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Sebastian Thalheim

8 mm DDR. Familienfilme als Alltagpraxis, Konsumgut und Erinnerungsmedium

(Forschungen zur DDR-Gesellschaft), Berlin 2021, Christoph Links, 352 Seiten mit Abbildungen, Tafeln und Diagrammen, ISBN 978-3-96289-120-6


Rezensiert von Ulrich Hägele
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 14.09.2023

Eine meiner schmerzlichen Erfahrungen geht in die 1980er Jahre zurück: Meine Eltern hatten sich getrennt, und mein Vater nahm unsere Familienfilme mit in seine neue Wohnung – zwei Super-8-Rollen mit jeweils 45 Minuten. Nach dem Tod meines Vaters ein paar Jahre später waren die Filme nicht mehr vorhanden. Sie zeigten Konfirmation, Familienfeiern und Urlaube an der Adria aus den späten 1960er und frühen 1970er Jahren – alles weg. Fotografien und Filme sind Speichermedien für Erinnerung. Wer einmal einen Super-8-Filmabend veranstaltet hat, der weiß, wie lebhaft die Anteilnahme der Beteiligten ist: Sie erzählen plötzlich von Begebenheiten und Erlebnissen, die gar nicht zu sehen waren, berichten von Mitmenschen, die längst das Zeitliche gesegnet haben, und von Waldi, dem Hund, der nur kurz im Bild zu sehen war. Sebastian Thalheim geht in seiner Dissertation „8 mm DDR. Familienfilme als Alltagspraxis, Konsumgut und Erinnerungsmedium“ auf die Rolle des Schmalfilms in Ostdeutschland ein. Er nähert sich dem Thema in sieben Kapiteln: Einleitung, Fotoindustrie und Apparate, Ratgeberliteratur, Werbung, Familienfilm in der DDR, die digitale Zeit und ein Fazit. Ein über 60-seitiger Anhang rundet die Studie ab. In seiner Einleitung beschreibt der Autor die „visuelle Flucht in eine heile Welt“ (9): Alles Repressive, also Verbotsschilder, Grenzanlagen, Überwachung und Stasi bliebe in den Filmen unsichtbar. Aber: „Was erzählen die Schmalfilme heute, wenn sie nicht das zeigen, was wir über die DDR schon wissen?“ (10) Die privaten Streifen, so seine These, seien „als mediale Alltagspraxis Teil historischer und transnationaler Praktiken des ‚visual memory making‘“ (10). Der Verfasser geht von der zentralen Frage aus, welches Bild von Familie die Filme vermitteln und wie es sich mit den offiziellen „staatssozialistischen Utopien“ (11) in Beziehung setzen lasse. Man erkenne in den Filmen zwar keinen Alltag, aber dennoch eine Form der „Alltagswahrnehmung der DDR“ (12).

Es sei bei der privaten Filmerei weniger „um Stabilisierung und Legitimisierung“ des real existierenden Sozialismus gegangen als vielmehr „um das Selbstverständnis als moderne Freizeitgesellschaft“ (19). Er beruft sich dabei auf „alternative modernity“, einen Begriff, den Katherine Pence und Paul Betts ins Spiel gebracht haben, um die üblichen, vor allem in Sachen Alltagsforschung nicht immer zielführenden West-Ost-Schemata zu relativieren. Indem die meisten Studien allein auf die Öffentlichkeit rekurrierten, lasse sich auch in visueller Hinsicht in der Forschung eine dichotome Tendenz feststellen. Sebastian Thalheim geht es um eine „kulturanthropologische Perspektive“ (23) auf den Alltag, mit dem Ziel, mögliche bildliche Lücken in den Fokus zu rücken. In seinen Interviews hat er herausgefunden, dass die Operateure hinter der Kamera in den allermeisten Fällen männlich waren. Thalheim folgt in diesem Zusammenhang einem Gedanken der niederländischen Medienwissenschaftlerin Susan Aasman: In familiärer Hinsicht sei interessant, dass der Schmalfilm als technische Praxis neue Ideale hinsichtlich der Rollenverteilung hervorgebracht habe. Stichwort „masculine domesticity“: Der zwar im Bild zumeist abwesende Vater nehme „durch seine Kameratätigkeit [...] nun [...] am Familienleben teil“ (31).

