Aktuelle Rezensionen
Lorenz Peiffer/Henry Wahlig (Hg.)
„Einig. Furchtlos. Treu.“ Der Kicker im Nationalsozialismus – eine Aufarbeitung
Bielefeld 2022, Die Werkstatt, 432 Seiten mit Abbildungen, ISBN 978-3-7307-0621-3
Rezensiert von Markwart Herzog
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 21.09.2023
Die Historiografie der Medien des deutschen Sports weist nach wie vor Desiderate auf. Monografien wie Swantje Scharenbergs Abhandlung über Sport in der Tagespresse der Weimarer Republik, Erik Eggers’ Biografie des Rundfunkreporters Herbert Zimmermann oder Hans Joachim Teichlers und Wolfgang Meyer-Tichelovens Werk über archivierte Film- und Tondokumente der deutschen Sportgeschichte sind rar.[1] Deshalb ist es sehr zu begrüßen, wenn – wie in dem hier anzuzeigenden Fall der Olympia-Verlag – ein Medienunternehmen beschließt, mit dem „Kicker“ die „Aufarbeitung“ der Geschichte einer seiner Zeitschriften in den Jahren 1933 bis 1945 in Auftrag zu geben. Den Anlass gab das 100-jährige Gründungsjubiläum des Magazins, dessen erste Ausgabe am 14. Juli 1920 in Konstanz erschienen ist. Die wechselvolle Geschichte des Organs, das von 1925 an in Nürnberg verlegt wurde, endete aufgrund der kriegsbedingten Verknappung von Rohstoffen zunächst am 26. September 1944 mit der letzten Nummer der „Gemeinsamen Kriegsausgabe“, zu der sich „Der Kicker: Die deutsche Fußball-Illustrierte“ ab dem 1. April 1943 mit „Fußball: Illustrierte Sportzeitung“ zusammengeschlossen hatte.
Der Sammelband ist wie folgt aufgebaut: In der ersten Sektion folgen auf Vorworte der Geschäftsführerin des Olympia-Verlags und des Chefredakteurs des Kicker eine Einleitung der Bandherausgeber Lorenz Peiffer und Henry Wahlig sowie 20 Aufsätze, die sich auf drei weitere Sektionen verteilen. Die Beiträge liefern teils viel Bekanntes, aber auch ganz neue, teils überraschende Forschungsergebnisse. „Politische Ereignisse und Entwicklungen im nationalsozialistischen Deutschland im Spiegel der Berichterstattung des Kicker“ resümieren die Bandherausgeber in der zweiten Sektion („Inhaltliche und personelle Ausrichtung des Kicker nach dem 30. Januar 1933“) und zeichnen in einem weiteren Beitrag biografische Skizzen von Kicker-Redakteuren, von denen bisher teils nicht viel mehr als die Namen bekannt waren. In vielen Fällen sind die Artikel nur mit einem Familiennamen, einem Kürzel, einem Spitznamen oder Pseudonym gezeichnet, was die Klärung der Autorschaft häufig erschwert oder sogar scheitern lässt (48, 69, 128–131, 157, 162, 207). Bernd-M. Beyer geht auf Hanns-Jakob Müllenbachs Rolle als Hauptschriftleiter und Petra Tabarelli auf den Beitrag jüdischer Sportjournalisten während der Weimarer Republik ein. Jeweils eigene Beiträge widmen Simon Meier-Vieracker der Sprache der Sportzeitschrift am Beispiel der Länderberichterstattung, Karin Rase der „Fußballkarikatur als Parallelwelt“ und Moshe Zimmermann dem Fußball(-Journalismus) im Dienst des Antisemitismus. Unter dem Stichwort „Fremdpolitisierung eines Unpolitischen“ setzt ein Aufsatz von Diethelm Blecking über Ernst Willimowski, der sowohl in der polnischen als auch in der deutschen Nationalmannschaft spielte, den Schlusspunkt der zweiten Sektion. Über die inhaltliche und personelle Ausrichtung des Kicker nach 1933 vermag dieser Aufsatz jedoch nichts beizutragen.
