selbst in der Gegenwart“ der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz ausgerichtet wurde. Das Werk ist übersichtlich in zwei Kapitel gegliedert; die Aufsätze sind von unterschiedlichen Herangehensweisen an das Phänomen der Selbstoptimierung gekennzeichnet, die Autorinnen und Autoren arbeiten sowohl mit gesamtgesellschaftlichen Ansätzen, empirisch-qualitativen Studien als auch der Analyse von literarischen Texten.

In ihrer prägnanten Einleitung nähern sich Herausgeberinnen und Herausgeber Loreen Dalski, Kirsten Flöter, Lisa Keil, Kathrin Lohse, Lucas Sand und Annabelle Schülein dem komplexen Phänomen der Selbstoptimierung an, indem sie zunächst auf den Terminus der Subjektoptimierung rekurrieren, der bis ins 20. Jahrhundert hinein für das Phänomen geläufig war, und anschließend auch auf den etymologischen Ursprung des Begriffs der Optimierung eingehen. Sie interpretieren, der Intention des Bandes entsprechend, Selbstoptimierung im weiten Sinne und verstehen darunter „einen Prozess einer relativ kontinuierlichen Entwicklung eines Individuums hin zu einem besseren Zustand“ (11). Damit orientieren sie sich an der Definition von Dagmar Fenner, die darunter „alle von Menschen je ins Auge gefassten Verbesserungen mit allen möglichen Methoden, also sowohl neuste Technologien als auch traditionelle und technikfreie Praktiken wie Bildung, Meditation und Training“ (11, zitiert nach Fenner: Selbstoptimierung und Enhancement, 2019) fasst. Ganz essentiell erscheint den Autorinnen und Autoren, dass Optimierung nicht immer mit einer fortlaufenden Steigerungslogik einhergehen muss. Von der These ausgehend, dass sich Praktiken der Selbstoptimierung stets in einem kulturellen Kontext vollziehen, nehmen sie eine kohärente Aufsplittung in Gegenstände, Techniken und Methoden der Selbstoptimierung vor. Die Einführung schließt mit einer Reflexion des aktuellen (wissenschaftlichen) Diskurses, indem aufgezeigt wird, dass Selbstoptimierung „nicht allein als hegemonialer Zwang“ (16) verstanden, sondern auch als Option, Chance, Privileg, als Ausdruck von Selbstverwirklichung und Autonomie begriffen werden kann.

Die folgenden Beiträge befassen sich mit den konzeptionellen Bestimmungen und Wertungsperspektiven von Selbstoptimierung. In ihrem wissenssoziologischen Aufsatz „Vom guten Leben in einer Bildergesellschaft. Selbstoptimierung und Selbstvermessung als Kennzeichen moderner Gesellschaften“ analysiert Debora Frommeld anhand des Artefakts der Personenwaage, wie sich beide Phänomene im Alltag etabliert haben. Sie zeigt Selbstvermessung am Beispiel der Quantified-Self-Bewegung auf und identifiziert diese als Form der Selbstoptimierung. Anschaulich ordnet sie derartige Praktiken in Prozesse der Technisierung/Ökonomisierung, Individualisierung, Normalisierung, Medikalisierung und Ästhetisierung des Alltags ein. Individuen könnten sich Technik und Techniken von Selbstvermessung im 21. Jahrhundert kaum entziehen, Messinstrumente wie die (smarte) Personenwaage bis hin zu Tracking-Apps seien zu einem machtvollen Werkzeug geworden, die gesammelten Daten seien von hohem ökonomischem Interesse für diverse Dienstleister. Untrennbar mit der Vermessung verbunden seien Praktiken des Vergleichens, die sich in der digitalen Gesellschaft des 21. Jahrhunderts in die sozialen Medien und das Internet verlagert hätten, wofür Frommeld den Begriff der „Bildergesellschaft“ (30, 40, 42, 46) heranzieht.

