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200 Jahre organisierter Fastelovend in Kölle. Die Geschichte des organisierten Kölner Karnevals und der ersten Kölner Traditionsgesellschaft „Die Grosse von 1823 KG e.V. Köln“
Ilmtal-Weinstraße 2022, Jonas, 336 Seiten mit Abbildungen, ISBN 978-3-89445-596-5
Rezensiert von Helga Maria Wolf
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 31.08.2023
Was für Venedig die Maskerade, ist für Köln der Karneval. Beiden Events wurden in letzter Zeit Bücher gewidmet, allerdings mit unterschiedlicher Zielsetzung. Die Mainzer Kulturanthropologin Julia Gehres hat den venezianischen Karneval als Dissertationsthema gewählt und mit dem Buch „Fest, Event, Spektakel? Zur Inszenierung des venezianischen Karnevals im Kontext gesellschaftlicher Transformationsprozesse“ ihre Langzeitstudie abgeschlossen. (s. Rezension im Bayerischen Jahrbuch für Volkskunde 2022). „200 Jahre organisierter Kölner Karneval“ entstand, wie schon der Titel verrät, zu einem Jubiläum und ist das Gemeinschaftswerk eines Autorenteams. Die Karnevalsgesellschaft „Die Grosse von 1823 Karnevalsgesellschaft e.V. Köln“ als Herausgeberin hat ihre Festschrift repräsentativ ausgestattet.
Teil 1 des großzügig gestalteten Werkes beschäftigt sich mit den ersten einhundert Jahren des Brauchs. Die Einleitung referiert Forschungsstand und Quellenkritik. Das zweite Kapitel bringt eine kurze Geschichte des Karnevals bis zur Reform in den 1820er Jahren. Als ältester Beleg des Karnevals im Rheinland gilt der um 1220 entstandene „Dialogus Miraculorum“ des Caesarius von Heisterbach, in dem von einem Zechgelage in der Nacht vor dem Aschermittwoch die Rede ist. Für Köln ist die Fastnacht erstmals anno 1338 belegt, die Bezeichnung Karneval 1779 (16, 18). Die Autorinnen und Autoren erteilen den früher gängigen Kontinuitätstheorien eine Absage und zitieren Ingeborg Weber-Kellermann: „Bräuche sind immer gebunden an Zeit, Raum und Gesellschaft und ‚müssen‘ deshalb auf ihre Rolle hin geprüft werden, die sie in dem Normengefüge der Brauchausübenden spielen.“ (19) In Köln waren im späten Mittelalter Gruppen von Gesellen Träger des Straßenkarnevals. Von Faschingssonntag bis -dienstag pflegten sie den Heischebrauch, mit Trommeln durch die Stadt zu ziehen, Tänze aufzuführen, Lieder und Reime vorzutragen, um Gaben zu erbitten.
1794 fiel das linksrheinische Gebiet mit Köln an die Franzosen, die den öffentlichen Karneval sofort untersagten. Ab 1801 wurde er nicht mehr verboten, sondern ge- und besteuert. Wer sich an den Karnevalstagen verkleiden wollte, musste zugunsten des Wohltätigkeitsbüros eine Maskenkarte lösen und Ballbesucher mussten Luxussteuer zahlen. Nach dem Wiener Kongress (1814) kam das Rheinland zu Preußen. „Die Rheinländer reagierten darauf jedoch alles andere als begeistert, denn die Unterschiede zwischen Preußen und dem Rheinland betrafen neben Mentalität und Konfession der Bevölkerung auch die wirtschaftliche und rechtliche Struktur.“ (24) Karneval wurde, wenn auch stark beeinträchtigt, weiter gefeiert.
1822 beschlossen einige Männer, das Karnevalsfest zu erneuern, sie gründeten ein festordnendes Komitee. Im folgenden Jahr begann der Maskenzug mit der Inthronisation des Helden Carneval und bewegte sich mit 15 Gruppen durch die Stadt. Schon in den ersten drei Jahren bildeten sich die bis heute bekannten Grundstrukturen: die Karnevalssitzungen, der Maskenzug am Fastnachtsmontag und der große Maskenball im Gürzenich, der Festhalle im Zentrum der Altstadt (33). Die Zeit von 1823 bis 1914 war durch die Karnevalsvereine – und deren Konkurrenz – gekennzeichnet. 1849 gab es sechs Karnevalsgesellschaften.