Thalheim beschreibt sodann seine Methoden – Filmanalyse, leitfadengestützte Erinnerungsinterviews, Filmelizitation. Letztere möchte während der Vorführung über stimulierende Momente bei den Zeitzeuginnen und Zeitzeugen persönliche Erinnerungen wecken. Außerdem ließen sich damit Informationen über im Film gezeigte Objektivationen oder auch zur familiären und biografischen Rezeption des betreffenden Familienfilms gewinnen.

Im Weiteren legt er seine überaus umfangreichen Quellen dar. Thalheim sichtete und analysierte „15 Bestände mit mehr als 27 Stunden Filmmaterial“ (53). Er stieß auf das Problem, dass keines der 329 angefragten öffentlichen Archive private Filme systematisch sammelte. „Diese erste Quellenrecherche offenbarte eine grundsätzliche Schwierigkeit der DDR-Geschichtsschreibung. Archivalische Quellen repräsentieren zum Großteil die Perspektiven der Behörden sowie Parteieinrichtungen und begünstigen dadurch eine herrschaftsorientierte Betrachtungsweise, erschweren jedoch einen Zugang zu Alltags- und Lebenswelten der DDR-BewohnerInnen.“ (51) Der Zugang zu den Beständen erfolgte schließlich per Schneeballsystem über Freunde, Bekannte und Honoratioren vor Ort sowie soziale Netzwerke wie YouTube und das Digitalisierungsportal Open Memory Box – ein vom Bundesministerium für Bildung und Forschung unterstütztes Verbundprojekt mit dem Ziel, das mediale Erbe der DDR zu bewahren und öffentlich zugänglich zu machen.