Die dritte Sektion zur „Auslandsberichterstattung des Kicker im Spiegel der NS-Expansionspolitik“ versammelt Texte von Andreas Kullick über die Länderspiele Deutschland gegen England; David A. Gilgen referiert über den Blick des Sportmagazins auf Italien, Thomas Urban über Polen, Matthias Marschik über die „Ostmark“ (Österreich nach dem „Anschluss“ 1938), Stefan Zwicker über das Sudetenland, Martin Borkowski-Saruhan über das Generalgouvernement, Bernd Reichelt über das Elsass und Christian Koller über die Schweiz. Ganz aus dem Rahmen dieser Sektion zur Auslandsberichterstattung und NS-Expansionspolitik fallen die Aufsätze von Florian Wittmann über Militär- und Luftwaffensportvereine und von Stefan Goch über den FC Gelsenkirchen-Schalke 04. Dagegen fehlen Betrachtungen über das sport- und medienpolitisch höchst interessante Lothringen im Kontext der macht- und sportpolitischen Ambitionen von „Westmark“-Gauleiter Josef Bürckel oder zu Belgien, über dessen Fußball der international hoch angesehene FIFA-Schiedsrichter, Sportjournalist und Buchautor John „Jean“ Langenus für den Kicker berichterstattete. Es wäre ein Leichtes gewesen, auch für diese Themenfelder kompetente Autoren zu finden, um diese Sektion zu einer wirklich runden Sache zu machen. Wie jedoch bereits ein erster Blick auf das Inhaltsverzeichnis, die Auswahl der Einzelthemen, die Verteilung der Beiträge auf die Sektionen und nicht zuletzt Lücken verraten, folgt der Band teils mehr dem Zufall als einem schlüssigen Forschungsdesign.
Völliges Neuland betreten die beiden Aufsätze in Sektion 4 („Entnazifizierung und das Erbe Walther Bensemanns in der Nachkriegszeit“): Thorben Pieper, Christopher Kirchberg und Marcel Schmeer rekonstruieren die Spruchkammerverfahren von sechs Kicker-Redakteuren, Frank Wolff und Lewis Wellbrock geben einen instruktiven, medienwissenschaftlich sehr gut informierten, diachronen Überblick zur Rezeption des Gründers des Sportmagazins Walther Bensemann in der ab 1951 wiederaufgelegten Fachzeitschrift im Zeitraum bis 2019.
Der jüdische Sportpionier Walther Bensemann (1873–1934) hatte den Kicker zu einer Zeit ins Leben gerufen, in der sich der Sport in Deutschland zu einem Massenphänomen entwickelte, wozu auch die Printmedien einen wichtigen Beitrag leisteten: Die in politische, religiöse beziehungsweise konfessionelle und kulturelle Milieus zersplitterte Weimar Republik brachte zahlreiche, ebenso diverse wie scharf miteinander konkurrierende Sportorganisationen hervor, über deren Wettbewerbe auf einem stark umkämpften Markt eine entsprechend hohe Zahl von Sportfachzeitschriften berichtete.[2] Wie sich der Kicker – ganz im Sinn des Deutschen Fußball-Bundes ein entschiedener Verfechter der politischen, weltanschaulichen und religiösen Neutralität des „bürgerlichen“ Sports – auf diese Medien und Sportorganisationen bezog, wäre ebenfalls einen eigenen, medienhistorisch komparativ ausgerichteten Beitrag wert gewesen. Gelegentliche Andeutungen (69, 202, 207, 219–220) genügen nicht, die Frage hätte systematisch angegangen werden müssen. Überhaupt mangelt es diesem Band generell an einem methodisch vergleichenden Ansatz, der andere Sportmagazine miteinbezieht. Er fällt damit hinter erste verheißungsvolle Schritte zurück, die Erik Eggers schon vor Jahren in diese Richtung gegangen ist. Dass der auch medienhistorisch ausgewiesene Sporthistoriker für diesen Band weder als Autor noch als Mitherausgeber gewonnen wurde, ist bedauerlich. Denn im Kicker bündeln sich Sport- und Mediengeschichte zu einer kulturhistorischen Einheit, die mit Sportgeschichte allein nicht zu bewältigen ist. Den aktuellen Stand der Mediengeschichte der NS-Zeit ignorieren die Herausgeber und Autoren weitgehend. Vereinfacht gesagt, beschränkt sich dieser Sammelband auf die Fachzeitschrift als Sender von Informationen und Botschaften über Fußballsport und politische Propaganda. Die Empfänger, wie sie den Kicker rezipierten und mit der Redaktion interagierten, blendet er weitgehend oder gänzlich aus.[3] Dabei gäbe es heuristisch vielversprechende Ansätze, etwa eine Auswertung der von der Redaktion in großer Zahl abgedruckten Leserbriefe oder die Rubrik „Kicker-Auskunft“, die Fragen beantwortete. Eine erfreuliche Ausnahme bildet in dieser Hinsicht der Beitrag über das Generalgouvernement (310–313, vgl. auch 22, 49–50, 401), der exemplarisch die Richtung aufzeigt, die systematisch und nicht nur punktuell wie in diesem Einzelfall hätte verfolgt werden müssen.
