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Kristina Huttenlocher

Menschen in der Fabrik. Industriefotografie in Konsumgüterfirmen 1895 bis 1970. Appel, Bahlsen, Sprengel, König & Ebhardt, Pelikan, Continental und andere

Berlin 2022, De Gruyter Oldenbourg, 186 Seiten mit Abbildungen, ISBN 978-3-11-075823-8


Rezensiert von Ulrich Hägele
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 31.08.2023

Mit Zigarre und Zylinder posiert Isambard Kingdom Brunel (1806–1859) vor einer Wand aus riesigen Ankerketten. Wir schreiben das Jahr 1857. Fotograf Robert Howlett präsentiert den Chefingenieur der Great Eastern – damals der modernste und größte Dampfer der Welt – als Dominator der britischen Schwerindustrie. Die ikonische Fotografie spiegelt die zeitgenössische Huldigung wider – an die vermeintlich grenzenlosen Möglichkeiten der industriellen Fertigung, deren Geschicke allein der Mensch zu lenken im Stande sei.

Die Industriefotografie hatte seit ihren Anfängen in den 1850er Jahren zwei Funktionen: Das betreffende Produkt zu dokumentieren und damit zu werben – vom kleinsten Gegenstand bis zur Ankerkette oder Lokomotive. Außerdem stehen immer wieder die Menschen – Arbeiter, Angestellte, Chefs – sowie die Produktionsstätten im Fokus.

Kristina Huttenlocher hat mit „Menschen in der Fabrik“ einen hervorragend recherchierten Bildband zur Industriefotografie zwischen 1895 und 1970 vorgelegt. In 22 Kapiteln fächert sie ihre Geschichte am Beispiel von Bahlsen, Continental, Pelikan, Appel, Sprengel und anderen Firmen vom Kaiserreich bis in die Jahre nach 1968 auf. Die frühen Industriefotografen hatten ziemliche Schwierigkeiten: Umständliche Kameratechnik sowie schlechte Lichtverhältnisse in den Fabriken erschwerten die Arbeit. Außerdem hatte man Angst vor Industriespionage. Die Fabrikanten gaben ihre Aufträge weiterhin lieber an das grafische Gewerbe, denn mit der technisch und ästhetisch ausgefeilten Lithografie ließen sich qualitativ hochwertige Illustrationen in allen möglichen Formaten und Farben fertigen. Die Industriefotografie begünstigte schließlich der seit der Jahrhundertwende einsetzende Prozess der Qualitätssicherung (Kapitel 5). Hierzu boten sich in der „Vorstellung der Fabrikationsräume in einem Fotoband“ (11) glänzende Möglichkeiten, der Kundschaft die Ideale der betreffenden Firma näher zu bringen. Die Autorin stellte sich die Aufgabe, „zu zeigen, wie sich Motive und Bildkonzepte abhängig vom unternehmerischen Führungsstil und den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen unterschieden und entwickelten“ (11). Die Meinungen der Expertinnen und Experten zur Industriefotografie (Kapitel 2) sind heterogen. Sozialkritisch gesehen „beutet der Unternehmer die Arbeiter nicht nur aus, er eignet sich obendrein ihr Bild am Arbeitsplatz an“ (13). Eine Darstellung von industrieller Wirklichkeit sei nicht möglich, da die Auftraggeber stets Wert auf geschönte Bilder legten. Den kapitalistisch motivierten Bossen ginge es nicht um realgetreue Dokumentation von Arbeit und Arbeitsplatz. Ihre Intention: Die Firma in das beste Licht zu rücken. Insbesondere in der frühen Industriefotografie blieb der Mensch inmitten einer monumentalen Maschinenwelt eher Statist denn Akteur – es ging um die Visualisierung von Disziplin, Hierarchie, Kontrolle und Macht. Allerdings sei bei den Protagonistinnen und Protagonisten der Neuen Fotografie wie etwa Lucia Moholy, Emil Otto Hoppé, Lewis Hine, August Sander und Albert Renger-Patzsch auch ein künstlerischer Zauber spürbar. Paul Wolff etwa entwarf um 1930 für die Frankfurter Adlerwerke – eine damals namhafte Automobilfirma – einen Bildband mit Fotomontagen, im Verbund mit Bauhaus-Typografie und prägnanten Texten, als ein frühes Gesamtkunstwerk der PR (Kapitel 15). In ähnlich moderner Aufmachung entstanden seit den 1920er Jahren Werkszeitschriften, Kataloge, Faltblätter und Broschüren (Kapitel 16).