Ebenfalls mit der Bewegung des Quantified Self (QS) befasst sich der Kunstwissenschaftler Jörg Scheller. Der wenig konzise und auf den ersten Blick einige Fragen aufwerfende Titel verweist bereits darauf, welche Verbindungslinien der Autor entwirft und welche Methodik er gewählt hat. Mittels einer Kombination aus einer Kritik an der gegenwärtigen Kritik der zahlenorientierten Selbstvermessung, einem Ansatz aus Empirie – der Autor ist nebenberuflich Fitnesstrainer und Kraftsportler – und akademischer Distanz sowie essayistischen Sequenzen interessiert sich Scheller für die Janusköpfigkeit der Selbstvermessung. Dabei vertritt er die These, dass „die Optimierungspraktiken der modernen Krämerseele ein Residuum des Religiösen“ (59) seien. Anhand von Heavy Metal, dem Kirchenvater Augustinus, gotischen Kathedralen und Kraftsport kann der Autor aufzeigen, dass Optimierungstendenzen des QS Elemente des Mythos, der Ekstase, der Religion und der Transzendenz enthalten, womit er einen Beitrag zu bisher unberücksichtigten Erscheinungen der Optimierung leistet. Aufgrund des Fremdwort-lastigen Schreibstils fällt es mitunter jedoch schwer, Schellers Ausführungen direkt beim ersten Lesen nachzuvollziehen.

Der in seiner Argumentation stringente Beitrag von Lucas Sand knüpft an die religiöse Dimension von Selbstoptimierung an und stellt aus theologischer Perspektive dar, wie ein angemessener Umgang mit Selbstoptimierung jenseits negativer Begleiterscheinungen aussehen kann. Diesbezüglich bringt Sand das Leitwort der „Gnade“ ins Spiel, die sich als göttliche Barmherzigkeit manifestiere. Göttliche Gnade, die jedem Menschen zuteilwerde, impliziere – in die Lebensrealität übersetzt – ein Angenommensein, das als „Beweis der eigenen Wertigkeit“ (81) verstanden werden könne, was dazu führe, dass der Mensch sich ganz mit seinen Schwächen und Stärken akzeptieren könne. Diese Perspektive ziele jedoch nicht auf einen Zustand des Verharrens ab. Am Beispiel des „Gleichnisses von den anvertrauten Talenten“ legt Sand dar, dass sich im Evangelium eine Botschaft zum effektiven Einsatz und zur Vermehrung der dem Menschen innewohnenden Fähigkeiten und Talente verberge – sozusagen ein implizierter Optimierungsauftrag.

Mit Leitbildern operiert die Rechtwissenschaftlerin Johanna Kästel in „Selbstoptimierung und Recht“. Sie untersucht unter anderem, wie das Recht Selbstoptimierungsbestrebungen begegnet. Als „leitbildbasierte Stichproben“ zieht sie das Beispiel des „schlanken Staats“ im Kontext des verwaltungspolitischen Reformdiskurses und des „humanen Tods“ in der Sterbehilfedebatte heran. Hinsichtlich des Urteils des Bundesverfassungsgerichts zur geschäftsmäßigen Sterbehilfe aus dem Jahr 2020 kommt sie zu dem Schluss, dass das Recht in dieser konfliktbehafteten Frage einen „Entfaltungsraum autonomer Selbstbestimmung“ (100, nach BVerfG 153 Suizidhilfe, 2020) für den Einzelnen eröffnet, was einer gewissen Wertungsoffenheit entspricht.

Der zweite Teil des Bandes setzt sich mit Praktiken und Inszenierungen von Selbstoptimierung auseinander. In „Selbstoptimierung und Navigational Capacity“ konstatiert der Kulturanthropologe Stefan Groth, dass es bei Optimierungsbestrebungen zunächst einmal einer Fähigkeit bedarf, Steigerungspotenziale überhaupt zu erkennen, um diese letztlich auch ausschöpfen zu können – Groth wählt dafür den Begriff „Navigational Capacity“. Diesen Zusammenhang betrachtet er am Beispiel des breitensportlichen Rennradfahrens und legt dar, dass für eine „Optimierung der Optimierung“ (113) eine Aktivierung von Wissensregimen und -praktiken sowie eine Bündelung von Ressourcen erforderlich sind.