Ohne jeden Erkenntnisgewinn sind dagegen die unkommentierten, seitenlangen tabellarischen Auflistungen der zumeist nichtssagenden, redundanten, häufig gleichlautenden Titel von „ausgewählten Beiträgen“ der von den Bandherausgebern als beispielhaft ausgewählten Kicker-Redakteure (92, 97–107, 109–116, 118–122, 124–128, 133–137, 140–142, 144–146, 148, 150).
Zu den am meisten zu bedauernden Lücken gehört die Fotografie, der kein einziger Beitrag gewidmet ist, obwohl Illustrationen in dieser Zeitschrift eine wichtige Rolle spielten, denen die Redaktion von Anfang an große Aufmerksamkeit schenkte – handelte es sich doch gemäß Untertitel um eine „Illustrierte Fußball-Wochenschrift“ beziehungsweise „Die deutsche Fußball-Illustrierte“. Die fotografische Bildsprache und ein eigener Aufsatz über die Fotografen und ihre Biografien, mit denen der Kicker zusammengearbeitet hat, ist für ein derartiges, auf dem Feld der Mediengeschichte angesiedeltes Forschungsprojekt unverzichtbar.[4] Eine weitere bedauerliche Leerstelle sind die Strategien, mit denen sich das Fachblatt an der medialen Konstruktion von Fußballstars beteiligte – etwa durch die Verleihung der Auszeichnung „Spieler des Jahres“, das häufig eingesetzte Format der illustrierten Homestory oder die Platzierung von Portraitaufnahmen auf der Titelseite. Statt dieser Frage mit den einschlägigen Methoden medienwissenschaftlicher Analyse systematisch nachzugehen, bleibt der Band in einer kursorischen Einzelbetrachtung des Starkults beim FC Gelsenkirchen-Schalke 04 stecken (374–378). Dass gerade der Kicker eine in dieser Hinsicht heuristisch vielversprechende Fundgrube ist, wurde etwa am Beispiel des Nationalspielers Fritz Walter en détail nachgewiesen.[5] Sogar jene Soldatenfußballmannschaften wie die berühmte Pariser Soldatenelf, die nicht in den Fachämtern organisiert waren und außerhalb der etablierten Ligastrukturen spielten, bleiben außen vor, obwohl sie zahlreiche, von den Printmedien viel beachtete Spiele zur Unterhaltung an der „Heimatfront“ und vor Soldaten in besetzten Gebieten vor Zigtausenden ausgetragen haben. Der Kicker hat diesen Mannschaften und ihren Spielen umfangreiche, illustrierte Beiträge gewidmet, obwohl deren Begegnungen für Meisterschaften und Pokalwettbewerbe irrelevant waren.[6] Nicht zuletzt diese Leerstelle gründet in dem genannten Mangel an medienhistorischer Expertise, die den Blick über den im Deutschen Reichsbund für Leibesübungen (DRL) beziehungsweise Nationalsozialistischen Reichsbund für Leibesübungen (NSRL) organisierten Vereinsfußball hätte weiten können.
