Aktuelle Rezensionen
Christine Schmid
Ver-rückte Expertisen. Ethnografische Perspektiven auf Genesungsbegleitung
(VerKörperungen, Bd. 26), Bielefeld 2020, transcript, 217 Seiten, ISBN 978-3-8376-5385-4
Rezensiert von Mira Krebs
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 07.09.2023
Christine Schmid untersucht in ihrer Dissertation „Ver-rückte Expertisen: Ethnografische Perspektiven auf Genesungsbegleitung“ das in Deutschland im Entstehen begriffene Phänomen professioneller Genesungsbegleitung in psychiatrischen Versorgungskontexten. Als Buch erschien ihre Arbeit 2020 in der von Martin Döring und Jörg Niewöhner herausgegebenen Reihe „VerKörperungen/MatteRealities – Perspektiven empirischer Wissenschaftsordnung“, deren thematische und methodische Ausrichtung eine „neue“ empirische Wissenschaftsforschung in inter- beziehungsweise transdisziplinären Spannungsfeldern von Medizin, Lebenswissenschaften und Gesellschaft visiert.
„Ver-rückte Expertisen“ ist das Ergebnis eines mehrjährigen ethnografischen, zum Teil „ko-laborativen“ Forschungsprozesses „mit“ Genesungsbegleiterinnen in einem psychiatrischen Setting. Genesungsbegleitung umfasst die Unterstützung und Begleitung von Menschen in psychischen Krisen, wobei besonders daran ist, dass Personen sich aufgrund eigener psychischer Krisenerfahrung als ehemalig Betroffene oder Angehörige von Betroffenen für die Ausbildung zum „EX-IN“ (Experienced Involvement, auf Deutsch: Expertin/Experte aus Erfahrung) qualifizieren können. „Erfahrung“ und „Expertise“ fungieren als Schlüsselwörter in Schmids Untersuchung und setzen den Dialog zwischen beobachteten Feldpraktiken und theoretischer Reflexion in Gang. Bislang kreisten Fragestellungen im Zusammenhang von „Peer Support“ (so die internationale Bezeichnung für Genesungsbegleitung) vor allem um seine Wirksamkeit oder „Power“ und das meist in der Fachliteratur von Psychologie und Psychiatrie, neuerdings auch in der Medical Anthropology im englischsprachigen Raum. Schmids Forschungsinteresse hingegen setzt „Expertise aus Erfahrung“ als Prämisse voraus, weshalb ihre Investigation vielmehr die Frage nach Praktiken der (Re-)Produktion von Erfahrung und Expertise beleuchten will. Die Überzeugung, dass Patientinnen und Patienten in der psychiatrischen Versorgung von der Erfahrungsexpertise durch Genesungsbegleitung profitieren, wird demnach als gegeben angenommen. Konsequenterweise fragt die Autorin danach, „wo und wie genau was als Erfahrungsexpertise generiert und wirksam wird“ (14) oder mit anderen Worten, wie die „Mobilisierung von Erfahrung“ (15, zitiert nach Beck[1]) im Forschungsfeld geschieht, sodass sie sich als Experten/Expertinnen-Wissen qualifiziert. Technisch verbindet Schmid ethnologische und kulturwissenschaftliche Methoden mit einer an die Science and Technology Studies grenzenden Forschungshaltung und schließt an theoretische Diskurse der Sozial- und Kulturanthropologie zu den Begriffen Erfahrung und Reflexivität an. Das Fundament der Studie bildet ein reichhaltiges Materialkorpus aus einer ethnografischen Feldforschung im Umfang von insgesamt sechs Monaten in einer psychiatrischen Akutstation und einer tagesklinischen Einrichtung, welches die Autorin über einen dreijährigen Zeitraum hinweg gesammelt hat. Weiteres Material stammt aus teilnehmender Beobachtung auf Konferenzen und an anderen Orten, außerdem wurden Interviews und mehrere Fokusgruppengespräche geführt.