Die öffentliche Festgestaltung hatte ihre eigene „Liturgik“: Donnerstag Weiberfastnacht, Freitag Vorbereitungen, Samstag Theater, Maskenbälle und Fackelzüge, Sonntag Kappenfahrten und Volksbelustigungen, Montag Maskenzug als Höhepunkt des Festes, Dienstag Maskengruppen und Volksbelustigungen, Mittwoch Fischessen (62). Beim großen Maskenzug tritt seit 1883 Prinz Karneval mit der Jungfrau und dem Bauern als Dreigestirn (Trifolium) auf. Der große Festwagen mit der Hauptfigur bildet gegen Ende des Zuges dessen bejubelten Höhepunkt.
Ein großes Kapitel beschäftigt sich mit „Karneval und Politik“. Die Behörden sahen den Karneval als Prestigeobjekt. Vor allem der große Maskenzug, der städtische Zuschüsse erhielt, wurde zum gesellschaftlichen Höhepunkt des Bürgertums. Im Vormärz misstrauten die Berliner Zentralbehörden dem Karnevalstreiben. In den 1840er Jahren wurden die Karnevalsvereine politisiert, was zu einer Spaltung der Gesellschaften führte. Auch an Kritik, zum Beispiel der Kirchen, fehlte es nicht. Goethes Gedicht „Der Kölner Mummenschanz“ wurde von den Karnevalisten immer wieder zitiert, nicht aber die politisch zu verstehende zweite Strophe, sondern zwei Zeilen aus der vierten: „Löblich wird ein tolles Streben, wenn es kurz ist und mit Sinn.“ (135) „Mit den viel zitierten Versen beschrieb Goethe 1825 wesentliche Merkmale des modernen, organisierten Karnevals. Das alte, närrische Brauchtum, das ‚tolle Streben‘ hatte durch die Kölner Karnevalsreform 1823 eine neue Form und einen neuen Sinn erhalten. Die bürgerlichen Festordner schrieben dem alten Brauch Karneval einen weiteren gesellschaftlichen Sinn zu: Der neue Karneval sollte National- und Volksfest sein und auf diese Weise auch eine aufklärerisch-erzieherische Funktion erfüllen.“ (154) Der erste Teil endet mit dem Resümee: „Der organisierte Karneval, der im Jahr 1823 in Köln das Licht der Welt erblickte, ist auch heute noch fest verankert. Er bestand als Teil der bürgerlichen Festkultur nicht nur fort – aller Kritik und Widrigkeiten zum Trotz – sondern nahm gerade in den letzten Jahren innovative Ideen auf, die Indiz dafür sind, dass er sich seiner 200-jährigen Geschichte und Tradition verpflichtet weiß.“ (157)
Teil 2 des stattlichen Bandes behandelt die zweiten einhundert Jahre. Die Zeitschritte sind: Erster Weltkrieg und Rheinlandbesetzung (1914–1926), „Goldene Zwanziger“ und Weltwirtschaftskrise (1926–1932), Karneval im Nationalsozialismus und im Zweiten Weltkrieg (1933–1945), Karneval in der Nachkriegszeit (1946–1955), Karneval im Wirtschaftswunder (1955–1968), Die 68er im Karneval (1968–1980), Die 1980er Jahre (1980–1990), Golfkrieg und Karnevalsabsage (1990–2005), Neuer Prunkwagen und neue Karnevalsformate (2005–2023). Die nächsten drei Kapitel führen direkt in die Gegenwart: Zeitzeugen kommen zu Wort, „Die Grosse von 1823 KG e.V. Köln“ und ihre Familie werden vorgestellt, schließlich geht es um das Jubiläumsjahr 2023 mit seiner Fülle an Veranstaltungen.
Außenstehende werden sich über das Glossar freuen, das ihnen Karnevalsbegriffe in kurzen Texten und aussagekräftigen Fotos erklärt: Bauer, Büttenredner, Dreigestirn, Famillich, Funkenmariechen, Jecken, Jungfrau, Kamelle, Kappenfahrt, Krätzchensänger, Rote Funken, Schäl Sick, Session, Pänz, Prinz, Strüssjer, Tünnes und Schäl, Typenredner, Veel, Veedelszöch. Eine archivarische Meisterleistung ist die, teilweise illustrierte, Liste der Darsteller des „Dreigestirns“ von 1823 bis 2023. Fußnoten und Literaturverzeichnis runden das gelungene Werk ab. Es ist nicht nur eine Jubiläumsschrift, die der Selbstdarstellung dient, sondern wird auch zum Verständnis des tollen Treibens beitragen, das viele vom Fernsehen kennen, aber doch nicht ganz nachvollziehen können.