Sogar einen scharfen, reichsweit in den Printmedien ausgetragenen Streit, in den der Kicker mit Redakteur Hanns Schödel verstrickt war, ignorieren die Herausgeber. Schödel nennen sie zwar, auch, dass er die Rubrik „Die Stimme aus München“ schrieb, mit der er die (sport-)politisch umstrittene Agenda Karl Oberhubers, des Sportaufsichtsdezernenten im Bayerischen Staatsministerium des Innern und Bereichsführers des Sportbereichs XVI (Bayern) des NSRL, medial befeuerte (147). Aber worum es in dieser Rubrik ging, verschweigen Peiffer und Wahlig. Das gilt auch für das Faktum, dass die Kicker-Redaktion von Oberhuber mit Drohungen unter Druck gesetzt wurde, in seinem Sinn zu schreiben, obwohl die Reichssportführung der Presse per Dekret verboten hatte, überhaupt zu diesem Thema zu publizieren.[7] Diese spannende Kontroverse nährt darüber hinaus Zweifel an der von den Herausgebern vertretenen Auffassung, die Nationalsozialisten hätten ihr Ziel, eine „Monopolisierung und totale Beherrschung der öffentlichen Kommunikation“, tatsächlich „gezielt geplant und [1933] umgehend umgesetzt“ (13). Damit geben Peiffer und Wahlig zu erkennen, dass sie auf einem medienhistorisch überholten Forschungsstand argumentieren, indem sie mit dem Fokus auf Ideologie und Propaganda in „ihren Analysen die Selbstbeschreibung des Nationalsozialismus zugrunde[legen]“.[8]
Deshalb stellt sich mit Blick auf die Ergebnisse der einzelnen Aufsätze und Sektionen damit aber auch die Frage, ob und inwiefern der Haupttitel des Sammelbandes „Einig. Furchtlos. Treu“ gerechtfertigt ist. Es handelt sich um die direkte Übernahme der Überschrift eines politisch aufgeladenen Beitrags von Müllenbach, erschienen am 5. September 1939, zwei Tage nach dem Eintritt Englands in den Krieg. Dass in den Kriegsjahren ein nicht nur in den Sportmedien signifikanter Wandel zu verzeichnen ist, steht ganz außer Zweifel. Vermehrt wurden nun wieder, wie in der Phase der Machteroberung der NSDAP, „politische Propagandatexte, die in keinem direkten Bezug zum Fußball standen“ (46, vgl. 52–53), abgedruckt. Der Generallinie der Zeitschrift korrespondierte das jedoch nicht; vielmehr hielt, wie selbst die Herausgeber konzedieren müssen, der Kicker an der Berichterstattung über das fußballsportliche Geschehen als Markenkern fest, sogar im „totalen Krieg“ (60, vgl. 53, 77). Mit dem Titel des Sammelbandes suggerieren Peiffer und Wahlig jedoch eine stromlinienförmige Anpassung an die Erwartungen der Nationalsozialisten. Nicht zuletzt die Resultate der Sektion über die Auslandsberichterstattung konterkarieren diesen Eindruck. Denn die Auslandskorrespondenten folgten keineswegs einer einheitlichen Linie, vielmehr fielen ihre Berichte in allgemein- und sportpolitischer Hinsicht so unterschiedlich aus, wie die für die Zeitschrift Schreibenden generell nicht unerhebliche Spielräume gehabt zu haben schienen (80–81). So überrascht, dass die Beiträge über die „Achsenmacht“ Italien sportbezogen und politisch neutral ausfallen (262–268), was auch für die Schweiz-Berichte gilt (343–345). Dagegen schrieb der SS-Mann Max Leuthe vom März 1938 an, bis er im Jahr 1941 allmählich von anderen Redakteuren ersetzt wurde, mit stark antisemitischem Einschlag über das Fußballgeschehen im „Gau Ostmark“; er verherrlichte das allgemeinpolitische Geschehen in Wien, womit er „die Usancen der Kicker-Berichterstattung durchbrach“ (285). Noch stärker in den Dienst der nationalsozialistischen Politik stellte sich SS-Offizier Georg Niffka (135–137) aus dem polnischen Ostoberschlesien. Da der Kicker-Korrespondent zugleich von Generalgouverneur Hans Frank im Generalgouvernement eingesetzter Sportbeauftragter war, wurden seine Berichte „zum medialen Instrument des völkischen Vernichtungskrieges“ (322) und bezeugen in diesem Fall enge personelle Verflechtungen des Fußballmagazins mit der Besatzungsherrschaft.
