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Brigitta Schmidt-Lauber/Manuel Liebig (Hg.)

Begriffe der Gegenwart. Ein kulturwissenschaftliches Glossar

Wien/Köln 2022, Böhlau, 312 Seiten, ISBN 978-3-205-21272-0


Rezensiert von Isabella Kölz
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 31.08.2023

Das 2022 im Böhlau Verlag erschienene Handbuch „Begriffe der Gegenwart. Ein Kulturwissenschaftliches Glossar“, herausgegeben von Brigitta Schmidt-Lauber und Manuel Liebig, beschäftigt sich mit der Wirkmächtigkeit von Wörtern unseres (meist unbefragten) alltäglichen Sprachgebrauchs. Als Glossar versammelt es 32 Worte – von A wie „Angst“ (23) bis W wie in „Willkommenskultur“ (299) –, die in gegenwärtigen gesellschaftlichen Diskursen verbreitet sind. Der Band reflektiert diese „Begriffe der Gegenwart“ (11), erläutert die jeweiligen „fach- und gesellschaftsgeschichtliche[n] Problemlagen in der Bedeutung und im Gebrauch“ und zielt darauf, ein breites Publikum „zu einem differenzierten, historisch versierten Umgang mit Wörtern an[zu]regen“ (16). Ausgehend von dieser Zielsetzung fiel die Auswahl auf geläufige, aber in Gebrauch und Bedeutung(sgeschichte) oft wenig hinterfragte Begriffe wie „Migrationshintergrund“ (195), „Identität“ (143) oder „Populismus“ (223). Das Glossar reflektiert damit kritisch Worte, die in alltäglichen Gesprächen aber auch in der Öffentlichkeit – beispielsweise in Talkshows, Wahlprogrammen oder Nachrichten – Verwendung finden und als Begriffe gesellschaftlicher Verortungs- und Abgrenzungspraktiken wirkmächtig sind.

Entstanden ist die Idee zum Glossar aus dem Kolloquium „Begriffe als Probleme: Wortgebrauch in Wissenschaft und Gesellschaft“ am Institut für Europäische Ethnologie der Universität Wien im Wintersemester 2018/2019. Die im Handbuch versammelten Autorinnen und Autoren kommen aus unterschiedlichen Disziplinen: Neben Europäischen Ethnologinnen beziehungsweise Empirischen Kulturwissenschaftlern (die Namensdebatten des „Vielnamensfachs“ werden in der Hinführung knapp diskutiert) haben Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus Ethnologie beziehungsweise Sozial- und Kulturanthropologie, Geschichtswissenschaft, Politikwissenschaft, Soziologie und Philosophie mitgewirkt – alle Artikel wurden einem Double-Blind-Peer Review-Verfahren unterzogen.

Den Glossareinträgen vorangestellt sind – neben einem kurzen Vorwort zu den Herausforderungen des spezifischen Formates Glossar – zwei kurze, das Handbuch erläuternde und im aktuellen Diskurs einordnende Beiträge. Die anschließend in alphabetischer Reihung angeordneten Begriffseinträge sind bewusst knappgehalten – sie umfassen nie mehr als acht Buchseiten – und sind nach dem immer gleichen Schema aufgebaut: Auf die Kurzdefinition zu Beginn folgt eine Erörterung des aktuellen Gebrauchs sowie der Bedeutung und Wirkung des jeweiligen Begriffs. Hier wird die gesellschaftliche sowie begriffsgeschichtliche Situation um das Wort nachgezeichnet, die sowohl Wandel als auch Machtwirksamkeit des Begriffes im Diskurs erläutert. Darauf folgt jeweils ein Ausblick, der eine „Empfehlung einer angemessenen Verwendungsweise“ (14) des jeweiligen Wortes gibt, beziehungsweise „wissenschaftlichen oder gesellschaftswissenschaftlichen Handlungsbedarf“ (15) in dessen Verwendung erörtert. Am Ende jeden Eintrags steht ein knappes Verzeichnis der verwendeten Literatur sowie Literaturhinweise zur jeweiligen Wissenschaftsgeschichte des Begriffs. Das Glossar schließt mit dem Verzeichnis der Autorinnen und Autoren.