Die Chefs selbst (Kapitel 3) sahen sich als tatkräftige Patriarchen und ließen sich zunächst von den Fotografen im Atelier zwischen großbürgerlichen Utensilien ablichten. Beispiel Ehepaar Sprengel (Schokolade) in einer Fotografie aus den 1850er Jahren: „In der würdevollen Haltung des erfolgreichen Unternehmers und seiner hart arbeitenden Ehefrau Wilhelmine ist jegliche Spur der Alltagsarbeit getilgt.“ (19) Es gab allerdings auch das Gruppenbild mit dem Inhaber vorne im Zentrum, wie es in anderen gesellschaftlichen Feldern wie Schule, Universität und Verein zum gängigen Repertoire der Fotografinnen und Fotografen zählte. Andere Bilder zeigen das Oberhaupt an seinem zumeist ausladenden Schreibtisch sitzend in Aktion zwischen seinen Mitarbeitern, auch der Firmensprössling ist als Protokollant bereits zu sehen. „So wird der Nachfolger eingeführt und die Familienkontinuität optisch hervorgehoben.“ (22) Mit Bildern dieser Art ließen die Fabrikanten häufig Alben anfertigen – als Präsent für verdiente Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu Jubiläen und runden Geburtstagen.

Zu den eindrucksvollsten Industriefotografien zählen die Maschinenbilder (Kapitel 4). Ohne die riesenhaft anmutenden Dampfkolosse mit ihren tonnenschweren Schwungrädern und Kolben, den genieteten Eisenkesseln und Transmissionen wären Industrialisierung und Massenfabrikation nicht möglich gewesen. „Fiel die Dampfmaschine aus, standen alle Maschinen still.“ (32) Im 20. Jahrhundert traten an ihre Stelle gewaltige Dieselmotoren. Ihrer universalen Bedeutung entsprechend sehen wir die Kraftwerke „wie Schaustücke“ präsentiert „in eine[r] prächtig ausgestatteten Halle“ (31), dekoriert mit kunstvoll verlegten Bodenfließen, lichtdurchfluteten Gussfenstern und Marmorwänden, an denen sich allerlei Hebel und Instrumente aus Messing befanden. Hochwertige Fotografien und ihre Reproduktion in Firmenschriften, Alben und Illustrierten erhoben den Maschinensaal „zum Attribut einer ökonomisch erfolgreichen Firma“ (34).

Wo sich Maschinen drehen, arbeiten Menschen – die Belegschaft. Ein Blick in die Fabrikation von Pralinen und Süßigkeiten aus Marzipan bei Sprengel in Hannover: Im „Marzipanmodelliersaal“ (42) sitzen oder stehen die Beschäftigten um Tische herum, die Frauen tragen Schützen, die Männer eine Art Overall. Man fühlt sich wie im Schlaraffenland. Es gibt eine Bonbonabteilung mit großen, schräg befestigten Kupferkesseln. Dort steht ein Mann vor einem Röstapparat für Kakaobohnen. Bei Pelikan kocht die Tinte in mannshohen Kesseln. Andernorts gibt es Kontoren, Registraturen und eine Maschine für Queengebäck: „Die Firma Bahlsen suchte mit englischen Namen für ihre ‚Cakes‘ die Gunst des deutschen Publikums zu gewinnen.“ (50)

Große, mittlere und kleinere Betriebe versuchten, möglichst viele weibliche Arbeitskräfte anzustellen (Kapitel 6, 7), „weil Frauen nur etwa die Hälfte der männlichen Hilfsarbeiter verdienten“ (55). Ihre tägliche Arbeitszeit konnte 1910 laut Gewerbeordnung bis zu dreizehn Stunden betragen. Die Industriebilder zeigen Frauen vorwiegend an den Schreibmaschinen im Kontor sowie in der Produktion beim Entgräten, Stanzen, Reiben, Mahlen, Abfüllen, Etikettieren und Verpacken. Allerdings arbeiteten Frauen „auch an großen automatischen Maschinen vor allem für das Einlegen und Entnehmen von Zwischenprodukten“ (64).

Um bei einem zeitweiligen Arbeitskräftemangel neue Arbeiterinnen und Arbeiter für die Firma zu interessieren, stellten die Firmen moderne technische und soziale Errungenschaften heraus (Kapitel 8, 10). Bahlsen dokumentierte die fortschreitende Automatisierung am Fließband wie auch Gitter als Vorkehrungen gegen Unfälle am Arbeitsplatz und Not-Aus-Knöpfe, für die ein Arbeiter zuständig war. In Broschüren und Firmenalben zu sehen waren ebenso Bilder von Kantinen, Kaffeeküchen und großzügig angelegten Baderäumen.