Auch zahlreiche andere, in den Beiträgen dokumentierte Beobachtungen zeigen die Zeitschrift in einem Licht, das nicht dem Titel des Bandes entspricht. So finden etwa in der Länderspielberichterstattung von 1931 bis 1952 militärische Metaphern „mit Blick auf die Textgesamtheit doch relativ spärlichen Einsatz und können die eher auf die Schönheit gelungener Spielzüge abzielenden Schilderungen nie überdecken“ (175).[9] Anders als bei den um das „Fremdwortunwesen“ im Deutschen Kaiserreich geführten Debatten lassen sich „wenigstens im Fußball kaum nennenswerte Verdeutschungstendenzen zur Zeit des Nationalsozialismus feststellen“ (177). – Was Meyer-Vieracker nicht erwähnt: Der Kicker hat sich von punktuellen Versuchen der Sportbehörden, eingedeutschte Begriffe „fremdländischen“ Ursprungs zu „germanisieren“, sogar ironisch distanziert.[10] – In den Spielberichten erhielt sich „ein bereits zur Zeit der Weimarer Republik etabliertes und auch in der Nachkriegszeit fortgeführtes sprachliches Register, das bei aller gesellschaftlich-politischen Prägung doch von einer gewissen Eigengesetzlichkeit des Fußballs und seiner Sprache zeugt und das im Kicker kunstvoll bedient wird“ (178). Diesem Befund korrespondiert die Fußballkarikatur: Sie entwickelte keine „zeitspezifische Ausdrucksweise mit unverkennbar nationalsozialistischer Ästhetik, die Darstellungen unterschieden sich in Form und Inhalt nicht von denen davor oder danach“ (203). Sie bildete auch in „jener Zeit generell weitgehend eine Parallelwelt“, in welcher „der Sonntag als ‚Feiertag‘ immer eine besondere Magie entfaltet“, was nicht ausschloss, dass politische Ereignisse „vereinzelt und indirekt“ aufgegriffen wurden, „wenn sie die Welt des Fußballs direkt tangierten“ (203), wie etwa beim „Anschluss“-Spiel Deutschland – Österreich 1938.[11] Vor allem in den Kriegsjahren war der „Fußball-Sonntag für die Moral der ‚Volksgemeinschaft‘“ (205) wichtig und vom Regime erwünscht – gerade weil er der nationalsozialistischen „Volksgemeinschaft“ zu einer Aus-Zeit beziehungsweise einem „Pausenraum“ verhalf, wie in der Historiografie über die Medien unter dem NS-Regime schon vielfach herausgearbeitet wurde.[12]
Völliges Neuland betritt der Sammelband mit den beiden abschließenden Beiträgen über die Spruchkammerverfahren ausgewählter Redakteure und über die Bezugnahmen der Zeitschrift auf ihren Gründer ab den 1950er Jahren. Der erstgenannte Aufsatz beschreibt und interpretiert „die apologetisch-relativistischen Entschuldungsnarrative“ (390), mit denen die Redakteure sich in einem „‚Persilschein‘-Netzwerk“ (404) gegenseitig halfen, ihre Rolle in der NS-Zeit umzudeuten und zu verharmlosen, sie führten karrieristische und opportunistische Motive an, beriefen sich auf sozialen Druck oder strickten Legenden von Verfolgung und Widerstand. Das ist alles andere als ungewöhnlich, doch wurde auf der Basis dieser nach dem Krieg wiederaufgenommenen Kontakte der ehemaligen Kollegen schließlich auch der Neuaufbau des Kicker in den frühen 1950er Jahren begünstigt.