Kirsten Flöters flüssig lesbare Darstellung zum Gebrauch von Heilsteinen zur Selbstoptimierung und als therapeutische Alltagspraktik greift einen im gegenwärtigen Diskurs bereits untersuchten Gegenstandsbereich auf. Auf Basis eines Handbuchs zur Steinheilkunde und eines qualitativen Interviews gelingt es Flöter die unterschiedlichen Anwendungsbereiche der Steine nachvollziehbar herauszuarbeiten. In ihrem Fallbeispiel wird dem Heilsteingebrauch eine ganzheitliche Wirkung zugeschrieben, da der Akteur die Steine nicht nur zu Optimierungszwecken, sondern auch unterstützend zur Heilung körperlicher Gebrechen einsetzt. Sie schließt mit dem Plädoyer, sich ungewöhnlichen Sichtweisen auf das Feld der Selbstoptimierung nicht zu verschließen.

Die nachfolgenden vier Beiträge nähern sich dem Thema literaturwissenschaftlich an. Johanna Tönsing untersucht literarische Texte im Hinblick auf das Wissen über Selbstoptimierung und nimmt dabei auch eine genderspezifische Perspektive ein. Anhand mehrerer Beispiele kann sie nachweisen, dass das Phänomen in der Literatur sehr vielschichtig behandelt wird: So stellt sie fest, dass Selbstoptimierung unter anderem im Sinne der Gouvernementalitätsstudien als Produkt des Neoliberalismus, als Ausdruck von Selbstsorge oder als Kompensationsstrategie interpretiert wird. Allgemein gesprochen habe sich Selbstoptimierung in literarischen Texten vermehrt „in den Bereich des vermeintlich Normalen“ (150) jenseits eines pathologischen Verständnisses verschoben.

Mit „Ambiguität von Testosteron“ und der Fluidität von Geschlecht setzt sich Lisa Keil  auseinander. Dabei beleuchtet sie am Beispiel der südamerikanischen queeren Läuferin Caster Semenya den Diskurs um die künstliche Testosteronsenkung im Sport und legt dar, dass Testosteron kein eindeutiges Indiz für Männlichkeit und Leistungssteigerung beziehungsweise Optimierung ist. Anhand einer Analyse des Romans „Außer sich“ von Sasha Marianna Salzmann erläutert Keil eingängig, wie die darin beschriebene Testosteronpraktik der Hauptfigur ebenfalls von Ambiguität geprägt ist.

Im nächsten Beitrag widmet sich Ralph Köhnen den digitalen Tagebüchern des Schriftstellers Rainald Goetz. In dessen Blogeinträgen vernimmt Köhnen nicht nur inhaltliche, sondern findet in den Aufschreibesystemen von Goetz auch formale Optimierungsgesten. In derartigen Ich-Erzählungen verwandle sich die Sorge um sich selbst in einen Geltungsdrang nach außen, „der in der medialen Existenz befriedigt wird“ (191). Die formale Komponente von Selbstoptimierung vertieft Martina Wagner-Engelhaaf mit einer Abhandlung über Stil, die den Band beschließt. Mittels Interpretationen von Johann Wolfgang von Goethes Autobiografie „Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit“, Annie Ernaux autobiografischer Erzählung „Die Jahre“ und Leif Randts Roman „Allegro Pastell“ kann sie eine wechselseitige Beziehung von Stil und Selbstoptimierung dokumentieren und das Zusammenspiel von Lebens- und Schreibstil in den ausgewählten Werken sichtbar machen.

Alles in allem ist der Band als ein gelungener Beitrag zum gegenwärtigen Optimierungsdiskurs zu bewerten. Die Stärke der Publikation liegt vor allem darin, dass das Phänomen der Selbstoptimierung mit seinen Ambivalenzen, Ambiguitäten und Abstraktionen abgebildet wird, ohne dabei in einen einseitigen Bewertungsmodus desselben zu verfallen. Auch das Einbringen von qualitativen Aspekten der Selbstoptimierung ist lobenswert hervorzuheben. Dies lässt ein wenig über formale Schwächen hinwegsehen, sowie darüber, dass an einigen Stellen aufgrund des Rückgriffs auf Fachsprache und Fremdwörter sowie teils verschalteten Sätzen die Publikation für Laien nicht ganz einfach zu lesen sein dürfte.