Das Buch gliedert sich in drei Teile mit jeweils zwei Kapiteln und beginnt mit der Explikation des Forschungsinteresses: Untersucht werden soll das Verschieben („Ver-rücken“) von Expertise, um die Herstellung von Ordnungspraktiken von Expertinnen- und Erfahrungsexperten-Wissen zu beleuchten. Zuvor wird jedoch das Feld der Genesungsbegleitung als Arbeitskontext näher beschrieben, das heißt, welche Tätigkeiten und Funktionen mit professioneller Genesungsbegleitung in der psychiatrischen Grundversorgung zusammenhängen. Ebenfalls umreißt Schmid eine entwicklungsgeschichtliche Dimension, die die Anfänge und Evolutionsmomente auf dem Weg zur heutigen Form von EX-IN kennzeichnet. Historisch wird Peer-Arbeit mit den Konzepten „Recovery“ und „Empowerment“ sowie dem „Trialog“-Modell assoziiert, womit die Vorläufer der heutigen Genesungsbegleitung auf systemkritische und sozialpsychiatrische Ansätze zurückverweisen. Im Weiteren verortet die Autorin ihren methodologischen Ansatz innerhalb ethnologischer beziehungsweise sozialwissenschaftlicher Positionen, womit sie zum einen ihr Verständnis von einer praxeologischen Perspektive erläutert, zum anderen das praktische Vorgehen im Forschungsfeld beziehungsweise am Schreibtisch darstellt. In einer kurzen methodischen Skizze dokumentiert Schmid den Ablauf der empirischen Forschung und beschreibt ihre angewandten Methoden in der Feldforschung sowie Auswertungsverfahren, die relevant für die Aufbereitung des Materials waren.
Der Mittelpart des Buches legt den Forschungsstand zu den Themen Erfahrung, Expertise und Reflexivität dar, wobei die Autorin Bezug nimmt auf Diskurse der Sozial- und Kulturanthropologie. Zum einen betrachtet sie hier methodologische Zusammenhänge von ethnografischer Wissensproduktion und Feldforschungserfahrung, zum anderen geht es ihr um eine Annäherung an den Untersuchungsgegenstand Erfahrung. Basierend auf der vorgegriffenen Hypothese, dass verschiedene „Praktiken des Reflektierens“ (78, i. O. hervorgehoben) die Grundlage für die Mobilisierung von Erfahrungsexpertise im beobachteten Forschungsfeld bilden, unternimmt Schmid in Kapitel drei eine Exkursion in ein umfangreiches Reservoir vorrangig fachdisziplinärer Literatur zum Begriff der Erfahrung, der als maßgeblich für die Praxis des Reflektierens verstanden wird. Erfahrung wird hier aber auch als ein Instrument kulturanthropologischer Forschung in seiner fachlichen Entwicklungsgeschichte thematisiert, darüber hinaus werden diverse Beschreibungsversuche ermittelt, die für die Grenzziehung des Forschungs- und Analysefokus von Belang sind. Ebenfalls wird ein medizinanthropologisch florierender Begriff von Erfahrung gestreift, der beispielweise in Konzepten von „experiental knowledge“, „Laienexpertise“ oder „patient knowledge“ eine Rolle spielt. Im Weiteren nähert sich die theoretische Diskussion dem Begriff Reflexivität – ein Wort, das in Kontexten kulturanthropologischer und psychiatrischer Untersuchungen häufig in Reaktion auf komplexe Probleme herangezogen würde, so Schmid. Zudem sei es im empirischen Forschungsprozess wiederholt als spezifizierendes Merkmal von Erfahrungsexpertise im Rahmen der Genesungsbegleitung hervorgehoben worden. Wieder fragt die Autorin nach einer praxeologischen Dimension von Reflexivität, das heißt, es soll ein „doing reflexivity“ (133, zitiert nach Reckwitz[2]) in alltäglich stattfindenden materiell-semiotischen Praktiken im beobachteten Forschungsausschnitt untersucht werden. Analytisch betrifft das die Differenzierung verschiedener Formen emergierender und kursierender Reflexivität(en) im Feld, die in den beiden abschließenden Kapiteln anhand beispielhafter Varianten der Reflexion, die wesentlich für das Berufs- und Forschungsfeld der Genesungsbegleitung sind, genauer beschrieben werden. Insofern möchte Schmid ihre bereits vorgestellte Kernthese empirisch bekräftigen, die davon ausgeht, dass Praktiken des Reflektierens als Grundbausteine für das Verrücken von Expertise im Forschungsfeld verantwortlich sind. Im „kanalisierenden“ Modus des Reflektierens (Kapitel 5) wird Erfahrungsexpertise mobilisiert, indem eine individuelle und subjektabhängige innen-gerichtete reflektierte Erfahrung in Situationen des (teil-)stationären Alltags in Annäherung an formal anerkannte Expertise wirksam wird, zum Beispiel durch „situiertes Generalisieren“ (148, i. O. hervorgehoben). Interpretativ versteht Schmid darunter das Spektrum an Handlungsmöglichkeiten und -konsequenzen von Genesungsbegleiterinnen und -begleitern, das aus der vorsichtigen Abstraktion der eigenen unikalen Krisenerfahrung und/oder der Erfahrung anderer Einzelfälle gewonnen wurde.
