Logo der Bayerischen Akademie der Wissenschaften

Kommission für bayerische Landesgeschichte

Menu

Aktuelle Rezensionen


Rolf Lindner

In einer Welt von Fremden. Eine Anthropologie der Stadt

Berlin 2022, Matthes & Seitz, 290 Seiten, ISBN 978-3-7518-0378-6


Rezensiert von Burkhart Lauterbach
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 24.08.2023

Einer der kreativsten Kollegen aus unserem Fach hat eine neue Studie vorgelegt, in der er abermals intensiv, konsequent und konstruktiv der mittlerweile weitverbreiteten Vernachlässigung der historischen Dimension in der kulturwissenschaftlichen Forschung entgegenarbeitet, indem er mehr oder weniger nahtlos an frühere eigene Publikationen anschließt, als da sind: „Die Entdeckung der Stadtkultur – Soziologie aus der Erfahrung der Reportage“ (1990, engl. Übersetzung 1996), „Walks on the Wild Side. Eine Geschichte der Stadtforschung“ (2004) sowie „Berlin, absolute Stadt. Eine kleine Anthropologie der großen Stadt“ (2016), stets begleitet von einer Reihe einschlägiger Aufsätze. Nach dem zuletzt unternommenen Ausflug in die Stadt Berlin nimmt Rolf Lindner eine Erweiterung seines Forschungsprogramms vor, indem er sich zwar erneut, wenn auch in reduziertem Maße, auf die wissenschaftlichen Aktivitäten der Chicago School of Sociology und ihres einschlägigen Forschungspersonals bezieht, aber eben auch auf Stadtforschungsprojekte aus weiteren Kulturen und Sprachräumen, so etwa auf französische und ebenso franko-kanadische Studien.

Lindner bewegt sich, ebenso wie in seiner Berlin-Studie, ganz und gar wie ein klassischer Ethnologe, von außen nach innen. Er beginnt, im ersten Teil, mit den Zuwandernden, die sich zu Bismarcks Zeiten aus ländlichen Bereichen aufmachen in Richtung der großen Stadt Berlin, mit den verschiedenen einheimischen wie auch internationalen Einflüssen, denen sie dort begegnen, sowie den Eindrücken, mit denen sie fertig werden müssen. Da geht es um die ihnen bis dahin eher unbekannten Unterhaltungs- und Vergnügungseinrichtungen, um die Konfrontation mit großstädtischer Architektur und Beleuchtungskultur, dies alles unter besonderer Berücksichtigung ihrer eigenen Aktionen und Reaktionen. Und es geht um die Auseinandersetzung der Welt der Künste mit den neueren zivilisatorischen Entwicklungen, speziell im Bereich der Malerei. Von „Schönheit der großen Stadt“ ist die Rede. Im zweiten Teil nähert sich der Autor dem Innenleben der Akteure, dies im Zusammenhang mit deren peu à peu geschehender Entdeckung und Ausgestaltung der neuen Lebenszusammenhänge unter den Bedingungen der zwar als attraktiv, aber nicht minder als anonym und daher fremd empfundenen Großstadt, wobei er immer wieder Vernetzungen zur von ihm selbst in den früheren Studien auf das Genaueste untersuchten, als modern geltenden Stadtkultur herstellt. Und nicht nur das, sondern hier geht es ihm insbesondere darum, Elemente einer „Theorie des Urbanen“ (99–118) zu entwickeln. Dazu heißt es: „Die Stadt als Siedlungsform setzt […] das Individuum frei, nötigt es dadurch aber zugleich zur Selbstorganisation, zur eigenen Herstellung von Beziehungen und Kontakten. In der Herstellung eines individuellen, möglichst vielfältigen Netzwerks sieht [Ulf] Hannerz daher auch die eigentliche Leistung des Stadtbewohners.“ (108) Lindner exemplifiziert dies vor allem am Beispiel des Lebens von homosexuellen Menschen in urbanen Milieus. Im dritten Teil seiner Studie nimmt sich der Autor zum einen Formen der Vergemeinschaftung unter den Bedingungen einer Großstadt vor, indem er, von dörflichen Lebenszusammenhängen ausgehend, genuin urbane kulturelle und insbesondere gegenkulturelle Konfigurationen untersucht, Standorte wie auch Schauplätze, vor allem jene Assoziationen, die wir heute als Szenen verstehen. Nach der Analyse dieser eher partikularistischen Einheiten nimmt die Studie wiederum eine breitere und vor allem tiefere Perspektive ein, indem zum einen Städte als jeweilige konkrete Kontexte menschlichen Agierens betrachtet werden, Städte mithin, die sich miteinander vergleichen lassen (Köln und Berlin; München und Berlin; Chicago und New York; Mailand und Rom; Tel Aviv und Jerusalem), um Ähnlichkeiten und Entsprechungen, aber auch Differenzen registrieren und somit anerkennen zu können. Zum anderen sei es unabdingbar, dass zu einer Stadt-Anthropologie jener Untersuchungsschritt gehört, mittels dessen, hier „historische Tiefenschürfung“ genannt, sich „mögliche Adern, Gänge, Querverbindungen, Überschneidungen und Verzweigungen“ (179) aufspüren lassen können. Und in just diesem Zusammenhang diskutiert Lindner – seine Studie abrundend – jenen thematischen Komplex, den er das „Imaginäre der Stadt“ (199) nennt, womit die über die reale Stadt und ihre historische wie auch gegenwärtige Materialität sowie räumliche Struktur hinausreichende, gewissermaßen innere Welt einer jeweiligen Stadt und ihrer Bevölkerung, aber auch der auf sie reagierenden Fremden gemeint ist, also alles das, was sich im Bereich der Phantasie der Menschen abspielt und zur Wirkung kommt. Das dazugehörige, mehr als einleuchtende Fazit lautet daher: „Das Imaginäre bildet die Tiefenstruktur der mit der Stadt verbundenen Vorstellungsbilder.“ (224) Die Studie „In einer Welt von Fremden“, die sich in einem strengen Verständnis als Aufsatzsammlung kategorisieren lässt, zeichnet sich durch eine ausgesprochen positiv zu bewertende thematische Vielfalt sowie methodische und theoretische Vielseitigkeit aus, kein Zweifel. Dennoch haben wir es weniger mit einer „Anthropologie der Stadt“ als vielmehr mit einer Anthropologie der Großstadt zu tun. Die Vergangenheit und Gegenwart der Lebensverhältnisse etwa in Oer-Erkenschwick und Wasserburg am Inn, in Toul und Lons-le-Saunier geraten erst einmal (noch) nicht in den Blick.