Der Feierabend (Kapitel 9) zählt wie der Transport (Kapitel 11) eher zu den untergeordneten Themen im Kanon der Industriefotografie. Dabei waren bereits in einem der ersten Filme der Gebrüder Lumière Arbeiterinnen und Arbeiter dokumentiert, wie sie die gleichnamige Fabrik an einem Sommertag im Jahr 1895 verlassen. In einem fotografischen Beispiel stehen Männer und Frauen in zeittypischer Kleidung – die Frauen überwiegend mit hellen Schürzen, die Männer mit Anzug und Hut – vor dem Werkstor von Günther Wagner. Das Ambiente mit seinen Säulchen, Erkern und Türmen wirkt beschaulich. Lediglich der Kamin im Hintergrund verweist auf das Industrieareal. Die firmeneigenen Lastkutschen, Kraftwagen und LKWs dürften vorwiegend für die interne Kommunikation mit dem Fotoapparat festgehalten worden sein. Allerdings besaßen die Fahrzeuge mehr und mehr eine werbetechnische Funktion. Extra dafür entworfene und auf die Seitenwände der Lastkraftwagen applizierte Namenszüge und Werbesprüche sollten Markenzeichen, Firma oder Produkte in der urbanen Öffentlichkeit bekannt machen.

Eine weit stärkere Bedeutung in Sachen Öffentlichkeitsarbeit kam den fotografischen Abbildungen der überwiegend monumental gehaltenen Produktionsstätten (Kapitel 12) sowie den Innenaufnahmen der Fabriken (Kapitel 13) zu. Die Kathedralen des Fortschritts wurden zunächst noch vielfach zeichnerisch-idealisiert in Luftperspektive gezeigt. Parallel entwickelte sich aber mit den modernen Kamera- und Objektivtechniken auch eine neue Sparte des Lichtbilds – die Architekturfotografie. In den 1920er Jahren kamen künstlerisch anmutende Nachtaufnahmen langgezogener Fabrikkomplexe in Mode, aber auch Innenaufnahmen kühn geschwungener Treppenhäuser. Als einen Pionier stellt die Autorin Emil Otto Hoppé (1878–1972) heraus. Dessen Fotos „gehören zu jenen ästhetisch komponierten Detailansichten des Maschinenzeitalters, die Menschen nur schemenhaft, oft bewusst unscharf, zeigen, während die Maschinen gestochen scharf sind“ (110). Ein weiterer Vertreter der modernen Industriefotografie war der Grafiker und Fotograf Willi Roerts. Dessen Jubiläumsband zum 50. Geburtstag des Reifenwerks Continental (Kapitel 14) zeichnet sich durch seine Fokussierung auf den Menschen aus. Der wiederum gelangte seit Ende der 1920er Jahre ins Zentrum des Interesses – produktionstechnisch, in der Tendenz zur Rationalisierung, und auch fotokünstlerisch (Kapitel 15, 16). Die Hauptakteure in Deutschland: August Sander, Emil Otto Hoppé, Willi Roerts und Paul Wolff.

Weitere Kapitel thematisieren die Zeit des Nationalsozialismus (Kapitel 17), des Krieges (Kapitel 18) sowie die unmittelbare Nachkriegszeit (Kapitel 19). Dabei entsteht der Eindruck, die fotografische Dokumentation habe ihre einstige Bedeutung verloren. Als sei sie aus einem amateurhaften Blickwinkel entstanden. Wahrscheinlich stand hier die Dokumentation des durch Bomben zerstörten Betriebs und eben nicht der Werbeaspekt im Vordergrund. Auch in den übrigen Kapiteln (20–22) finden sich visuelle und ästhetische Parallelen zur Hochzeit der Industriefotografie in den 1920er Jahren.

Mit „Menschen in der Fabrik“ liefert Kristina Huttenlocher hervorragende Einblicke in die Industriefotografie. Die Texte zu den Kapiteln sind wohltuend knapp – immer stehen dabei die Bilder als Quellen im Vordergrund. Der beeindruckende Anhang mit Archiven, Firmenschriften und Literatur ist umfassend. Der Band ist ansprechend gestaltet, und auch die Druckqualität der Schwarzweißabbildungen lässt keine Wünsche offen. An manchen Stellen wären noch etwas mehr Vergleichsbeispiele aus dem nationalen und internationalen Kontext wünschenswert gewesen. Ein gelungenes Buch – nicht nur für jene, die sich mit der Geschichte der Industriefotografie beschäftigen.