Dagegen überraschen die Ergebnisse des analytisch und in den Schlussfolgerungen überzeugenden Aufsatzes über den Umgang des Kicker mit Walther Bensemann nach 1945. Denn entgegen „der allgemeinen Aufmerksamkeitskurve der deutsch-jüdischen Geschichtsschreibung“ (409) wurde nicht etwa ein nach 1945 völlig dem Vergessen anheimgefallener Fußballpionier erst in den 1990er Jahren wiederentdeckt, vielmehr gab es bereits während der 1950er Jahre eine erste bemerkenswerte Konjunktur der Erwähnung seiner Verdienste, und zwar von der ersten Nummer an. Sie erschien am 10. Dezember 1951 und verbeugte sich im Editorial in „ehrfürchtig-dankbarer Erinnerung“ vor ihm (407). Jedoch blieben die Bezugnahmen auf sein verfolgungsbedingtes Schicksal und seinen Tod, verarmt im Schweizer Exil, ganz im Vagen. Stattdessen imaginierte ihn etwa sein ehemaliger Weggefährte Richard Kirn rückblickend als Mitglied einer großen „Fußballfamilie“ (414),[13] zu der er auch Müllenbach zählte, der 1934 als „Hauptschriftleiter“ auf „Chefredakteur“ Bensemann gefolgt war. Übertroffen wurde diese Konstruktion ungetrübter, familiärer Fußballkameradschaft von Kicker-Neugründer Friedebert Becker, der dieses Idyll auf einen eschatologischen Höhenkamm führte. Sah er doch Bensemann und Müllenbach auf „Wolkenbänken des Jenseits“ sitzen, von wo sie einem ehemals führenden NS-Sportfunktionär „ihre innigsten Geburtstagsglückwüsche“ (414) zuriefen. In den vier Jahrzehnten nach dem Dezennium der Neugründung fiel Bensemann schließlich weitgehend dem Vergessen anheim, um erst nach der Jahrtausendwende wiederentdeckt zu werden.
Abschließend seien einige Fehler genannt, die nicht hätten übersehen werden dürfen. So wurde die „Stuttgarter Erklärung“ vom 9. April 1933[14] nicht von 16 süddeutschen Sportvereinen (32) unterzeichnet, sondern von 14. Die erste Nummer der „Gemeinsamen Kriegsausgabe“, zu der sich der Kicker mit „Fußball“ zusammengeschlossen hatte, erschien nicht am 13. April (51, 88), sondern am 1. April 1943. Auch die Einschätzung, der Kicker habe ab 1933 kein Wort mehr über jüdische Fußballer verloren, auch nicht über die Arbeiterfußballer, die er nun „sogar ganz direkt verhöhnt“ habe (36), verkennt die Tatsache, dass für die Zeitschrift die jüdische Identität von Sporttreibenden in den Jahren vor 1933 keine Rolle spielte, sie dem Arbeiterfußball durchweg kritisch bis ablehnend begegnete und gegen dessen Vermischung von Politik und Sport scharf polemisierte. Und dass Carl Koppehel „in seinen Berichten und Büchern“ jüdische Fußballspieler nicht erwähnt habe (167), ist nicht richtig; vielmehr äußerte sich der frühere DFB-Haushistoriker vor allem über Walther Bensemann, den Gründer des Kicker und Mitgründer des DFB, voller Bewunderung und Anerkennung,[15] ohne ihn allerdings als Pazifisten und Juden zu thematisieren. Und dass Alex Natan, ein Leichtathlet, Journalist und Mann des konservativen Widerstands gegen die Nationalsozialisten, „Olympionike“ gewesen sei, also olympisches Gold gewonnen habe (402), ist nicht allein deshalb ein schwerwiegender Lapsus, weil Natan nie an den Spielen teilnahm, sondern auch, weil seine Biografie als bestens erforscht gelten kann.[16]
Längst von der sporthistorischen Forschung widerlegt ist ferner die Feststellung, dass die Nationalsozialisten den Professionalismus „vehement ablehnten“ (210).[17] Und der allgemeinen These, dass „die Juden bereits im Laufe des Jahres 1933“ pauschal aus den DFB-Vereinen ausgeschlossen worden seien (210), widerspricht deren in den Quellen teils bis Mitte der 1930er Jahre gut dokumentierte Mitgliedschaft in den Fußballabteilungen etwa des Karlsruher FV und FC Bayern München oder der SG Eintracht Frankfurt. So viel historische Genauigkeit muss sein, auch wenn diese Vereine gewiss nicht für den generellen Trend der Marginalisierung jüdischer Fußballbegeisterter nach der Machteroberung der Nationalsozialisten stehen. Und dass die von Andreas und Wolfgang Hafer verfasste Biografie über Hugo Meisl,[18] den jüdischen Sportpionier, internationalen Schiedsrichter, Fußballfunktionär, FIFA-Delegierten und langjährigen Nationaltrainer Österreichs („Verbandskapitän“), in keinem einzigen Beitrag ausgewertet, geschweige denn bibliografiert wird, ist allein deshalb schwer nachzuvollziehen, weil es sich bei ihm um den Bruder von Willy Meisl, einen Österreich-Korrespondenten des Kicker, handelt.
