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Kommission für bayerische Landesgeschichte

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Aktuelle Rezensionen


Christoph Wagner

Lichtwärts! Lebensreform, Jugendbewegung und Wandervogel – die ersten Ökos im Südwesten (1880–1940)

Ubstadt-Weiher u. a. 2022, Verlag Regionalkultur, 280 Seiten mit Abbildungen, ISBN 978-3-95505-359-8


Rezensiert von Bernd Wedemeyer-Kolwe
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 17.08.2023

Wenn auch in den letzten beiden Jahrzehnten eine mittlerweile nahezu unüberschaubare Forschungsliteratur zur Lebensreformbewegung erschienen ist, so sind merkwürdigerweise exemplarische Regionalstudien bislang immer noch selten. Dabei können sie wie in einem Brennglas nationale beziehungsweise internationale Strömungen bündeln und sie über eine regional verdichtete beispielhafte Sichtweise besonders plastisch machen.

Der promovierte Balinger Pädagoge, Historiker, ehemalige Lehrer und mittlerweile freie (Musik)Journalist Christoph Wagner hat nun eine entsprechend komprimierte Regionalstudie zur Lebensreform im südwestlichen Baden-Württemberg – also der Gegend zwischen Stuttgart, Freiburg, dem Bodensee und dem Schwarzwald – vorgelegt. Angeregt wurde er dabei von der eigenen Familiengeschichte. Die Eltern seiner Mutter – ein Esslinger Lehrerehepaar – lebten seit der Weimarer Republik nach den strengen Grundsätzen der Jugendbewegung und der Lebensreform: naturverbunden, vegetarisch, alkoholfrei und mit biologisch-dynamischem Obst- und Gemüseanbau. Wagners Mutter selbst war zwar von reformerischen Grundsätzen durchaus geprägt, wurde aber später „von solcherart Tendenzen geheilt“; was sie zu einer kritisch-reflektierten Zeitzeugin werden ließ (257). Seine Familiengeschichte ließ Wagner zum Sammler lebensreformerischer Zeugnisse werden; sein beruflicher Hintergrund verlieh ihm die Professionalität, zum Thema ein quellengesättigtes, vielschichtiges, kenntnisreiches und gründliches Buch zur Lebensreform im Südwesten zu schreiben, das die disparate und zum Teil schon ältere Forschung zur Lebensreform im Südwesten aufgreift, weiterführt, ergänzt und in Zusammenhang bringt.

Wagner befasst sich zunächst mit lebensreformerisch-alternativen Tendenzen in Stuttgart, wobei er das Panorama an Strömungen an verschiedenen exponierten und (zum Teil) in Stuttgart wohnenden Personen beispielhaft illustriert: Für die Wanderprediger nennt er etwa Gusto Gräser, Gregor Gog, Louis Haeusser oder Friedrich Muck-Lamberty, für die Esoterik Johannes Itten, Rudolf Steiner und Friedrich Bernhard Marby oder für die FKK Richard Ungewitter. Im nachfolgenden Abschnitt befasst sich Wagner mit den lebensreformerischen Siedlungsexperimenten im Südwesten, wobei er neben bereits bekannten und erforschten Siedlungen (Vogelhof, Schurrenhof, Urach-Grüner Weg) auch kleinere, weniger bekannte (Rheinburg mit Emil Gött und Emil Strauß) und unbekannte Gründungen wie Runheim mit dem Künstler Willo Rall – der Name deutet die Germanenideologie der Bewohner an – vorstellt. Besonders lebensreformerische Siedlungen sind bislang in Gänze weder erschöpfend rezipiert noch genügend erforscht – es fehlt bislang auch eine repräsentative Übersicht in Form einer Monografie –, so dass jeder neu entdeckte Fall das komplexe Puzzle wieder ein Stück vervollständigt.

Im dritten Kapitel befasst sich Wagner mit den jugendbewegten Tendenzen der Gegend zwischen bürgerlichem Wandervogel und der Naturfreundebewegung des Arbeitermilieus und analysiert daran thematisch anschließend die Heimat-, Natur- und Umweltschutzbewegung im Südwesten. In dem folgenden Abschnitten kommt Wagner auf die anderen wesentlichen Strömungen der Lebensreform zu sprechen: Vegetarismus und vegetarische Gast- und Reformhäuser (wobei der Turner und Revolutionär Gustav Struve in Württemberg einer der frühen wesentlichen Begründer des Vegetarismus war), Antialkoholbewegung (hier kann der Südwesten mit dem bekannten Arzt, Lebensrefomer und späteren DDR-„Edelkommunisten“ Friedrich Wolf punkten), Naturheilkunde, wobei auch hier wieder einer der Stärken des Buches die Vorstellung kleiner und kleinster – und vergessener – lokaler Naturheilanstalten sind, Kleiderreform (Jägers Wollregime contra Lahmanns Baumwolle) sowie die sich vom herkömmlichen Sportvereinsleben unterscheidende Körperkultur mit FKK, Gymnastik und Ausdruckstanz. Auch hier kann Wagner zahlreiche lokale Beispiele anführen, seien es Licht-Luft-Bäder, FKK-Bünde, Gymnastikschulen oder Tanztheater oder anthroposophisch beeinflusste Körperschulungsangebote.

Fließend und nicht immer klar abgrenzbar war auch im Südwesten der Übergang von der eigentlichen konsequenten Lebensreform mit unabhängigen selbstversorgenden Siedlungen – ein karges Leben, das sich nur die wenigsten zumuteten – zur gesellschaftlichen Rezeption lebensreformerischer Ideen, die sich zum Beispiel in der Neugestaltung bürgerlichen Wohnens und bürgerlicher Erziehung widerspiegelten. Wagner bringt hier zahlreiche lokale Beispiele reformorientierter Projekte wie Heimstättensiedlungen, Gartenstädte, Reformschulen und Landerziehungsheime, deren Prinzipien auf lebensreformerischen Ideen (Licht, Luft, Natur, Bewegung) beruhten. Abschließend und das Panorama vervollständigend befasst sich Wagner mit den regionalen Ausprägungen esoterischer Strömungen (Spiritismus, Mystik, Theosophie) und ihren Gruppierungen (Mazdaznan, Neugeist) der Zeit, die ebenfalls lebensreformerische Motive aufgegriffen haben. Das Finale des Buches widmet sich lebensreformerischen Auswanderungsprojekten, die sich auf der Suche nach dem idealisierten Naturerleben ins Ausland respektive nach Südamerika oder in die Südsee begaben (und dort scheiterten). Mit dem Süddeutschen Erich Scheurmann – dem Verfasser des zivilisationskritischen „Papalagi“ – konnte auch der Südwesten einen lokalen Protagonisten aufweisen.

Das Buch ist kenntnisreich, genau, gräbt tief in der lokalen Geschichte und holt den ein oder anderen interessanten Fund hervor. Der stringent durchgehaltene Bezug zur überregionalen Lebensreformgeschichte ermöglicht die Einordnung und Bewertung der lokalen Initiativen. Lokalgeschichtlich ist zum Thema noch viel zu erforschen, das zeigt diese beispielhafte Studie.