In seinem zweiten Kapitel konzentriert sich Sebastian Thalheim auf die Kameraindustrie in der DDR. Sie habe 1953 langsam an Fahrt aufgenommen. Erhältlich waren zwei Filmkameras: die AK8 von VEB Zeiss Ikon und die Pentaka 8 von VEB Pentacon – beide in Dresden hergestellt. Die Pentacon besaß eine Wechseloptik. Der wirkliche Aufbruch zum Schmalfilm habe allerdings erst im Mai 1960 begonnen – der Staatsapparat hatte per Verordnung die Preise für Schmalfilmequipment im Handel stark gesenkt und so für viele erst erschwinglich gemacht (69). 1963 waren rund 65 000 Kameras verkauft, was allerdings lediglich einem Prozent der Haushalte entsprach (84). Vor allem der Apparat von VEB Pentacon präsentierte sich technisch hochwertig, eignete sich aber nicht für den Export: 1963 hatte Kodak die einfach zu bedienenden Super-8-Kassetten auf den Markt gebracht, worauf die anderen Formate international rasch keine Rolle mehr spielten. Währenddessen hatte die DDR-Planwirtschaft Schwierigkeiten, den technologischen Wechsel zu vollziehen. Man setzte seit 1968 auf Importe aus der ČSSR. Aber kaum jemand kaufte die neue Technik, denn allein die Projektoren kosteten dreimal so viel wie die Filmkamera. Zudem gab es Lieferverzögerungen (93). Die private Filmerei sei auch in den Siebzigerjahren eine „Nischentechnologie“ (100) geblieben. In den beiden folgenden Abschnitten erörtert Thalheim die Werbung und die Ratgeberliteratur in Sachen Familienfilm. Zwischen 1952 und 1982 erschienen sieben Titel. Die allesamt männlichen Autoren waren entweder künstlerisch oder technisch bewandert. Familiäre oder gar pädagogische und soziologische Aspekte hätten keine Rolle gespielt. „Sie begriffen den Schmalfilm weniger als Medium, das der Herstellung familiärer Gemeinschaft und dem Erinnerungszweck dient, sondern als ästhetisches Medium, und schöpften aus der Semantik professioneller Filmproduktion, sodass etwa aus Kindern ‚Schauspieler‘ wurden.“ (151) Die Werbung – der Verfasser konzentriert sich hierbei vor allem auf Anzeigen in der Tages- und Wochenpresse sowie Fachliteratur und Firmenbroschüren – richte sich nicht an der Familie aus, sondern orientiere sich an einem technikaffinen Anspruch „einer als modern charakterisierten Gesellschaft“ (192). Im folgenden Abschnitt wendet sich Thalheim dem empirischen Material zu. Er prägt dabei den Begriff der „Familiarisierung“ – die Filmerei betreffe unter Verwendung des Possessivpronomens „unser“ in der Betitelung (Unser Urlaub, Unser Kind, Unser Haus) Familie in allen ihren Facetten – im privaten wie öffentlichen Kontext (193). Die Analyse ergab, dass insbesondere Passagenriten inhaltlich eine Rolle spielten: Gefilmt wurde bei Geburt, Hochzeit, Geburtstag der Kinder, Einschulung, Konfirmation, Jugendweihe. Auch Feste wie Ostern und Weihnachten sowie der Jahresurlaub an der Ostsee spielten im Themenkanon der Amateurfilmerinnen und -filmer eine nicht unwesentliche Rolle. „Häufig wird auf Reisen der Verzehr von Lebensmitteln während eines Picknicks oder aber das Essen in Gaststätten gezeigt.“ (205) Öfter filmisch präsent seien die Großeltern sowie – vor dem Mauerbau 1961 – Verwandte in der BRD oder West-Berlin. Technisch orientierten sich vor allem die ambitionierten Filmerinnen und Filmer am professionellen Kino. Diese Streifen haben einen Vor- und einen Nachspann mit eingeblendetem Text. Ganz ähnlich wie auch manche Amateurfotografen ließen es sich einzelne Kameraenthusiasten nicht nehmen, kulturelle Ereignisse im heimischen Wohnzimmer direkt vom Fernsehschirm abzufilmen: Einer dieser visuell offenbar etwas verschwommenen Clips dokumentiert die schwedische Band ABBA in der NDR-Sendung „Musik aus Studio B“ vom November 1974. Ein halbes Jahr darauf gastierte ABBA auch im DDR-Fernsehen. Doch davon habe der Protagonist keine filmische Rolle angefertigt. „Schließlich konnte es selbst ein Vergnügen sein, die Wahlfreiheit zu besitzen, sich für eine westdeutsche Fernsehsendung zu entscheiden und diese abzufilmen.“ (211) Demgegenüber existierten relativ wenige filmische Dokumente mit Bildern aus dem Osten, so Thalheim, von der unmittelbaren Zeit der Wende im Herbst 1989. Nach Öffnung der Mauer suchten die DDR-Amateurfilmerinnen und -filmer den Westen auf, um von dort zum Beispiel am Brandenburger Tor in Berlin „den Blick der TV-Anstalten auf das mediale Ereignis“ (225) zu reproduzieren. Er kommt zu dem Schluss, die breit gefächerten filmisch festgehaltenen Aspekte „zeugen davon, dass die FilmerInnen mit ihren Kameras eine Vielfalt von visuellen Entscheidungen treffen konnten, um ihr Leben im Staatssozialismus individuell und bedeutsam darzustellen“ (228). In seinem abschließenden Kapitel beleuchtet Thalheim das Zeitalter der Digitalisierung. Vieles, was zuvor undenkbar erschien, sei nun möglich geworden: Die privaten Filme als Digitalisate aus ihrem Dornröschenschlaf zu wecken und über die sozialen Netzwerke einer breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen – optimalerweise nicht freischwebend, sondern redaktionell mit kommentierenden Texten begleitet. Insofern seien die privaten Clips eine „wichtige Ergänzung und eine Alternative zum offiziellen Geschichtsbild der DDR-Vergangenheit“ (271).

„8 mm DDR“ ist ein wohltuend flüssig formuliertes, ansprechendes und in die Tiefe gehendes wissenschaftliches Sachbuch. Es liefert umfassende Informationen über die private Filmpraxis der DDR. Die Studie ist mit bravouröser Hingabe recherchiert und zeichnet sich durch ihre liebevolle Detailtreue aus, ohne sich zu verlieren. Die teils schwarz-weißen, teils farbigen Abbildungen sind ansprechend gedruckt. Darüber hinaus breitet Sebastian Thalheim ein in seiner Breite und Vielfalt enormes Material an gedruckten Quellen aus – allein 20 Titel aus der Tages- und Wochenpresse. Sodann führte er 18 mehrstündige Interviews und listet 33 Seiten mit Literatur auf. Der Band ist ein schwergewichtiger Beitrag zur transdisziplinären Visuellen Anthropologie im Zeichen der filmisch-medialen Erinnerung. Die forschungspraktisch herausragende Leistung ist für die Empirische Kulturwissenschaft genauso von Relevanz wie für die Geschichte, Kunstgeschichte und Medienwissenschaft. Wünschenswert gewesen wäre am Ende noch ein Vergleich mit der familienfilmischen Praxis in der BRD, doch das hätte den Rahmen sehr wahrscheinlich gesprengt. Hier bleibt auf jeden Fall Raum für weitere Forschungen.