Will man eine Bilanz ziehen, fällt diese ambivalent aus: Indirekt war der Kicker ein Profiteur der nationalsozialistischen Sportpolitik, auch begünstigt durch die Konzentration der Printmedien im Zuge der „Gleichschaltung“ der Presse. Bis 1933 war er ein auf den süddeutschen Raum fokussiertes Magazin. Vor allem die Einführung des Gauliga-Systems begünstigte seinen Aufstieg zu einer nationalen Marke des Sportjournalismus. Die Auflage stieg in den Jahren 1933 bis 1939 von 20 000 auf 100 000, sodass der Verkaufspreis ohne Reduzierung des Seitenumfangs sogar gesenkt werden konnte. Damit einher ging eine signifikante Modernisierung und Professionalisierung, die das Blatt zu einem populären, massentauglichen Medium der Unterhaltung machte. Neue Rubriken, kommerzielle Nebenprodukte (u. a. Almanach, Bilderkalender), Nachrichten- und Unterhaltungsformate wurden eingeführt (42–43, 50–51). Im Kern blieb der Kicker durch die Jahre unter der Diktatur ein auf den Sport bezogenes Medium. Reich illustriert mit Karikaturen und Fotos und optisch gut aufbereitet diente es vorrangig der Unterhaltung und Information der Anhänger des Fußballspiels. Diesem Fokus wird der Titel des Bandes zweifelsohne nicht gerecht. Indem die Zeitschrift neben dem Markenkern Fußball in Glossen, Kommentarspalten und Leitartikeln die (Sport-)Politik der Nationalsozialisten propagierte, vor allem in der Phase der Machteroberung 1933/34, und sich ab 1939 in den Dienst der „geistigen Kriegsführung“ stellte, erfüllte sie ganz offenkundig auch die Erwartungen des NS-Regimes.
Alles in allem ist der Sammelband insofern lesens- und empfehlenswert, als er wichtiges Material für eine geschichtliche Darstellung des Kicker enthält, die allerdings erst noch geschrieben werden muss: ohne die oben genannten thematischen Lücken und konzeptionellen Inkonsistenzen – und vor allem in Methode und Forschungsdesgin medienwissenschaftlich sehr viel besser informiert.
Anmerkungen
[1] Swantje Scharenberg: Die Konstruktion des öffentlichen Sports und seiner Helden in der Tagespresse der Weimarer Republik. Paderborn u.a. 2012; Erik Eggers: Die Stimme von Bern. Das Leben von Herbert Zimmermann, Reporterlegende bei der WM 1954. Augsburg 2004; Hans Joachim Teichler u. Wolfgang Meyer-Ticheloven: Filme und Rundfunkreportagen als Dokumente der deutschen Sportgeschichte von 1907–1945. Schorndorf 1981.
[2] Erik Eggers: „Deutsch wie der Sport, so auch das Wort!“ Zur Scheinblüte der Fußballpublizistik im Dritten Reich. In: Markwart Herzog (Hg.): Fußball zur Zeit des Nationalsozialismus. Alltag – Medien – Künste – Stars. Stuttgart 2008, S. 161–181, hier 162–164.
[3] Zur sozialen Praxis der Zeitungs- und Zeitschriftenlektüre Clemens Zimmermann: Medien im Nationalsozialismus. Deutschland, Italien und Spanien in den 1930er und 1940er Jahren. Wien u.a. 2007, S. 98–101, vgl. S. 246–256, 260 f.
[4] Zur Pressefotografie und Bildpublizistik, in der wissenschaftlichen Literatur zum Nationalsozialismus „bislang krass unterschätzt“, Zimmermann (wie Anm 3), S. 101–126, Zitat S. 101.
[5] Markwart Herzog: Der „Betze“ unterm Hakenkreuz. Der 1. FC Kaiserslautern in der Zeit des Nationalsozialismus. 2., verbesserte Auflage, Göttingen 2009, S. 183–189, 198–200.
[6] Dazu ausführlich Markwart Herzog: „Sportliche Soldatenkämpfer im großen Kriege“ 1939–1945. Fußball im Militär – Kameradschaftsentwürfe repräsentativer Männlichkeit. In: ders. (Hg.): Fußball zur Zeit des Nationalsozialismus. Alltag – Medien – Künste – Stars. Stuttgart 2008, S. 67–148.