Im sechsten Kapitel wird anhand des Modus des „erweiternden“ Reflektierens illustriert, wie Erfahrungsexpertise neue Bereiche eines Wissensraums eröffnen kann, der über institutionalisierte Reflexivität(en) hinausreicht und eine tendenziös kritische Funktion zu formal anerkannter Expertise einzunehmen vermag. Als Resümee ihrer Ethnografie hält Schmid drei Punkte fest: Der Wert von Erfahrungsexpertise für die Gesundheitsversorgung zeigt sich erst in Wechselwirkung mit Praktiken des Reflektierens und ist auf eine ergebnisoffene Haltung angewiesen. Zweitens argumentiert sie in Anbindung an die vorherige Beobachtung, dass Reflektieren innerhalb der Psychiatrie als situative alltägliche Praxis von unterschiedlichen Akteurinnen und Akteuren auf verschiedene Arten vollzogen wird und nicht allein oppositionell zum System gedeutet werden sollte. Das führt zu ihrer dritten Aussicht auf das Phänomen Erfahrungsexpertise, nämlich dass sie sowohl als Form der „Gegenexpertise“ zu formal anerkannter Expertise, wie auch als „Begegnungsexpertise“ wirksam werden kann und damit zu Transformationen in Zwischenbereichen des psychiatrischen Alltags beizutragen vermag. „Ver-rückte Expertisen“ überzeugt als eine wissenschaftlich solide und engagierte Forschungsstudie zu Erfahrung und Expertise, wobei der epistemische Gewinn über die fachdisziplinäre Arbeit hinaus Momente ko-laborativen Mehrwerts aufzeigt, der den Boden für die Saat von Resistenz und Reflexivität in den jeweiligen epistemischen Kulturen nährt.[3] An manchen Stellen ist die komplexe Materie recht komprimiert verpackt, dennoch gelingt es Christine Schmid, eine sprachlich und inhaltlich zielführende Diskussion und Darstellung der transdisziplinären Forschungsthematik aufzubereiten.
Anmerkungen
[1] Stefan Beck: Die Mobilisierung von Erfahrung. Anmerkungen zu Translationen para-ethnografischen Wissens. In: Ina Dietzsch, Wolfgang Kaschuba u. Leonore Scholze-Irrlitz (Hg.): Horizonte ethnografischen Wissens: Eine Bestandsaufnahme. Köln/Weimar 2009, S. 221–238.
[2] Andreas Reckwitz: Praktiken der Reflexivität: Eine kulturtheoretische Perspektive auf hochmodernes Handeln. In: Fritz Böhle u. Margit Weihrich (Hg.): Handeln unter Unsicherheit. Wiesbaden 2009, S. 169–182.
[3] Jörg Niewöhner: Co-laborative anthropology: Crafting reflexivities experimentally. [Secondary publ. manuscript on the edoc server of the Humboldt-Universität zu Berlin]. In: Jukka Jouhki u. Tytti Steel (Hg.): Etnologinen tulkinta ja analyysi: Kohti avoimempaa tutki-musprosessia [Ethnologische Interpretation und Analyse: Auf dem Weg zu einem offeneren Forschungsprozess]. Helsinki 2016, S. 81–125.