Die beiden einleitenden Kurztexte von Brigitta Schmidt-Lauber und Jan Liebig machen einerseits den Entstehungskontext sowie -prozess des Handbuchs transparent und erläutern Zielsetzung, Zielpublikum („auch Interessierte jenseits der engeren akademischen Grenzen“ [12]) sowie Fragestellungen und formulieren hierbei auch die Grenzen und Herausforderungen, die mit der Erstellung des Glossars einhergehen: Leserinnen und Leser erfahren, wie die Auswahl von Autorinnen und Autoren sowie Begriffen verlief, auf welchen Ideen das Handbuch wie aufgebaut ist und welche Ziele es verfolgt, welchem disziplinären Kontext es entsprungen ist, was es leisten soll und was es nicht leisten kann. In ihrer Hinführung formuliert Schmidt-Lauber damit auch einen relevanten Disclaimer an die Leserschaft: „Das vorliegende Buch basiert auf wissenschaftlichen Erkenntnissen und analytischen Beobachtungen der Autor*innen, erhebt aber weder einen Anspruch auf Vollständigkeit und Objektivität noch auf Wahrheit.“ (14)

Gleichzeitig führen die beiden Einleitungstexte – besonders Liebigs „Plädoyer für eine kritische Wissensvermittlung“ (15), in die Diskurse ein, in denen wissenschaftliches Arbeiten, Denken und Publizieren gegenwärtig stattfinden und machen (wie auch die Glossareinträge selbst) somit auf Logiken, Modi und Umstände wissenschaftlicher Wissensproduktion aufmerksam, die hier nicht nur benannt, sondern auch kritisch hinterfragt werden. So argumentiert Liebig, dass es neben der aktuellen gesamtgesellschaftlichen „Krise der Glaubwürdigkeit“ (19) von Wissenschaft eine Folge der immer weiter neo-liberal geformten Hochschule ist, dass Wissenstransfers in breite Öffentlichkeiten (und damit das Übernehmen von wissenschaftlicher Verantwortung für die Gesellschaft) aktuell „gefährdet“ (19) sind. Das Glossar verstehen die Herausgeberin und der Herausgeber in diesem Zusammenhang auch als Antwort auf diese Entwicklungen, indem sich die mitwirkenden Autorinnen und Autoren für „eine reflektierte Verwendungsweise von Begriffen“ (19) einsetzen, über ihre Beiträge öffentlich intervenieren und damit „Verantwortung für die Rolle der Wissenschaft in gesellschaftlichen Verhältnissen“ übernehmen (20).

Besonders weil die Hinführungen die Herausforderungen und Möglichkeiten des speziellen Formats Glossar (auch als Wissenstransfer von Wissenschaft in die Gesellschaft) so transparent machen, gelingt es dem Handbuch einzulösen, was es sich einleitend zum Ziel setzt: Auf wenigen Seiten wird (sprachlich wie inhaltlich) differenziert viel Wissen zu komplexen Zusammenhängen vermittelt. Hier wird deutlich, warum wir (als Gesellschaft wie als wissenschaftliche Community) über den (Alltags)Gebrauch von Begriffen nachdenken müssen und Begriffe wie „Ethnisch“ (73), „Moderne“ (205) oder „Volkskultur“ (279) nach deren (historischer) Situiertheit und ihren unterschiedlichen Verwendungszusammenhängen zu befragen haben. Die einzelnen Einträge verweisen und beziehen sich hierbei aufeinander – dies entschlackt die Texte und macht gleichzeitig deutlich, wie das Glossar Wissen verbindet und fließend zwischen den Ansprüchen an Allgemeingültigkeit und der Beispielhaftigkeit einzelner Begriffseinträge changiert. Das Format Glossar ermöglicht so Komplexitätsreduktion bei gleichzeitiger Komplexitätserweiterung.

Was den aus der Volkskunde hervorgegangenen Disziplinen spätestens seit Falkenstein ein Anliegen ist – Common-Sense-Annahmen zu hinterfragen und sich mit ihrem Wissen über die Konstruiertheit und die diskursiven Bedeutungsaushandlungen unserer Alltagswelt(en) in gesellschaftliche Zusammenhänge einzubringen, macht das Handbuch in Bezug auf die Wirkmächtigkeit von Worten möglich. Besonders für die Lehre ist hiermit ein neues Handbuch erschienen, das ausgehend von gegenwärtigen Diskursen ein Hinterfragen, Reflektieren und Einordnen von geläufigen Begriffen mit Studierenden ermöglicht (und dies in einer Textlänge und einem Format, das besonders studierendenfreundlich ist).

Es bleibt allen Beteiligten zu wünschen, dass das Glossar viel gelesen wird. Nicht nur, weil das Handbuch so vielleicht tatsächlich einen Beitrag zu einer „sachliche[ren] Auseinandersetzung um die Verwendungsweise […] und einen reflektierten, bewussten Umgang über die Bedeutung von Wörtern“ (18) leisten kann. Eine große Leserschaft würde es darüber hinaus eventuell ermöglichen, das Glossar um weitere Begriffe zu ergänzen und bereits vorhandene – ganz im Sinne des angestrebten Sichtbarmachens von Wortgebrauchswandel – immer wieder ergänzen zu können. Sollte es tatsächlich Folgeprojekte oder eine zweite Auflage geben, könnte eine open-access oder webbasierte digitale Umsetzung an die Forderung des Handbuches, den „Transfer wissenschaftlicher Erkenntnisse in die Gesellschaft“ zu fördern, anknüpfen und „eine Demokratisierung des Wissens“ (18) noch stärker voranbringen.