[7] Markwart Herzog: „Blitzkrieg“ im Fußballstadion. Der Spielsystemstreit zwischen dem NS-Sportfunktionär Karl Oberhuber und Reichstrainer Sepp Herberger. Stuttgart 2012, S. 37–51, 92–94; vgl. ders: German Blitzkrieg Football Against the English „Wall Tactic“. The Football System Dispute in the German Empire 1939–1941. In: The International Journal of the History of Sport 31 (2014), S. 1489–1508.
[8] Zimmermann (wie Anm. 3), S. 11, vgl. S. 15 f., 171.
[9] Dagegen habe Hauptschriftleiter Müllenbach „keineswegs durchgängig, aber doch regelmäßig“ zu Formulierungen gegriffen, die an Militär und Krieg erinnerten, wie Bernd-M. Beyer herausstreicht, S. 72 f., Zitat S. 72.
[10] Der Kicker, Nr. 37, 10. September 1940, S. 27.
[11] Eine Ausnahme ist daher die von Curt Müller stammende, offen antisemitische Karikatur auf Seite 2 der Kicker-Ausgabe Nr. 41 vom 10. Oktober 1939, auf die Moshe Zimmermann hinweist (S. 217 f.).
[12] Carsten Würmann u. Ansgar Warner (Hg.): Im Pausenraum des „Dritten Reiches“. Zur Populärkultur im nationalsozialistischen Deutschland. Bern u.a. 2008.
[13] Ähnlich der jüdische Sportjournalist Willy Meisl, der das „Ideal der ‚großen Fußballfamilie‘“ jedoch durch die NS-Erfahrungen gebrochen und beschädigt sah; er war über Jahrzehnte der Einzige, der dieses Thema im Kicker zur Sprache brachte, S. 416–418, Zitat S. 417.
[14] Markwart Herzog: Die „Stuttgarter Erklärung“ vom 9. April 1933. „Gleichschaltung“ und „Arisierung“ im Alltag süddeutscher Fußballclubs. In: Markwart Herzog u. Peter Fassl (Hg.): Sportler jüdischer Herkunft in Süddeutschland. Stuttgart 2021, S. 193–276.
[15] Carl Koppehel (Bearb.): Geschichte des Deutschen Fußballsports. Frankfurt am Main 1954, S. 60, 82 f., 89, 239, 308 f., Bildtafel nach S. 56 (zu Walther Bensemann), S. 40 (zu John Bloch), S. 45, 79, 88–90, 312 (zu den Brüdern Friderich Mannheimer [Fred Manning] und Gustav Rudolf Mannheimer [Gus Randolph bzw. Randolph G. Manning]), S. 219, 223, 286 (zu Alfred Ries), S. 219 f., 223 (zu Martin Abraham Stock), S. 296 (zu Kurt Landauer).
[16] Kay Schiller: „Der schnellste Jude Deutschlands.“ Sport, Moderne und (Körper-)Politik im bewegten Leben Alex Natans (1906–1971). In: Stadion. Internationale Zeitschrift für Geschichte des Sports 43 (2019), S. 185–218; ders.: „Der schnellste Jude Deutschlands.“ Alex Natan (1906–1971). Eine Biografie. Göttingen 2022.
[17] Kritisch dazu Nils Havemann: Fußball unterm Hakenkreuz. Der DFB zwischen Sport, Politik und Kommerz. Frankfurt am Main/New York 2005, S. 98–101, 292–297. Die mutmaßlich ablehnende Haltung der Nationalsozialisten zum Profisport ist ebenso ins Reich der politischen Mythen des Sports zu verweisen wie die These, der DFB habe aus ideologischen Gründen den Berufsfußball schon in der Weimarer Republik grundsätzlich abgelehnt. Kritisch dazu André Bialk u. Erik Eggers: Die „Affäre Eidinger“. Zur Premiere des Profifußballs auf dem europäischen Kontinent 1920. In: Stadion. Internationale Zeitschrift für Geschichte des Sports 44 (2020), S. 255–299.
[18] Andreas Hafer u. Wolfgang Hafer: Hugo Meisl oder: Die Erfindung des modernen Fußballs. Eine Biographie. Göttingen 2007.